103 Über Franco Evangelisti
Vom Ende der Neuen Musik
Was geht verloren, was wäre zu gewinnen, wenn keine neue Musik mehr gespielt, keine Partituren von Komponisten minutiös gezeichnet und geplant würden? Der Italiener Franco Evangelisti (1928-1980), von dem nicht mehr als zehn völlig verschiedene Kompositionen vorliegen, beantwortet diese Frage mit der Aufforderung zum Schweigen. Das Schweigen stehe am Ende der Musik-Entwicklung unseres Zeitalters, es sei Ausdruck einer allgemeinen Erschöpfung und einer schweren Krise der abendländischen Kunstmusik unserer Zeit*.
Evangelisti entdeckt Vorstufen bereits dazu bei Webern, der mit seinen komponierten Pausen die Leere Besorgnis erregend vergrößert habe. Der Autor deutet dieses Schweigen, dem er sich als Komponist angeschlossen hat (seit 1962 hat er mit einer Ausnahme nichts mehr komponiert) als einen »Respekt, den man Sterbenden schuldig ist und den man nur mit Stille zum Ausdruck bringen kann«. Oder, Adorno zitierend, man müsse »unmetaphorisch und ohne Trost, so könne es nicht bleiben, die Möglichkeit des Verstummens ins Auge fassen«. Vielleicht sei nur noch eine Musik möglich, die an diesem Äußersten, am eigenen Verstummen, sich messe.
Evangelistis Buch, an dem der Autor bis zu seinem Tod 1980 sechzehn Jahre lang gearbeitet hat, liest sich über weite Strecken wie eine fachkundige Geschichte der Neuen Musik unseres Jahrhunderts, voll wohl meinender Polemik und doch wiederum mit der Absicht, streng wissenschaftlich dabei vorzugehen.
Evangelisti propagiert weiterhin Ideen, die nach seinen Worten »nicht zurück schielen«, und er verlangt eine Musik, die nicht nur eine Wiederholung längst veralteter, wohl bekannter und im Akademischen erstarrter Formeln darstelle. Eine solche Musik zu komponieren sei jedoch nicht mehr möglich.
Selbst die elektronische Musik, die der italienische Komponisten-Wissenschaftler lange Zeit zusammen mit Lorenzo Viesi neu zu begründen suchte, sei nicht in der Lage gewesen, belebend zu wirken und die Lebensfähigkeit der instrumentalen Musik zu erreichen.
Evangelisti ist kein Gegner, sondern nur ein konsequenter Verfechter impliziter Prämissen der Neuen Musik. Er vertritt die Idee des musikalischen Fortschritts als einer Weiterentwicklung des musikalischen Materials, und er hat Zeit seines Lebens, darin ganz der Tradition Busoni-Varèse treu, eine neue Klangwelt, die er nicht mehr Musik hat nennen wollen, jenseits des temperierten Systems gesucht. In John Cage sieht und bewundert er den nützlichen Provokateur und Katalysator, ihm gesteht er als einzigem noch eine gewisse Bedeutung zu.
Seine Kritik an der Neuen Musik gipfelt mit freimütiger Offenheit und Konsequenz in den Begriffen »Armut«, »Monotonie«, »Formalismus« und »Restauration«. Immer wieder versucht der Autor zu beweisen, dass es seit Anfang der sechziger Jahre keine Komposition mit konventionellen Mitteln mehr habe geben können, die nicht restaurativ gewesen wäre. Dazu gehöre auch das Phänomen, »dass man diese Tatsache weder aussprechen noch sonst wie am Wert der Produktion dieser Pseudokultur zweifeln darf«. Und angesichts der sozialen Bedeutungslosigkeit der neuen Musik im öffentlichen Leben schreibt er: »Voll Bitterkeit ist festzustellen, dass in unserer abendländischen Gesellschaft der arme Komponist ernster Musik verkrochen in seiner Abstellkammer hockt«.
Schließlich seine Hauptthese der Erschöpfung: »Ich glaube, dass Zeit, Ausdruck und unmittelbare Kommunikation ihre Rolle (in der Musik) erschöpft und ihre Pflicht getan haben, und dass das System seine Grenze nicht überschreiten kann«. Eine Reformierung, Weiterentwicklung oder Änderung schließt der Komponist also aus.
