98 Über Befreiung (III)
Über Befreiung III – Coming Out
(Brief an Lucilius 2)
Heute ist der Internationale Tag des Coming Out, informiert mich eine freundliche Stimme im Radio. Homosexuelle, Heterosexuelle aller Länder, befreit euch! Alle Weder-Nochs (wie ich), befreit euch ebenfalls! – Ich bin weder zwangsheterosexuell noch zwangshomosexuell, weder homophob noch heterophob, habe also keine Angst vor dem männlichen oder weiblichen Geschlecht. Abstrakte Worte, die interessierte Kreise jeweils in die Welt gesetzt haben um an ihr Ziel zu gelangen.
Allein schon diese dogmatischen Wortneuprägungen durch den Behaviorismus im 20.Jahrhundert (Homosexualität, Heterosexualität, Homophobie) sind m.E. unzulässig. Sie schränken, abgesichert zahlenmäßig und im Sinne des Behaviorismus durch Schlaf- und Beischlafstatistik (10x Sex mit Frau, 3x mit Mann also nicht schwul) eine ganze Welt – die der Frau, die des Mannes – jeweils per definitionem ein und reduzieren den Menschen auf seine Sexualität.
Als wenn ich mich als Mann wesentlich durch meinen Genitalkontakt definieren würde. Das ist ja wirklich nun ganz neu: Ich bin, weil ich denken und zweifeln kann (Descartes), ich bin, weil ich arbeite (Marx), ich bin, weil ich fühle (die Psychoschulen des letzten Jahrhunderts). Und jetzt heißt es dann lapidar: Ich bin, weil ich einen Schwanz habe. Wir alle sind mehr als homo-, mehr als heterosexuell.
Doch die Zwangs-Dichotomie homosexuell versus heterosexuell funktioniert mittlerweile bestens in ihrer zweigeteilten Einseitigkeit. Sie hat neue Ghettos in die Welt gesetzt und grenzt ein, grenzt ab, grenzt aus. Wir sind alle mehr als hetero-, mehr als homosexuell. Ich wiederhole mich.
*
Du radikalisierst dich, bist die Frauen müde und willst schwul werden, sagst du. Obwohl du schon mit vielen Frauen etliche Jahre lang gelebt und geschlafen hast. Nur die Richtige zum dauerhaften Zusammenleben hast du noch nicht gefunden, und das ist m.E. ein soziales, familienspezifisches, und weniger ein geschlechtsspezifisches Problem.
Es hängt mit der gegenwärtigen Schwierigkeit der Partnerfindung zusammen, mit dem Rollenverhalten von Mann und Frau und dem Feminismus, der Frauen für manche Männer hat unausstehlich werden lassen (und umgekehrt). Ich denke, wenn die Partnerwahl im sozialen Leben leichter, freier und offener wäre, würden viele Männer wie du das Eine wie das Andere ausprobieren. Das Hin- und Her-Switchen, die Versatilität, wie sie zeitweise in der Antike vorgelebt wurde, geht heute jedoch nicht mehr so leicht. Ja wird immer noch schief angesehen. Dabei ist doch Liebe allumfassend und nicht geschlechtsspezifisch. Sexualkontakte mögen je nach Veranlagung und Lerngeschichte geschlechtsspezifisch sein. Nicht aber die Liebe.
Als Kollateralschaden eines forcierten Feminismus hat auch, so mein Eindruck, eine Abwanderungsbewegung eingesetzt, weg von den Frauen und hin zur reinen Männersache in einer neuen Männerwelt. Men go their own way, heißt eine neue Männerbewegung in den USA (MGTOW). Geh’ nicht in einen Raum, wenn eine Frau alleine sich darin befindet. Du könntest als Mann zum Me too-Opfer werden.
Dass es dann aber auch eine starke Rückwärtsbewegung geben wird, zurück zur Welt der Frauen, wo wir doch auch hingehören und die wir vermissen werden aus Gründen, die ich schon öfter beschrieben habe, davon bin ich überzeugt. Die Welt der Frau ist eine ganz andere, im Idealfall Spiegel und Ergänzung zugleich. Und die Welt des homosexuellen Mannes, die du nun erforschen willst, ist ebenfalls eine ganz andere als deine eigene.
