99 Über Karel Goeyvaerts
Einfach in die Zukunft
Von Luxemburg kommend, fährt man mit dem Express drei Stunden lang durch die Ardennen in Richtung Brüssel. Es ist hoch sommerlich warm, dampfendes Klima, keine Industrie, dann und wann ein Dorf, meist immer nur Wald, dicht und undurchdringlich, ein wenig beachteter Dschungel in Mitteleuropa. Man denkt an Rimbaud, der hier aufgewachsen ist, an seine Kunst, die oft einen unbändigen Lebenswillen mit strenger Gestaltung zu verbinden wusste, ohne dass dabei eine einseitig verkopfte Kunst entstanden wäre, die sich nur noch formalen Spielereien und Experimenten geöffnet und den Kontakt zum Leben ebenso wie zu den Menschen ganz verloren hat.
Der Komponist Karel Goeyvaerts, 1923 in Antwerpen geboren, Schüler von Darius Milhaud und Olivier Messiaen, kritisiert diese akademische Avantgarde aus der Sicht der Musik. Zusammen mit Karlheinz Stockhausen ist er als Mitbegründer der seriellen und elektronischen Musik nicht nur eine einflussreiche Persönlichkeit in den Benelux-Staaten, er kann auch als einer der kompetentesten Beobachter zeitgenössischer Musik angesehen werden. Mittlerweile ist er zu einem wichtigen Vertreter der Minimal Music und des “European Minimal Music Project” in Utrecht geworden, auch wenn er sich in unserem Gespräch im belgischen Rundfunk nicht auf diese Musikrichtung festlegen lassen will.
Minimal Music ist immer noch ein recht vager und weit gefasster Begriff, der Musikstile umfasst, die sich nicht der seriellen und postseriellen Kompositions-Technik verpflichtet fühlen. Unter Einschluss bestimmter avantgardistischer Musikstile und außereuropäischer Richtungen lassen sich jedoch die drei Kriterien vereinfachter Ausdruck (a), Wiederholung (b) und Umkehrung des Konsonanztabus als wesentliche Bestimmungen nennen. Allgemeinen wird auch auf Erik Satie, dessen melodische Statik und tonale Fixierung immer wieder verwiesen, ohne dass man jedoch einer neuen Tonalität verfallen will.
Gegenpol zu Darmstadt
Goeyvaerts spricht darüber hinaus von der Konzentration auf einfache Phänomene und von dem Erlebnis einfacher Ton- und Zeitproportionen. Die Minimal Music – in Stuttgart hat sie sich mit der Operntrilogie Satyagraha, Einstein on the Beach und Echnaton von Philip Glass bereits erfolgreich eingeführt – will einen deutlichen Gegenpol zur neuen Musik Darmstädter Prägung bilden, versteht sich auch, um mit den Worten von Peter Schneider zu reden, als einen Angriff auf die Ideologie hiesiger Avantgarde-Musik.
Wichtig scheint jedoch weniger das klangliche Ergebnis als die neue Geisteshaltung und Ästhetik, die hinter dieser Musik stehen. Die Komponisten gehen grundsätzlich vom traditionellen Hörverhalten aus; Konsonanz und Dissonanz haben wieder ihren alt hergebrachten Stellenwert in der Skala der Empfindungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Bewusstheit und rationales Hören werden als eher störende Faktoren aus der Musikrezeption ausgeklammert.
Auch der Begriff der Fluchtmusik wird nicht mehr nur negativ gesehen, das Sich-wohl-Fühlen steht an erster Stelle. Hedonistisch orientiert, gewinnen Emotionalität und Sinnlichkeit wieder einen neuen Stellenwert im ästhetischen Gesamtkonzept, das keine Kopf-, sondern eine Körpermusik anstrebt und auch Begriffe wie Rausch, Tanz oder Meditation einschließt. Bezeichnenderweise hat sich Goeyvaerts besonders durch die rituellen Tänze Balis inspirieren lassen.
Die Welt der akademischen Avantgarde, der hyperraffinierten Postseriellen, wie sie der belgische Komponist bezeichnet, sei mittlerweile in einer Sackgasse, in einem Stadium der technischen Über-Evolution. Ein Stück sei allein durch seine technische Verfeinerung interessant, die technische Qualität eines Werkes sei wichtiger geworden als die sinnlichen Erfahrungswerte wie etwa Emotionalität.
Über-komplexe Musik könne nicht wahrgenommen werden, behauptet der Komponist, darin ein getreuer Nachfolger von Paul Hindemith, weil sie unser natürliches Empfinden von Zeit- und Raum- Proportionen überfordere. Er glaubt deshalb wenig daran, dass man sich an Atonalität gewöhnen oder durch Bildungsprozesse zu dieser Musik geführt werden könne. Das menschliche Hörverhalten sei auf die arithmetischen Proportionen von Konsonanz und Dissonanz festgelegt. Er spricht sich deshalb für eine unmittelbar zugängliche Musik aus und verlangt – dies ist seine eigentlich provokative These – das Komponieren einer solchen Musik, die keine Probleme aufwirft.