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Ekstatische Formen sind in der Sprache von Jean Baudrillard reine und leere Formen kurz vor ihrem Verschwinden**. »Sie berühren einen Punkt, an dem jedes System die kaum wahrnehmbare Grenze der Umkehrbarkeit, Widersprüchlichkeit und Infragestellung überschreitet, um zur Unwidersprüchlichkeit, zur Selbstbespiegelung zu gelangen«. Die Pataphysik der Systeme schließt in diesem Denken die Übersteigerung, das Eskalieren und schließlich die Katastrophe ein. Ekstase und Katastrophe begegnen sich an einem bestimmten Punkt, einer Wegkreuzung, und die Sprache der Katastrophe ist dann perfekt,
»wenn Sie den Modus des eigenen Verschwindens bereits vorweg nimmt, ihn zu inszenieren weiß und so zu einer maximalen Energie des Scheins gelangt«.
Nun nennt Baudrillard alle Figuren, die Figuren einer Steigerung der Leere (und mithin auch Ausdruck der Ekstase) sind, Figuren des Obszönen. Dieses Obszöne befindet sich bereits jenseits des Endes, denn alles ist dann nach Baudrillards Ausführungen »bereits vorbei«. Wir befinden uns somit, allgemein gesprochen, in einem transfiniten Universum, wo sogar Schein, Illusion und Simulation ihr eigenes Spiegelbild, die Verdoppelung nämlich, gefunden haben: wir sind im ewigen Zeitalter.
Indem die neue Musik der Gegenwart mittlerweile einen Zustand der ekstatischen Formen angenommen hat, simuliert sie also nur noch die eigene Existenz. Das heißt, sie ist nicht wirklich, sondern sie lebt nur als Scheinphänomen. Sie befindet sich zwar in einem Zustand des Rausches, welcher vielfältige Energien freisetzt; ebenso nimmt sie aber auch eine tiefe und lang anhaltende Erschöpfung vorweg.
Als „ekstatische Erscheinung“ berührt sie sich mit den leeren Formen: Sie ist das Alsob von Kunst, von Bedeutsamkeit und Größe. Sie ist obszöner Ausdruck des Besonderen und Wertvollen. Sie strahlt wie alle leeren Formen unwirklich und mit großer Energie und ist doch bereits im Stadium der Erkaltung: erstarrt, leere Hülse, dogmatisch sich gegen jegliche Auflösung wehrend, das Ende.
Sie ist also nur noch der Schein von Musik, ganz zu schweigen von Sinn, Bedeutung oder sozialer Wichtigkeit. Sie kann auch nicht mehr nach außen hin explodieren, denn das würde Erneuerung, Austausch, Widerspruch und Auseinandersetzung bedeuten. Sie kann also, wie jedes Endstadium, weder revolutioniert noch reformiert werden. Ihr Ende vollzieht sich in Form einer Implosion: Sie fällt in sich zusammen ohne großen Aufwand, ohne spektakuläre Abschiedsveranstaltung; sie ist nur noch für die Geschichtsschreiber und Geschichtsbücher von Wert.
Doch wer liest heute noch in unserem neuen Zeitalter Geschichtsbücher, kümmert sich noch um Geschichte? Niemand, und auch diese einzige Bedeutsamkeit von Neuer Musik wird somit Sinn entleert, fällt in sich zusammen.
Die gegenwärtige Ekstase der Neuen Musik weist also auf ihr Verschwinden, auch auf das Phänomen des Schweigens und vollkommenen Verstummens hin. Sie wird damit zu einem Phänomen des Trans-Musikalischen, lebt nur noch von anderen als den immanenten musikalischen Werten und Faktoren.
Etwa von soziologischen: Welche Gesellschaftsgruppe, welche Lebensform hört heute noch Neue Musik und warum. Von ökonomischen: Wer hat ein finanzielles Interesse an dieser Musik (oder auch nicht). Oder psychologisch: Wie krank werden die ausübenden Musiker durch diese Musik tatsächlich, warum sträuben sie sich so hartnäckig, sie zu spielen und Partituren einzustudieren, warum lassen Sie sich krank schreiben oder fordern finanzielle Zulagen wegen körperlicher und psychischer Überanstrengung und so fort.
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*Franco Evangelisti, „Musik/Konzepte 43/44“, Edition text+kritik 1985; Aufsatz erstmals abgedruckt in der Berliner taz und in der Zeitschrift “Das Orchester”(Schott-Verlag). Wieder veröffentlicht in Reinhold Urmetzer, „Ästhetik Band 3“( Musikbuch) S.25ff
**Alle Baudrillard-Zitate aus: „Agonie des Realen“, Berlin 1978 und „Die fatalen Strategien“, München 1985