102 Über Sylvano Bussotti
Dissipation und Vielfalt
Kommen wir zum Werk von Sylvano Bussotti. Seine Kunst ist bereits, als Kunst der Auflösung, einen Schritt weiter. Seine musikalischen Reihen und Werke sind häufig „destrukturiert“, sein Rationalismus gebrochen durch Irrationalität, heterogene Elemente und emotionale Spontaneität. Und der Geschichtslosigkeit oder Geschichtsverdrängung hält er seine forcierte Liebe für die ästhetischen Ideale der Renaissance entgegen.
Aber seine Zersetzungen münden ebenso sehr auch in der Erschöpfung: Aus dem Negativen allein lässt sich nichts Positives oder Neues bilden, und auch dieser Weg führt auf seiner höchsten Stufe ins Schweigen und Verstummen, weil er den Bereich der Musik ganz hinter sich lässt und anderswo ankommt: in der Grafik, im schönen Bühnenbild, in kostbaren Kostümen, in Filmen, Photographien oder im Kunsthandwerk.
Ein Pianist – Bussotti persönlich – sitzt vor dem Klavier und improvisiert. Überlebensgroß erscheint vor ihm auf der Projektionsleinwand ein Ephebe wie aus dem Zeitalter der antiken römischen Kaiser, mit Lorbeerkranz und kostbaren Stoffen bekleidet. Lasziv räkelt er sich und posiert zur Musik. Fransen aus Glasperlen bedecken seinen Oberkörper, eine Doppelschicht aus rosa Tüll bildet die Grundlage seines Juwelenärmels, der mit Goldborten gitterförmig besetzt ist.
Eine Muschel aus weißem Atlas mit Perlmuttstickerei bedeckt sein Geschlecht, Fransen mit kleinen Perlen reichen von der Hüfte über den Oberschenkel bis zum Knie. Die Lederdreiecke auf der Brust sind mit orangefarbenem Lamé bezogen und mit Goldborten eingefasst. Metallknöpfe unter dem Lamé stilisieren die Brustwarzen. Asymmetrische Stiefel vervollständigen das Kostüm.
Der erste Teil meiner Beschreibung gibt eine Szene aus einem Farbfilm über den italienischen Komponisten wieder, den das Schweizer Fernsehen 1973 gedreht hat. Die zweite Beschreibung stammt aus dem von Luciano Morini und Aldo Premoli geschriebenen und jetzt in der Münchener Edition „Wissenschaft & Literatur“ erschienenen Band „Träume in Samt und Seide – Mystik und Realität in den Opernkostümen des Sylvano Bussotti“. Das luxuriös ausgestattete Buch enthält Abbildungen zahlreicher von Bussotti konzipierter Kostüme, Stoffe und Dekorationen, die mit einer für die Gegenwart ungewöhnlichen byzantinischen Prachtentfaltung den Körper ausstaffieren und begehrenswert zu machen suchen.
Bussotti, 1931 in Florenz geboren und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, ist mir als Musiker erstmals aufgefallen, als in seinen Partituren zu meiner Verblüffung plötzlich Segelboote und Schmetterlinge auftauchten, mit denen ich wenig anzufangen wusste, auch wenn genaue Anweisungen und Erläuterungen des Komponisten beigefügt waren.
Dann lernte ich weitere Kompositionen kennen, alle grafisch sehr ansprechend und sorgfältig ausgeführt, mit durcheinander geratenen Notensystemen und neuen Zeichen, auch mit Provokationen, wie der Komponist heute zugibt, etwa einem unspielbaren fünffachen Piano (ppppp), eine Komposition für Geige, nur mit dem Bogen zu spielen, mehrfarbigen Partituren, fast unsichtbaren Vorlagen und seltsamen Werksbezeichnungen wie „Pièce de Chair“, „Ra-Ra-Requiem“, „Il Nudo“.
In den Partituren tummeln sich außerdem nackte Männerkörper, und ein Badezimmer, dasjenige von Bussotti selbst – es ist auch heute noch, seinen Angaben zufolge, der am üppigsten ausgestattete Raum in der Wohnung – mit zwei Knabenstatuen schmückte den Umschlag von „Oggetto amato“.
