15 Über Geschichtsschreibung(Begegnung mit der Antike III)
Eine letzte Anmerkung sei mir noch gestattet, warum ich immer wieder auf die Begrifflichkeit der Antike so gerne zurück komme. In den vergangenen Jahren hat sich unmerklich die Beschäftigung mit Philosophie geändert und dies kurz vor ihrem gänzlichen Verschwinden aus dem öffentlichen Diskurs zumindest in Deutschland.
Alle Debatten endeten immer wieder bei der Frage nach Sinn oder Unsinn von Geschichtsschreibung und Philosophie allgemein. Bis schließlich in manchen Teilen der Welt, insbesondere im angelsächsischen Teil, der ganz besonders unter dem Einfluss der Analytischen Philosophie (Philosophy of Science) steht, tatsächlich festgelegt wurde: Geschichte, Archäologie, Kunstwissenschaft sind keine Wissenschaften, Philosophie auch nicht; Psychoanalyse und noch zahlreiche weitere Fakultäten sollten an den Universitäten besser ganz abgeschafft werden.
Naturwissenschaftlich orientierte Philosophen, die neuen Aristoteliker sozusagen, hatten schon frühzeitig bereits sich auf die Untersuchung der logischen Stimmigkeit oder auch nur Richtigkeit von Sätzen und „Wahrheiten“ der naturwissenschaftlichen Forschung oder von Naturgesetzen zurückgezogen und sie allesamt der Herrschaft der Zahl und dem Berechnungswesen unterstellt. Selbst eine informationstheoretische Ästhetik hatte sich sogar entwickelt – hier und jetzt im Stuttgart der 70er Jahre am Lehrstuhl von Max Bense, der die Güte von Kunst (was ist gute Kunst) mathematisch berechnen wollte. Auch zu Ergebnissen kam, die mich allesamt jedoch weniger überzeugten. Ableger seines Denkens sind die Gedichte Helmut Heißenbüttels und seiner einflussreichen Literaten-Schule Gruppe 47; die SkulpturenKunst von Otto H.Hajek u.a. mag auch noch dazu gehören.
Man unterschied in der zur Wissenschaftstheorie mutierten Philosophie auch wieder streng zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, wobei man den beiden letzteren – weil eine nachprüfbare Nummeralisierung oder gar Digitalisierung nicht möglich war – schlichtweg ihre Existenzberechtigung ganz absprach. Besonders im Zentrum der Kritik standen natürlich Marxismus und dialektischer Materialismus mit ihren eminent politischen Auswirkungen und verheerenden Folgeerscheinungen.
Wozu diese Fächer, wozu dieses Denken und wozu dies alles gerade an einer Universität, die sich doch mit technischen und ökonomischen Fragen schwerpunktmäßig zum Wohl der Menschheit beschäftigen muss und gutes Geld damit verdienen kann? Also begann man allerorten mit dem Abbau der Fakultäten, z.B. Archäologie, Musikwissenschaft und anderer Orchideenfächer.
Auch die Geschichtsschreibung war nun einmal jetzt per definitionem keine Wissenschaft mehr, auch nicht die Kunstbetrachtung, nicht die Sozialwissenschaften, nicht die Politik, die Lehren vom Verstehen und der Verständigung noch weniger. Als Lehr- und Forschungsfächer seien sie allesamt ungeeignet zumindest für eine Universität, die sich doch mit technischen und ökonomischen Forschungen schwerpunktmäßig beschäftigt und gutes Geld . . . ich wiederhole mich.
