104 Über moderne Klassik (Neue Musik)
Einführung in die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts
Auf den Blog-Seiten 103-99 sowie 96 beschäftige ich mich ausführlich mit der Musikgeschichte unserer Zeit. Genauer gesagt geht es um die Geschichte der modernen Klassik, wie ich diese Musik lieber benenne statt den Begriff “Neue Musik” zu verwenden.
Denn diese Musik ist nicht mehr neu. Das radikal Neue war in der Zeit von Arnold Schönberg um 1900 die Atonalität, sprich das Konsonanz-Tabu. Jede neu komponierte Musik musste aus weltanschaulichen Gründen (dessen sind sich die wenigsten Musiker und Fachleute bewusst) dissonant sein, das heißt negativ, anti-bürgerlich, provozierend auch im politisch-aufklärerischen Sinne. Es ging nicht nur um die Idee des Neuen, eine mächtige, auch zerstörerische Idee in unserer Kulturgeschichte. Es ging auch um die Abgrenzung im sozialen Sinn, um den Protest,den Dissens.
Ich nenne diese Musik “modern“, weil sie wie andere Kunstströmungen oder philosophisch-weltanschauliche Schulen ebenfalls ganz noch in der Tradition der aufklärerischen Moderne des 18.Jahrhunderts steht, und zwar in ganz Europa.
Wichtige Parameter dieser Epoche im philosophischen wie auch ästhetischen, ja sogar politischen Sinn gelten bis auf den heutigen Tag. Genannt seien nur die Begriffe Rationalität, Neuheit und Komplexität und deren Ableitungen. Was im Anschluss daran jetzt postmoderne Parameter sind, lässt sich leicht daraus herleiten.
“Klassisch” nenne ich diese Musik einmal in einem positiv wertenden Sinne als technisch ausgefeilt, künstlerisch wie geistig hochwertig und auch nachhaltig, das bedeutet langlebig.
Zum andern aber auch in dem negativen Sinne von elitär, elaboriert und nur Wissende wie Fachleute ansprechend.
Wir haben es kulturgeschichtlich also wieder mit einer Musica reservata zu tun, wie sie sich auch im Übergang von Renaissance zum Barock gebildet hat, etwa in der Kirchenmusik der isorhythmischen Motette. Dazu gehören auch Phänomene wie Abgeschlossenheit, Dogmatik und Macht, Einfluss im negativen Sinne, das heißt Gegenbilder, Antithesen oder Infragestellungen ausschließend. „Klassik“ bedeutet also nicht zuletzt auch Ghetto und Elfenbeinturm, was sowohl Interpreten wie Publikum betrifft (vgl. über Getrenntheit und Fremdheit der Lebensformen untereinander meine Wittgenstein Aufsätze Nr. 95-93).
Der italienische Komponist und Musikwissenschaftler Franco Evangelisti hat als ein kritisch engagierter Insider diese Endzeit-oder Übergangszeit-Phänomene sehr früh schon richtig erkannt. Mittlerweile haben sich seine Analysen und Prognosen nur noch mehr bestätigt, ja sind sogar vom übermächtigen Vormarsch der Pop-Kulturindustrie in den Schatten gestellt worden.
Auch ich bin bereits ein „Objekt“ (“Opfer“?) dieser Entwicklung. Aufgewachsen mit Rock und Pop, dauernd die neuesten Hits im Ohr, Modetrends hinter her laufend, gleichwohl jedoch auch in streng dogmatischen Musikakademien ausgebildet und mit der Bereitschaft, auch dieser Spur zu folgen, diesen Weg einer “zeitgenössischen Musik” einzuschlagen, bin ich quasi zweipolig aufgewachsen und war offen für das Eine wie für das Andere.
Karlheinz Stockhausen stelle ich vor als ein Repräsentant eben dieser Überkomplexität und mit eben diesem Anspruch auf Alleinherrschaft und Macht, die sich bis in die Gegenwart bei Vertretern dieser Schulrichtung gehalten hat. Der Belgier Karel Goeyvaerts war mehrere Jahre lang Mitstreiter und Mitarbeiter von Stockhausen im Kölner Rundfunkstudio des WDR und hat sich dennoch schließlich ganz aus dieser Welt und von dieser Ideologie verabschiedet, weil er sogar krank machende Faktoren in dieser Art Musikmachen, Musikstruktur, im Spielen und Hören einer solchen Art von Musik entdecken zu können glaubte.
