106 Die Akademie (1. Teil)
Über die Infamie der zukünftigen Akademie und das Eisschlecken (Teil 1)
Die zukünftige Akademie wird groß sein. Sie wird mächtig sein, einflussreich, keine Widerrede und kein Gegenbild duldend. Antithese und Widerspruch wird sie mit einem einzigen und leichten Handgriff in die Knie zu zwingen wissen. Sie wird schön sein und trotz allem auch Zustimmung finden wegen ihrer Konsequenz, wegen ihres Nutzens für das Gemeinwohl und ihrer zwingenden Logik. In unseren Nachtträumen ahnen wir jedoch, dass sie gefährlich, unterdrückend und vielleicht sogar menschenverachtend sein wird.
Manche Zeitgenossen glauben tatsächlich, einen Schlüssel zur Akademie zu besitzen. Sie hoffen auf eine Zugangsmöglichkeit, obwohl alle Türen verschlossen sind und niemandem Zutritt gewährt werden kann. Sie hoffen auf eine Beteiligung, ein Mitmachen-Dürfen und Mit-Einbezogen-Werden, obwohl alle wichtigen Entscheidungen bereits gefallen sind und alles Interesse der Akademie nur noch der Perfektionierung des allumfassenden Steuerungssystems gilt. So dass der angebliche Besitz eines Schlüssels zur Akademie sich letztlich als eine weitere große Illusion im Reich der Träume erweisen wird, auch wenn wir uns einbilden, diesen Schlüssel mit eigenen Augen und Ohren hören, sehen zu können und von seiner Existenz fest überzeugt sind.
Dem widerspricht nicht die Tatsache, dass nicht jeder von uns einen solchen Schlüssel besitzen möchte. Ich zum Beispiel verzichte gerne darauf. Denn dieser Schlüssel bedeutet nach Abwägung vieler Seiten, über die wir recht gut informiert sind, mehr Unglück als Glück. Davon bin ich fest überzeugt und die meisten meiner Zuhörer hier in diesem Raum werden mit mir übereinstimmen*.
Es mag Mitmenschen geben (sie sind durchaus in der Mehrzahl, müssen es vielleicht auch sein, wenn das ehrgeizige Programm der Akademie gelingen soll), die frühzeitig in einem neuen und ungewöhnlichen, vielleicht sogar surrealen Gesellschaftsvertrag auf jeden Zugang zur Akademie verzichtet haben. Die selbst von der Existenz der Akademie nichts wissen, nichts ahnen wollen und die sich deshalb mit einer kindlichen Unbefangenheit bewegen, als gäbe es tatsächlich nichts zu wissen, nichts zu ahnen, nichts zu tun. Als gäbe es tatsächlich keinen Fortschritt, als gäbe es nichts zu lernen, zu erfahren und als seien Gegenbilder zu apokalyptischen Visionen nicht mehr gefragt.
Die tatsächlich in den Tag hinein leben »ohne Sinn und Zweck«, muss man leider feststellen, auch ohne Zukunft, und die bereits einen Beweis dafür darzustellen scheinen, dass die Akademie ihr wichtigstes Ziel erreicht hat: Uns nämlich ganz aufgehen zu lassen in ihrem perfekt gesteuerten System, uns eingesperrt zu halten in eben diesen ihren Mauern, obwohl wir uns doch einbilden, außerhalb der Mauern leben zu können, leben zu müssen und obwohl wir mit einer paradoxen Sehnsucht Zutritt suchen, der uns doch immer schon gewährt worden ist.
Kurzum, dass wir bereits ganz zu vollkommen angepassten und idealen Mitgliedern der Akademie geworden sind. Unsere Visionen von einem anderen Leben, unsere Hoffnungen auf eine friedliche Politik ohne Lüge und Zerstörungen, auch unser Glaube an eine Mitbestimmungsmöglichkeit ohne bürgerkriegsähnliche Zustände, alle diese Wünsche, mit denen wir einmal angetreten waren, sind mittlerweile einer tiefen Gleichgültigkeit gewichen, die gleichwohl vielen Zeitgenossen Glück, Erfüllung und Lebensaufgabe bedeuten mag.
Was sollen wir von diesen Widersprüchen, Doppeldeutigkeiten und Halbwahrheiten halten, denen wir täglich begegnen, die uns zerreißen und allem gegenüber skeptisch werden lassen? Von der Sprache der Mächtigen, die den falschen Ton angeben, mit dissonanten Klängen und theatralischen Beschwichtigungen uns einlullen, wie wollen wir mit der Ohnmacht von Denken und Wahrheit zurecht kommen, die es gleichwohl in diesem Dickicht von Vernebelung, in diesen albernen Diskussionsrunden, in dieser offensichtlichen Dummheit und Spielfilm-Wirklichkeit gibt, geben muss?