Dabei war gerade die Geschichtsschreibung damit beschäftigt, sich radikal zu ändern. Nicht mehr nur eine Geschichte „von Oben“ sollte aufgezeichnet und studiert werden. Nicht nur die Geschichte von Herrschaft, Siegern und gewonnenen Schlachten mit zahlreichen Opfern sollte der dankbaren Erinnerung und dem Eintrag in die Lehr- und Lobbücher für würdig befunden werden. Auch eine „Geschichte von Unten“ sollte jetzt im Gegensatz dazu ins Zentrum aller Forschungen rücken. Das Leben der einfachen Menschen wollte ebenfalls berücksichtigt werden, ihre Leiden, Kämpfe und Opfer, die sich jenseits der Schlösser und Paläste abspielten für „die da Oben“. Nicht nur die Siege, auch Niederlage und Leid müssten mit einbezogen werden bei der Berechnung der Endsumme von Größe und Wichtigkeit in der Geschichtsschreibung, so der Paradigmenwechsel in einer Wissenschaft, die angeblich keine Wissenschaft mehr war.
Auch in der Philosophie hat sich kurz vor ihrem Verschwinden und ihrer Reduktion auf Wissenschaftstheorie oder Philosophy of Science ein neuerliches Umdenken breit gemacht, diesmal wiederum aus Frankreich kommend. Weg von den abstrakten Gebirgen des Geistes, den unverständlichen hermeneutischen Deutungsversuchen mit Hilfe von Sprachlehre oder Psychoanalyse; weg sogar von den international so erfolgreichen Vätern der “Postmoderne” und ihren literarischen Exkursen oder Interpretationen im Stile Derridas, Baudrillards oder Lyotards. Also weg auch von Kunst, künstlerisch-philosophischem Diskurs als Ergänzung zur eingezwängten Fachsprache der analytischen (angelsächsischen) Philosophie.
Nicht mehr abstrakte oder künstlerisch orientierte Provokationen, sondern eher lebenspraktisch orientierte Fragestellungen stehen wieder im Vordergrund. Antike Philosophiegeschichte untersucht mittlerweile ganz konkret und faszinierend Philosophie als Lebensform. Veröffentlichungen von Pierre Hadot und anderen gehen diesen Weg. Wie war das mit Diogenes in der Tonne oder Sokrates und Alkibiades im Bett, hat er ihn wirklich nicht berühren dürfen (wer wen?), war Platon in seiner Jugend ein Lustknabe (so in einer Schmähschrift von Anthistenes angeblich behauptet), warum hat er die Lust so abgelehnt? Was wollten die rivalisierenden Schulen in Athen und haben griechische Philosophen tatsächlich schon vor Platon „Gymnosophisten“, also hinduistische Derwische, in Indien kennen- und schätzen gelernt? Nicht zuletzt: Stammt Platons „Idee des Guten“ originär letztlich von Zarathustras Religionslehre aus dem Großpersischen Reich und Nachbarland?
Dieser neue Zugang zu einer „Philosophie von Unten“ enthält wieder ganz lebenspraktische Anweisungen, „wie man zer werlte sollte leben“ (Walther von der Vogelweide), füllt also auch wieder mit ethischen Fragestellungen die Lücke, die das Absterben der religiösen Fragestellungen samt ihrem ethisch-moralischen Kontext hinterlassen hat. Ganz zu schweigen von den Kunstsprachen der analytischen Philosophie, die den logischen oder sprachlichen “Unsinn” vieler Philosophen immer noch nachzuweisen versuchten (besonders festgebissen hatte man sich am Freudo-Marxismus oder auch am Existenzialismus Heideggers und dessen “Unverständlichkeit”).
In der analytischen Philosophie haben sich meines Erachtens in den letzten drei Jahrzehnten, parallel zu einem Umdenkungsprozess in der islamischen Welt (dort lehnt man mittlerweile sogar den abendländischen Vernunft-Begriff ab, dem doch sogar die Menschenrechte zu Grunde liegen), im Westen neue philosophische Axiome durchgesetzt, die universelle Gültigkeit beanspruchen und unmerklich fast das Sprachspiel der Öffentlichkeit hierzulande und in manchen Teilen der globalisierten Welt bereits zersetzt, usurpiert, erobert haben. Sie beanspruchen mittlerweile sogar die “Deutungs-und Definitionshohheit“.