Jetzt, nach diesem Coming Out, wirst du gebunden sein an eine neue Lebensform, an eine ganz eigene, neue und eingegrenzte, ja eingezäunte Welt. Wenn du zu den Frauen zurückkehren willst, wird dich dieser Schritt ebenso viel Überwindung kosten wie der andere. Du sagst, die Sexualität, der Körper gäbe die Richtung vor. Nein, die Lebensform, in welcher du dich bewegst, lebst und arbeitest, benennt das Ziel. Auf längere Sicht hin gesehen wird es ein soziales, weniger ein sexuelles Ziel sein.
Die Schwulenbewegung fokussierte sich zu schnell rein biologistisch, also auch triebhaft, auf das Begehren und den Körper. Dabei ist alles, das heißt die Bewältigung eines Lebensweges, der unweigerlich immer zu einem Ende, einer Erschöpfung, zum Tode schließlich hin steuert mit und ohne sexuelle Lust (wir wissen es und beobachten es tagtäglich), m.E. doch viel eher eine Frage des Sozialen und der Lebensform. Sich der Schwulenbewegung anzuschließen bedeutet deshalb den Eintritt in ein Ghetto als Lebensform, aus dem du nicht leicht wieder heraus finden wirst.
Mittlerweile und zukünftig noch viel mehr wird man als Mann, was Sex betrifft, eine Entscheidung treffen müssen. Nicht mehr zwischen Mann und Frau oder beiden, sondern für oder gegen die Lebensform Groß-Familie. Dass alles letztlich von der Familienplanung abhängig ist. Dass der Körper der Frau (meist unbewusst) immer noch daran denkt, dass viel zu gewinnen, aber auch viel zu verlieren ist beim Geschlechtsakt. Hingabe der Frau bedeutet Hingabe an die Natur, an die Natur ihres eigenen Lebens, ihrer Lebensform, ihrer Vorstellung von Liebe und letztlich an die Natur der Arterhaltung.
Kein Mann denkt jedoch beim Orgasmus oder auch nur beim Liebesspiel an Fortpflanzung oder Arterhaltung. Im Gegenteil und um Gottes Willen! Eher nur an Selbst-Befriedigung und im Idealfall auch seines Gegenüber. Der Sex des Mannes ist sehr selbstsüchtig, der Sex der Frau großzügig und geduldig. Dass sie die Lust-Art des Mannes jetzt gattungsgeschichtlich nachholen und lernen soll, ist m.E. eine paradoxe Verirrung des Feminismus. Dass nun auch Frauen nur noch das Eine wollen, ist ihr gutes Recht, aber m.E. eine Verwirrung der Natur. Ich bin eine emanzipierte Frau, weil ich masturbieren kann?
Ich glaube immer mehr, dass sich auch das Begehren der Frau fundamental von dem des Mannes unterscheidet und dass diese Differenz eingesehen und von beiden Seiten als bereichernd angesehen werden muss. Bei den Frauen will die Natur viel heftiger und deutlicher unbewusst der Spur der Arterhaltung, die sogar vom Verlauf des Mondes bestimmt wird, folgen. Ganz gleich, was auch immer auf Körper und Seele der Frau zukommt – ab einem bestimmten Alter, spätestens um die 30, sind die meisten Frauen dazu bereit. Mit und ohne Pille. Dass sie nun auch im Sexuellen die Männer imitieren wollen, ist nicht unbedingt natur-notwendig.
Doch die Natur hat immer wieder vermännlichte Frauen und verweiblichte Männer geschaffen mit eigenen Bedürfnissen. Alles geht; aber es ist bei Weitem und lange noch nicht die Überzahl, wird es auch nicht werden. Die Überbetonung von Ausnahmeerscheinungen ist ein für die Gegenwart typisches Medienproblem des Geldverdienens. Ich rede dabei oft auch von Ökonomismus. Selbst die Homosexualität wird m.E. eine exotische Randerscheinung für die meisten Menschen bleiben. Sie mag als interessant und spektakulär in den Filmen dargestellt, ja angepriesen werden. Aber den konkreten Schritt zum Übergang und Wechsel machen die Wenigsten.
Selbst wenn du keine Frau mehr begehren kannst, wirst du dennoch wie immer schon eine finden können, die du lieben können wirst und mit der du glücklich sein kannst. Auch im Sinne einer Gemeinschaft, einer Familie. Selbst wenn die Frau keinen Mann begehren kann, wird sie doch jemanden finden, den sie lieben können wird und mit dem sie glücklich sein kann. Auch im Sinne einer Familie. Es hängt m.E. nicht immer alles so ausschlaggebend ab von diesem so zerbrechlichen und sensiblen Reich der Sexualität, der Lust.