Vom Publikum verlangt er nicht, dass es Anstrengungen machen soll, zur Musik zu kommen. Er würde umgekehrt aber auch nie etwas tun um es dem Publikum leichter zu machen. Seine für die zeitgenössische Musik radikalen Überlegungen hat er im täglichen Umgang und in der Auseinandersetzung mit Kunst-Akademie-Studenten entwickelt, die nicht mehr bereit gewesen seien, die abstrakte Musik der fünfziger und sechziger Jahre als Musik unserer Zeit zu akzeptieren.
Unser Zeitalter sei das Zeitalter der Angst, des Schreckens, der Gewalt, auch wenn diese Phänomene nach Meinung des Komponisten heute etwas im Verblassen seien, gemessen an der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die existenzialistische Weltauffassung habe die Tendenz zum Kontrollieren der Situation, zur Rationalisierung in der Kunst gefördert, eine Rationalisierung, die auch im psychologischen Sinne verstanden werden kann. „Angst vor der Angst“, wie der Komponist sie bezeichnet, wird nicht musikalisch direkt ausgedrückt oder ausgelebt, sondern in eine Kunsttechnik als rationalisierte Struktur aufgehoben.
Die akzeptierte Angst
Bereits 1958 trennt sich der Komponist von der seriellen Kompositionsweise: „Weil ich die Angst nun akzeptiert habe“. Er zieht sich für mehrere Jahre aus dem Musikleben zurück und arbeitet an einer neuen Musik, die ein anderes Musikerleben einschließt. Bezeichnend in dem Gespräch wird die Tatsache, dass der Komponist seine Musik und die Bedeutung von Musik allgemein immer wieder in nicht rationalen, eher emotionalen oder bildhaften Begriffen zu beschreiben sucht. „Du kannst das Stück“ (gemeint ist die Golgatha-Komposition für Haufe, Orgel und Perkussion aus dem Jahre 1975) „passiv mit erleben, es ist entspannend, voller Reize wie eine reife Frucht an dem Baum, du verlierst jedes Zeitgefühl, die Zeit drängt nicht mehr, du lässt dich wiegen in der Zeit“.
Kunst unserer Zeit – das sollte nach Meinung des Komponisten ein Zustand des allgemeinen Lebens sein, eine Vorahnung, wohin sich die Zeit entwickelt, auch die Konkretisierung der Seinsweise einer Epoche. Und diese Seinsweise ist gegenwärtig gekennzeichnet durch die Revision nicht nur musikalischer Fortschrittsutopien. Skepsis breitet sich aus, man spricht von Komplexität-Reduzierung, von Post-Moderne, von neuen emotionalen und sinnlichen Kategorien nicht nur in der Kunstrezeption.
Man hat erkannt, dass die Rationalität der Systeme, die in den Nachkriegsjahren so notwendig war, nicht selten mit der Entfremdung persönlicher Beziehungen und Kommunikationsformen erkauft worden ist. Und die Verselbstständigung rationalen Systemdenkens hat nicht zuletzt auch in der Musik zu Erstarrung und Isolation geführt.
In der post-abstrakten Musikauffassung der Minimalisten sollen daher neue Kategorien der Musikrezeption die erstarrten Formen aufbrechen helfen und eine neue Form der Begegnung ermöglichen. Begriffe aus der idealistischen Ästhetik, etwa Hegels, werden deshalb ebenso wie marxistische Kunstauffassungen abgelehnt. Stattdessen nähert man sich den Intentionen der Lebensphilosophie, um die „Tiefe des naturhaft-unbewussten Lebens und den Impuls seines Geistes abzuhorchen“ (Henri Bergson).
Gefahr der Anonymisierung
Kritik an dieser vitalistischen Musikauffassung kommt nicht nur von Karlheinz Stockhausen, der in einer Stellungnahme die jungen Komponisten („Kunstgewerbe“) am liebsten zum “Field Research nach Mozambique“ beordern möchte. Auch Nikolaus A. Huber kritisiert die „geistigen Auren“, die zu Grunde liegen.
In selbstkritischen Stellungnahmen wird auch von den Minimalisten die Gefahr der Anonymisierung von Produkt und Produktionssystem gerade bei den Formen der Pattern Music oder der kybernetischen Musik erkannt. Nicht zuletzt kann auch der weltabgewandten Idylle musikalischen Genießens politisch gesehen ein schnelles Ende drohen, auch wenn Goeyvaerts nicht daran glauben will. Seinen astrologischen Spekulationen zufolge leben wir zwar in einer Epoche der „Auszehrung“ und des Endes, aber das neue, glorreiche Zeitalter des Aquarius steht bereit bereits bevor. Noch bis zum Jahre 2160 müssen wir deshalb im Elend ausharren oder uns von den pessimistischen Gedanken mit Minimal Music ablenken lassen.
Foto oben Pioniere der Neuen Musik Anfang der 50er Jahre auf den von Th.W.Adorno geleiteten Darmstädter Ferienkursen: Luigi Nono, Karel Goeyvaerts und Karlheinz Stockhausen (von links) Quelle: Wikipedia
Das Gespräch ist erschienen in unterschiedlichen Bearbeitungen in der Berliner tageszeitung, der Stuttgarter Zeitung, der Neuen Zeitschrift für Musik (Schott-Verlag) und im SWR Stuttgart.