Im wissenschaftlichen, das heißt mittlerweile nur noch im naturwissenschaftlichen Denken ist dies der angelsächsische Empirismus, auch Nummeralismus, der nur noch das als wahr und richtig anerkennen will, was mit Zahlen oder Statistiken „belegt“, berechnet, bewiesen werden kann. Denn nur auf diese Art und Weise kann Technik, also Fortschritt wie m.E. auch Rückschritt, hergestellt werden. Besonders einflussreich ist hier der Behaviorismus, der den Menschen zum Ding objektiviert und berechnen, konditionieren, steuern will (Social Engineering).
Das zweite daraus abgeleitete Axiom, ebenfalls die (unbeweisbare) Stütze einer weiteren philosophischen Glaubenslehre, stammt aus der Ökonomie, die in einer bunten Mischung aus Zahlenspielerei, Statistik und Massenkonditionierung alles ihren Gesetzen unterworfen und den Gelderwerb (wofür Gelderwerb? – Genau! Konsum, Lust…) zum absoluten Endzweck des Individuums erklärt hat.
Was schön ist definieren die privaten Fernsehsender mittels Werbung und Modeindustrie; was gerecht ist definieren die neuen Geld- oder auch Macht-Oligarchen und ihre Anwälte; was wahr ist zeigt der Nutzen in der Praxis und im Bruttosozialprodukt oder in der Arbeitslosenstatistik.
In diesem „allumfassenden Verblendungszusammenhang“, wie Th.W.Adorno auch im Sinne Herbert Marcuses, einem einflussreichen Freudo-Marxisten, resignierend einmal feststellte, werden die eigenen Grundvoraussetzungen und Axiome nicht mehr reflektiert oder in Frage gestellt, sofern sich keine wirtschaftlichen Krisen und Einbrüche zeigen und der Handel floriert. Philosophieren im herkömmlichen Sinne, auch verpackt in ein ästhetisch-literarisches Gewand wie bei Sartre, Camus oder Derrida, ist “unwissenschaftlich” und „out“ – reine Zeitverschwendung oder – wie man schon gegen Hegel sagte – “Begriffsdichtung”.
Doch ich habe mich bereits sehr stark in kulturpolitische und philosophiegeschichtliche Einzelheiten verloren, die man auch selber nachlesen kann oder vielleicht auch kennt. Das meiner “Wohlleben”- Rede im Kunstverein Leonberg vorangestellte Motto aus Platons „Protagoras“ mag den Abschluss dieser meiner Erörterungen bilden(1). Es zielt immer noch ins Zentrum einer jeden praktischen Philosophie oder einer philosophischen Lebensform: „Genügt es Euch“, will ich deshalb auch an dieser Stelle mit Platon und immer noch fragen, „ genügt es Euch, Euer Leben in angenehmer Art hinzubringen ohne Unlust“? – Ist das tatsächlich genug? Nur für die Lust zu leben, zu lieben, zu arbeiten? Oder gehört noch etwas “mehr” dazu?
Reicht es aus, ein Leben voll Spaß, Freude und Abwechslung leben zu können oder leben zu wollen? – Nein, volle Kühlschränke, spannende Computerspiele, schnelle Autos, Sex and Drugs and Rock n Roll, TV-Serien und . . . (die Leerstelle zum selber Einsetzen), sie reichen nicht mehr aus. – Reichen nicht mehr aus wofür? – Um glücklich zu sein?
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1 “Über die Begegnung mit der Antike” ist die Neubearbeitung und Erweiterung einer Festrede, die ich am 12.1.2002 anlässlich des achtzigsten Geburtstages von Prof.Dr.med. Erich Fischer auf Einladung des Kunstvereins der Stadt Leonberg bei Stuttgart gehalten habe. Der Titel der Rede lautete “Vom Wohlleben”. Angelika Luz begleitete den Vortrag mit Songs von John Cage.