Die exzessive Suche nach Lust und Vergnügen welcher Art auch immer ist gegenwärtig wieder eine Methode der Betäubung, um mit der Sinnlosigkeit des Lebens, wie es die Existenzialisten postulierten, fertig zu werden. Die Dichotomie von Lust und Askese gibt es, seitdem es menschliche Kultur gibt, also seit der Emanzipation des Menschen und seines Geistes aus der Tierwelt. Die gegenwärtig sehr verbreitete Überbetonung von Lust und Spaß vor allem in den ökonomistisch orientierten Gesellschaften des Westens hat sich unter dem ideologischen Einfluss von Freud und vor allem seines Schülers Wilhelm Reich und dessen Orgasmus-Theorie vor allem in den USA als Nachwirkung der dort sehr verbreiteten Psychoschulen so exzessiv und alle Gesellschaftskreise betreffend entwickelt.
Was aber nun, wenn die Familie in ihrer jetzigen Form nicht mehr überleben wird? Wenn es staatliche Erziehungsheime, Züchtungs-Institute, Cyber-Sex und Klone geben wird, die nur noch mit Ihresgleichen oder Maschinen kommunizieren werden? Wohin dann mit all unseren unterschiedlichen Vorstellungen von Liebe und Lust, von Natur und Gesellschaft?
Einmal (a) könnte es auch im Sozialen ein richtiges Pluriversum der Geschlechterbegegnung geben, ihrer Zu- und Abneigungen, ihrer Identitäten und Selbstfindungen, ihrer Zukunftsplanung. Nicht mehr die Sexualität wird dabei wesentlich identitätsbildend sein, sondern die Art der Lebensform und des Zusammenlebens unter- und miteinander. Gegenwärtig geht es schon manchmal in diese Richtung: Die Kreditkarte beispielsweise bestimmt mittlerweile das Wohl und Wehe vieler Partner-Paare und nicht unbedingt mehr Liebe oder Sex. An welche Kreditkarte wirst du dich verkaufen wollen? (Entschuldigung)
Doch es könnte (b) auch ganz anders kommen. Die Klein- und Ein-Kind-Krippen-Familie befindet sich jetzt schon an einer traurigen Grenze von Erschöpfung und Auszehrung. Im Hamsterrad eines all umfassenden Ökonomismus ist Erziehung kein Kinderspiel. Allein mit sich selbst und den freundlichen Siri-Apparaten oder Robotern vegetieren manche andere Menschen schon nur noch vor sich hin. Schöne Frauen gibt‘s genug auf den Bildschirmen der Vermittler, nicht wahr, doch wir trauen uns nicht zu einer Begegnung Auge in Auge und bevorzugen doch lieber Pornofilme und Cyber-Sex. Manche Männer verkaufen bereits ihre Spermien an entsprechend ausgerichtete Institute.
Auch das Sprechen, Denken, Verstehen (und Lesen?) werden wir bald verlernt haben mit und ohne E-Books. Wir funktionieren nur noch wie eine Maschine und mit Maschinen zusammen in einer so seltsamen Lebensform, die sich Zukunft, virtuelle Welt, Cyber-Existenz nennt – ein richtiger Cyber-Existenzialismus hat sich da entwickelt und schlägt uns in seinen Bann. Doch heimlich, ohne dass wir es wissen. Vielleicht merkt es noch nicht einmal die Computer- und IT-Industrie.
c) Es könnte aber auch ganz anders kommen: Großfamilien teilen ihr Leben und ihre Lebensform miteinander, mischen sich im oben genannten Pluriversum der Vielfalt und Toleranz zu einem gemeinsamen Zusammenhalt allen Widrigkeiten des Lebensweges, der unweigerlich immer an ein Ende führen muss, zum Trotz.
In solchen Großfamilien fast schon im antiken Sinn braucht es Gleichgesinntheit und Toleranz. Groß und Klein, Arm und Reich, Jung, Alt, Gleich-und Gegengeschlechtliche werden in neuen Wohnformen zusammen zu leben versuchen. Auch solche Modelle sind bereits ansatzweise im Aufbau. Sie müssten weiter entwickelt und staatlich gefördert werden. Eine große Aufgabe auch für die Architekten der Zukunft. Nur so kann ich mir eine menschliche Zukunft jenseits eines „Trans-Humanismus“ und einer unser Verhalten rigide steuernden Technokratie etwa im chinesischen Sinn vorstellen. –
Willkommen zum gemeinsamen Coming Out! – Doch wozu diese Art der Befreiung und mit wem? Wegen der Liebe? Wegen der Lust? Was heißt „Befreiung“? Was ist der Sinn des Ganzen, das Ziel? Nur Liebe, nur Lust? Was heißt „nur“?