Denn ohne Wahrheit wäre uns doch die Lüge nicht so gewiss, ohne das Wissen um Sprachverdrehung, Rhetorik und Widersprüchlichkeit würden wir doch Verschleierung und dogmatische Eingrenzung gar nicht erkennen können.
Wir erfahren tagtäglich den mächtigen Einfluss der Akademie, ihre unglückseligen Auswirkungen, und sprechen doch diesen Tatsachen immer wieder andere als die offensichtlichen Ursachen zu. Wir erfinden Bilder und Umschreibungen im ironischen Sinn und wagen dennoch nicht, aufrichtig und ohne rhetorische Künstlichkeit die Dinge beim Namen zu nennen.
Wir sehen bei unseren Kindern und Nachgeborenen deutliche Zeichen von Manipulation und Indoktrination – auch ich trage dieses Stigma der Akademie bereits auf der Stirn, ich sage »Stigma«, denn ein anderer Begriff fällt mir nicht ein in dieser meiner Sprache, in diesen doppelbödigen und widerspruchsvollen Anspielungen und rätselhaften Umschreibungen, die sich zu entziehen suchen und gerade deshalb vielleicht zu eben diesem Kreis gehören, dem ich entrinnen möchte –, und wir sind dennoch ohnmächtig all diesen Einflüssen gegenüber, ja begrüßen sie zuweilen freudig wie eine neue und fortschrittliche Erfindung, die unser Leben zu erleichtern verspricht.
Die Akademie bildet sich und lebt unter einem blauen und freien Himmel, wie wir ihn alle noch kennen und lieben, auch wenn etliche Mitglieder der Akademie bereits darauf verzichten können und unsere Vorstellungen von einem blauen und freien Himmel gelegentlich doch ins Wanken kommen. Ähnlich vielleicht den amerikanischen Konsumenten, die ein künstlich hergestelltes und rein aus chemischen Zutaten zusammen gesetztes Erfrischungsgetränk bereits mehr schätzen als die natürlichen Fruchtsäfte, die ihnen widernatürlich erscheinen.
Manche Zeitgenossen beschreiben die Gestalt der Akademie als viereckig und aggressiv abstoßend, mit spitzen Kanten, andere sehen sie eher als rund, einnehmend, weich und wohl proportioniert wie die Gestalt eines riesigen Atommeilers. Dann gibt es Zeitgenossen, die behaupten, die Akademie sei aus Beton und Eisen gebaut, stählern und hart, unerbittlich und uneinnehmbar wie eine Festung, oder eher doch aus Lehm, ökologisch und in Einklang mit Gesetzen der Natur konzipiert.
Vielleicht existiert die Akademie tatsächlich auch nur rein metaphysisch als Metapher oder Symbol, vielleicht ist sie nur eine philosophische Abstraktion, eine Fiktion im literarischen Sinne, und verdeckt und verschlüsselt verweist sie auf etwas anderes, Gefährliches, das wir alle spüren und das gewiss unbestimmbar, aber doch immer auch bedrohlich bleibt.
Worin besteht nun das Bezwingende der zukünftigen Akademie, denn in der Zukunft wird erst ihre wahre Bedeutung liegen, auch wenn wir sie bereits aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart mit ihren Zeitungs- und Fernsehnachrichten, diesen tagtäglichen Hiobsbotschaften, zu kennen meinen, nachdem ich sie als dogmatisch, unterdrückend, vielleicht auch gleichmacherisch und militant beschrieben habe?
Mein Kreuz-und-quer-Denken wird keine Antwort geben können, auch keine Antwort geben wollen. Erfolgversprechender scheint im dialektischen Sinn das Gegenbild, auch wenn dieses »Andere« niemals gelingen wird und wir uns damit abfinden müssen; abfinden auch mit der Tatsache, dass Musik, Literatur und Kunst allgemein immer machtlos sind, immer unterliegen werden.
Doch selbst diese Niederlage wird ein Gewinn sein, wie ich meine: Wiederholbar von jedem und spielerisch, reine Fiktion oder verzerrendes Abbild, zwischen Analyse und objektiver Beschreibung, rätselhaftem Sprachzauber, surrealem Traum und ironischer Rabulistik hin und her pendelnd, sucht sie niemand anderem als sich selbst zu genügen und Maßstab zu sein.
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* Der Vortrag fand in gekürzter Form im Rahmen eines Konzertabends mit Neuer Musik in Stuttgart statt. Solistin war Carol Morgan (Klavier)