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In Stuttgart hat der Komponist ein siebentägiges Kompositionsseminar durchgeführt. „Parasitäre Musik, parasitäre Stellen“ nennt Bussotti die eben aufgezählten Besonderheiten seines Stils. Durch unkonventionelle Mittel will er eine andere Musik entwickeln, auch wenn er, darin der Schönbergschule treu, „die Schwierigkeiten des Lebens in der Musik, im menschlichen Musikhören wieder finden“ möchte. Was Neuerungen wie Neo-Tonalität oder Minimalismus betrifft, deren Werke er allesamt als „schlecht, hässlich und leer“ beurteilt, so ist er ein Akademist und ebenso standfest in der rigorosen Ablehnung wie seine Mitstreiter aus den fünfziger oder sechziger Jahren, allen voran Pierre Boulez.
Historische Kategorien wie „Avantgarde“ oder „Moderne“ lehnt er als „journalistische Vokabeln“ ab, kokettiert auch mit seinem „démodé“, aus der Mode sein, und bekennt sich zu einer exklusiven Minderheit – selbst James Joyce habe gelegentlich nur für einen Leser geschrieben.
So unbefangen leicht und kreativ, mit einer so überschäumenden Fantasie ist niemand sonst jedoch aus seiner Generation mit dem musikalischen Material umgegangen. Während Stockhausen die neuen Töne im rationalistischen Korsett den Sternen und Mysterien geöffnet (oder geopfert) hat, verbindet sie Bussotti als Italiener – und sich selbst – mit den Sinnen: Schöne Stoffe, Kostüme, Umhänge und Gewänder, Kopfbedeckungen, Rüstungen, Schuhe und Handschuhe, sie werden mit einer fast schon fetischistischen Liebe besetzt.
Dekadenz und Ästhetizismus leben in seiner Fantasie unbefangen und naiv wieder auf. Posen, Erstarrungen und Selbst-Stilisierungen, wie sie heute besonders in der jungen Generation anzutreffen sind, scheinen übermächtig Selbstzweck zu werden. Namen wie Cocteau, Artaud und Oscar Wilde werden genannt; Hässlichkeit oder die banale Tagespolitik sind meist ausgespart zugunsten einer diffusen Nostalgie, die vor allem in den Operninszenierungen nahe am Kitsch und reinen Dekor angesiedelt bleibt.
Bussottis Mixturen aus Vergangenheit und Gegenwart erinnern gelegentlich auch an die Tableaus von Chirico, ohne jedoch dessen bedrohliche oder geheimnisvolle Stimmung wieder aufleben lassen zu können. Selbst Lust, Schönheit und Tod begegnen sich dann und wann, so im Ra-Ra-Requiem, einem Schmachtfetzen, der an ein antikes Bacchanal erinnert.
»Sind die Noten nun auf dem Hintern oder auf der Haut des Tänzers aufgezeichnet?«, fragt leicht irritiert die Simultanübersetzerin Joyce Shintani mit charmantem Lächeln den Komponisten. Bussotti nennt sein Stuttgarter Seminar in der Bachakademie mit jeweils zwei Vorträgen pro Tag in französischer Sprache, einer Ausstellung und einem Konzert am Schluss verwirrend genug „Von Bach zur Fotografie“. Er hält sich jedoch kaum an das angegebene Programm, sondern funktioniert die Tage in eine einzige Selbstdarstellungsschau um.
Zum eigentlichen „Kern“ oder Thema mag er nicht kommen, und seine ermüdenden Umwege mit zahlreichen Anekdoten und anderen Extras haben sogar Methode: Bewusst verliert er sich in schönen Nebensächlichkeiten; bizarre Überschriften und Querbezüge nach der Manier der französischen Intellektuellen-Schule suchen das Gegensätzliche und Unerwartete, ohne sich auch nur annähernd mit einem festen Thema zu befassen. Den Zuhörer mit möglichst vielen Fragen und Fragezeichen weggehen lassen, die dieser selber beantworten muss, das ist eine der didaktischen Devisen Bussottis. Und: Für alle gültige Antworten seien unmöglich. Kunstwerke brauchten keine Erläuterungen, erklärt der Komponist, man gelange nie ins Zentrum, er werde deshalb nur eine »Kette alltäglicher Banalitäten« von sich geben, Anekdoten, Extras…
Wenige Aussagen nur widmet er seiner Stellung innerhalb der Darmstädter Schule, seiner Kompositionstechnik, den musikalischen und stilistischen Einflüssen (Klee, Gustav Mahler und Dallapiccola werden als wichtige Personen erwähnt), seinem fast schon dadaistischen Aufbrechen und Zersetzen der seriellen Dogmatik mit Zeichnungen, neuen Schreibweisen, auch mit einer überbordenden Fantasie, die gelegentlich ins Happening übergeht. Wenig Kommentare auch zu anderen Komponisten – die Ausnahme bildet der besonders geschätzte Boulez –, wenig vor allem auch zu John Cage, dem fast schon übermächtigen amerikanischen Pendant.