Wo werden wir sein, wie werden wir leben und lieben in Zukunft oder auch nur schon das nächste Mal? (seufz)
Mehr darüber demnächst in meinem Buch „Über Liebe und Lust“
Nachtrag 25.5.2018
Ich denke, dass die Homosexualität sehr stark von der Triebhaftigkeit des Mannes und seiner Sexualität determiniert wird. Was nicht ausschließt, dass es diesbezüglich auch ohne Sexualität intensive und befriedigende Lebens-und Liebesformen geben kann. Siehe das uralte Thema Freundschaft.
Lesbisches Vergnügen der Frauen untereinander dürfte ebenfalls von starker Triebhaftigkeit dominiert sein, die sich aber ebenso wie bei den Männern auch irgendwann einmal erledigen wird. Wie überhaupt die Triebhaftigkeit des Menschen, seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit, nach Körper, Vergnügen, Lust und Spaß immer vielfältig, mit einer großen Bandbreite und mit ganz unterschiedlicher Stärke und Heftigkeit existieren wird.
Die Triebhaftigkeit des Mannes, auch vorschnell negativ Sexismus genannt, wird mittlerweile vor allem von der feministischen Fraktion als naturgegebene Verwirrung/Verirrung angesehen, die „domestiziert“ werden, das heißt gebändigt und mehr den weiblichen Bedürfnissen angepasst werden müsse.
Den arttypischen Sexismus des Mannes, seine Triebhaftigkeit mit Zärtlichkeit, neuen Sexualtechniken(?), romantischen Liebesversprechungen und dergleichen domestizierten zu wollen, das dürfte jedoch m.E. eine der vielen Illusionen bleiben, solange die männliche Sexualität noch nicht biologistisch oder mit technischen Mitteln fremd gesteuert, das heißt beherrscht werden kann.
Umgekehrt wird m.E. weiblicher Sexismus im Sinne etwa von Nymphomanie immer untypisch eine Abweichung von der (weiblichen) Norm bleiben. Trotz aller Forderungen des Feminismus und dem lautstark eingeforderten Recht auf Vergnügen und Orgasmus bis hin zu weiblichen Ejakulationen. Womöglich sogar ganz ohne Mann.
Andererseits wird der Sexismus sowohl männlicher als auch weiblicher Spielart dennoch immer zeitlich begrenzt bleiben. Mit zunehmendem Lebensalter läuft er sich aus. Und wird vielleicht sogar irgendwann einmal als ganz entbehrlich, ja überflüssig und schädlich angesehen werden.
In der philosophischen Begrifflichkeit umfasst diese ethisch so wichtige Thematik – wie man ein Leben leben soll (mehr Geist- oder mehr Lust-orientiert), – er betrifft den weiten Bereich der Sinnlichkeit, der ebenso wie der Bereich von Denken, Geist und Vernunft eine große Existenzberechtigung hat und worüber auch immer und zu allen Zeiten diskutiert worden ist.
Mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen und Abmachungen. Die Amazonen in der antiken Mythologie kastrierten angeblich jeden neu geborene Knaben bis auf einige wenige, die für die Arterhaltung notwendig waren, um sich vor der männlichen Triebhaftigkeit und Sexualität zu schützen. Amazonen sind/waren anscheinend nicht auf die männliche „Belustigung“ angewiesen oder daraufhin orientiert. Und umgekehrt. Männer gab es in diesem Staatsversuch eh nur noch verschwindend wenige.
In Sparta hingegen soll die Bevölkerung am Ende seiner Zeit um zwei Drittel geschrumpft sein infolge einer übergroßen Duldung und Förderung der Homosexualität durch den Staat. Gute Freunde seien auch gute Krieger in der Schlacht, glaubte man. Vorbildliches Beispiel in der Mythologie waren Achilles und Patroklos im Kampf um Troja.
211 Über Sex
88 Über Befreiung politisch (II): Die Studentenbewegung
82 Über Befreiung psychologisch (I): Die Psychoschulen des 20.Jahrhunderts