Sylvanio Bussotti schließlich habe ich ausgewählt, weil er als ein Hauptvertreter der Auflösung dieser Dogmatik und dieser Schule angesehen werden kann. Sicher und noch mehr müsste auch der Amerikaner John Cage mit einbezogen werden. Aber dieser hat sich nie dem europäischen Atonalitäts-Dogma verpflichtet gefühlt, während Bussotti doch noch ganz in der Spur der europäischen modernen Klassik bleibt, um sich schließlich mit Improvisation und Musikgrafik ganz davon zu befreien und damit den Weg öffnet auch für das absurde Musiktheater Schnebels oder Kagels.
Schließlich hat Bussotti auch das bei manchen Schulen bis in die Gegenwart hinein weiterhin propagierte und dominierende subtile Hören, Wissen, Aufmerksam-Sein und Denken mittels ausgefallener Klangeffekte etwa im meisterhaften Stil Ligetis unterstützt. Eine Antithese zu diesem rationalen Hören – sie hat sich mittlerweile eher durchgesetzt – wäre das Tanzen, Mitfühlen, das emotionale, motorische oder auch assoziative Hören, welches einen ganz körperlichen und weniger intellektuellen Zugang zum Menschen und seiner Existenz findet.
Alle die eben genannten drei Pioniere der modernen Klassik habe ich persönlich kennengelernt und über sie geschrieben. Die Texte stammen aus dem Archiv etwa der Neuen Zeitschrift für Musik, der Stuttgarter Zeitung oder der taz, haben aber ihre Aktualität bewahrt dergestalt, dass ich nichts daran habe ändern müssen.
Weggelassen habe ich vier Anti-Pioniere der traditionellen Musikgeschichte, Strawinsky, Bartok und Hindemith/Orff, die unbeschadet von heftigen Angriffen und Ablehnungen ihren Weg weiter gegangen sind, bruchlos auch die Musikgeschichte über den Expressionismus hinaus geführt und bis in die Gegenwart ein großes Publikum gefunden haben.
Sie sind Suchende, die sich jenseits der Schönberg-Schule und ihrer Adepten positioniert und eine eigene Sprache jeweils gefunden haben. Auch indem sie das traditionelle, manche meinen sogar das “von der Natur vorgegebene Hören” (Hindemith) akzeptiert haben und es nicht umerziehen wollten.
Die Jahre sind vergangen mit ihren Brüchen und Umbrüchen, aber manches aus der Vergangenheit ist mitsamt all den Übergangserscheinungen doch noch aktuell geblieben. Also ist auch eine Archäologie des Denkens und seiner Objektivationen, hegelianisch gesprochen, weiterhin von Nutzen. Wie immer bei mir, wenn ihr dies lest, sind Erinnerungen an die heterodoxen Schreib-und Denkstile unserer französischen Nachbarn durchaus gewollt und erwünscht. Vielleicht verstehen mich auch meine Leser dann besser.
Selbst die Weltanschauungen haben sich geändert, die Vorstellungen über ein Leben, wie es ist, sein sollte oder sein könnte, und damit auch unsere Vorstellungen über Kunst, über die Aufgabe der Künstler, des Kunst-Schaffens.
Dass mittlerweile alles im glücklichen Delirium eines nur noch wirtschaftlichen Zielen und Wahrheiten unterworfenen Denkens mit tanzen und taumeln und fallen muss, das ist gleichwohl ein ganz neues Zeichen unserer Wendezeit, wo niemand so recht abzuschätzen weiß, wohin der Weg führt. Auch in der Musik.
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91: Inhaltsverzeichnis gesamt 90-1
103: Über Evangelisti
102: Über Sylvano Bussotti
101: Carol Morgan
100: Über Karlheinz Stockhausen
99: Über Karel Goeyvaerts
97: Überkomplexe Musik II
96: Überkomplexe Musik I