Bussottis Vermischung der Sparten und Gattungen, seine vielfältigen Aktivitäten, die er als ein Ganzes ansieht, richten sich gegen einen Kunstbegriff, welcher die Perfektion innerhalb einer eng gesetzten Spezialisierung anstrebt – auch auf die Gefahr hin, letztlich Dilettant zu bleiben und auf keinem der berührten Gebiete je „glänzen“ zu können.
Diese Haltung ist nicht zuletzt in den USA und dort vor allem in Kalifornien verbreitet, wo scheinbar alles geht, alles akzeptiert wird, was mit Eigeninitiative, Selbstfindung oder Kreativität zu tun hat und wo jeder sein eigener (Lebens –) Künstler sein kann.
Welt und Leben sind eine große Collage, das Pluriversum aller Stile, Lebensformen, Kulturen und Weltanschauungen steht jedermann offen, kann jedem Mitbürger nützlich sein in der wachsenden Freizeitgesellschaft. Ob dies nun exklusive Stoffe oder persönliche Stilisierung, sexuelle Besonderheiten oder japanische Meditation, Dadaismus oder die Strenge und Askese einer atonalen Konstruktion bedeutet – alles geht, und alles ist willkommen. Sofern man nur selbst davon überzeugt ist.
Die Begriffe „notwendig“ und „ausreichend“ seien zwei wichtige Kategorien im Denken von Boulez, erläutert Bussotti. Seine bevorzugten Terme hingegen seien Überfluss und Übermaß. Wenn es schon kein Brot gebe, dann bevorzuge er wenigstens Kuchen, lässt er seine „irrationalistische“ Lebensphilosophie sprechen. Überfluss und Vielfalt seien wie Luxus allgemein menschliche Kategorien, und ein vielfältiges Leben wie Schaffen habe es in der Kunstgeschichte immer wieder gegeben, etwa in der Renaissance.
Deshalb ist der Komponist gegen eine Spezialisierung, deshalb liebt er das „Wildern“ in unterschiedlichen Bereichen und Sparten („Dissipation“). Er propagiert die Schönheit der musikalischen Schrift auch als Selbstzweck, als visuelles ästhetisches Vergnügen, welches nicht mehr in Musik umgesetzt zu werden brauche. Die Besessenheit für kleine Zeichen habe er bei Klee, den Fetisch-Charakter der musikalischen Schrift bei Dallapiccola kennen gelernt („die Eleganz seiner Legato-Bögen“).
Andererseits scheint Bussotti mittlerweile jedoch auch eine etwas diszipliniertere Haltung der musikalischen Grafik gegenüber einzunehmen, obwohl er einer ihrer exponiertesten Mitbegründer und Vertreter ist. Er verteidigt die traditionelle Notation, deren Reichtum immer noch nicht ganz ausgeschöpft sei, und verweist auf die extremen und gleichwohl faszinierenden Schreibweisen etwa von Brian Ferneyhough.
In einem Konzert in den Räumen der Stuttgarter Bachakademie verwendet der Komponist als Musikvorlage ausschließlich Fotografien: Dokumente, Kindheitserinnerungen, abstrakte Bilder; Steine von Venedig, wo der Musiker mehrere Jahre lang Operndirektor war, ein privates Datum, Tätowierungen auf der Haut eines Tänzers, Fenster und Schatten, Graffiti in New York. Aber auch Portraits, ein Selbstbildnis, alte Sessel und Stühle, ein sizilianischer Tempel inspirieren ihn zu seinen Improvisationen am Klavier.
Sehnsucht nach der Vergangenheit, auch für die Schönheit anderer Zeiten und Epochen bleibt allgemein eine wesentliche Konstante im Schaffen des Komponisten; dies hat sein Aufenthalt in Stuttgart immer wieder deutlich gemacht.
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Der Aufsatz ist erstmals publiziert worden in der “Neuen Zeitschrift für Musik” (Schott-Verlag). Mit Kürzungen nachgedruckt wurde er in der Stuttgarter Zeitung und in der Berliner taz, von der auch das Foto oben entnommen ist.