105 Die Akademie (2.Teil)
Über die Infamie der zukünftigen Akademie
und das Eisschlecken (Teil 2)
Einige Theorien sind bereits über die Akademie, die ich in einer rein subjektiven Wertung als »infam« bezeichnet habe (denn ich weiß, dass nicht jeder Zuhörer im Saal mein Urteil teilen wird, dass es vielleicht sogar einige Mitglieder der Akademie unter den Anwesenden geben mag, die alles verstehen werden und denen alles so bekannt ist wie ein »glühendes Eisen, wie eine Brandwunde in diesem Papier«), einige Theorien sind also bereits entworfen worden, von denen ich nur einen sozialwissenschaftlichen, einen psycholinguistischen und einen philosophisch – ästhetischen Ansatz heraus greifen und vorstellen möchte(1).
a) Der sozialwissenschaftliche Ansatz B.F.Skinners geht von einem positiven Zustand jenseits von Freiheit und Menschenwürde aus, wo beide Begriffe nur noch nostalgische Erinnerungsfunktion besitzen – sie haben sich überlebt, sind veraltet und unbrauchbar geworden(2). Alle Probleme werden in diesem durch Lerntechniken und Konditionierung sich selbst steuernden System technokratisch geregelt. Sozialingenieure, eine kleine, ausgewählte Elite, steuert mit allmächtiger Gewalt das Wohl und Wehe des Ganzen, und sie duldet weder Widerspruch noch Infragestellung. Wie in einem lebenden Organismus werden die »negativen Elemente« eliminiert. Es gibt nur Anpassung und Gehorchen oder Ausgestoßen-Sein, was gleich bedeutend mit tödlicher Isolation wäre (ich erinnere an die wenigen »Wilden« in Huxleys Roman “Brave new World”(3).
Die pikante Pointe dieses Ansatzes, den neo-marxistische Schulen bis hin zur europäischen Sozialdemokratie heftig bekämpfen, liegt nun darin, dass alle Mitglieder dieses Systems einverstanden sind, zugestimmt haben, freiwillig auf gewisse allgemeine und elementare Rechte zu verzichten, um so in den Genuss anderer Vorteile zu gelangen. Etwa ein störungsfreier Ablauf des Ganzen, feste Regelmäßigkeiten, Statik (4), Unbeweglichkeit (dieses System ist sehr konservativ), Selbstversorgung, keine Kriminalität etc.
Wenn man das Großstadtleben in gewissen Teilen der Welt oder in den Ballungszentren beobachtet, so kann man vielleicht nachvollziehen, warum diese vor allem in den USA einflussreichen Theoretiker zu solchen Vorschlägen über Glück und Steuerung des Ganzen kommen müssen.
b) Der psycholinguistische Ansatz etwa der neuen Frankfurter Schule um Jürgen Habermas geht von der Hypothese einer tief sitzenden Kommunikationsstörung aus(5). Das Problem der Akademie wird hier in den Bereich von Sprache, Reden, Argumentieren und Verstehen innerhalb der Gemeinschaft aller Sprechenden gelegt. Diese Schule hatte mit ihrem wissenschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Konzept großen Einfluss auf die antiautoritäre Bewegung der späten sechziger Jahre.
Als allgemeines Kennzeichen lässt sich die Verbindung von Psychoanalyse, Gesellschaftstheorie und Sprachanalyse anführen. Die Psychoanalyse wird als methodisches Modell mit den diagnostischen Mitteln Analyse, Kritik und Introspektion extrapoliert in die Sozialwissenschaften und dort für die Gesellschaftstheorie fruchtbar gemacht. Sprache, Sprachwahrnehmung und Sprechen werden nicht isoliert betrachtet im positivistischen Sinn als Objekt der Forschung, sondern immer nur im Kontext von und als Interaktion.
Sprache ist in diesem Sinn Kommunikationsmedium, wird verstanden und dient der Verständigung. Symptome wie Sprachstörungen, Kommunikations-Barrieren unter Menschen und Gruppen werden als Ausdruck und Symbol von Entfremdungsprozessen der Menschen untereinander verstanden, als Mittel zur Stabilisierung einseitiger Herrschaftsverhältnisse, zur Aufrechterhaltung von Ideologien etc. definiert.
Der Schritt vor der Sprachbetrachtung zur Gesellschaftstheorie ist deshalb zwangsläufig. Das psychoanalytische Modell der Veränderung durch Kritik, Bewusstmachung (Aufklärung) und Selbstreflexion wird in der Gesellschaftstheorie zum ideologiekritischen: Aufklärung durch Kritik, Bewusstmachung und Selbstreflektion, d.h. herrschaftsfreie Kommunikation und zwanglose Diskussion, besitzen nach Habermas auch in der Gesellschaftstheorie die analytische Kraft der Auflösung dogmatisch verfestigter Einstellungen. Gesellschaftstherapie endet so ebenso wie die Individualtherapie in einem Konsens über die Veränderung der Strukturen und des Sprachspiels.
Sprechen und Argumentieren läuft in diesem Konzept nun jedoch sehr schnell auf Überredung hinaus, auf Faktizität, richtiges Wissen und Information, Informiertsein, welches wichtige Machtfaktoren einer neuen Herrschaft darstellen. Nicht zuletzt werden auch dem Sophismus und skeptischen Isosthenien Tür und Tor geöffnet: Redefertigkeit und Rhetorik werden wieder wie in der Antike wichtig und für die Wahrheitsfindung ausschlaggebend. Sie sind lehr- und lernbar, können sich verselbstständigen, sind schließlich für jeden Zweck einsetzbar, auch wenn Sokrates und Platon das Gegenteil zu beweisen suchten.
c) Im Bereich von Philosophie und Ästhetik (etwa Stirlings Ansatz in der postmodernen Architektur) wird die dogmatische Beschränktheit der Akademie, die kein Anderes duldet und selbstherrlich auf ihren Positionen besteht, sie sogar mit den Mitteln von Verunglimpfung, Besserwisserei, Macht und Intrige verteidigt, dort wird sie als ein nutzloser Glaube an die Macht der Abstraktionen und des allgemeinen Denkens gedeutet. Abstraktionen seien Fiktionen, willkürliche Setzungen des Verstandes, wird eingewendet, ihnen entspräche keine Wirklichkeit im Detail. Schon gar nicht könne damit das Leben in seiner Vielfalt und seiner Fülle von Möglichkeiten und Formen erfasst werden.
Abstraktionen schlössen das Konkrete und Andere, welches sich nicht zu fügen bereit sei, aus; sie führten ein solipsistisches Eigenleben, basierend auf dem Glauben an ihre Existenz oder Wirksamkeit, ohne sich nach dem konkreten Einzelfall zu richten. Abstraktionen seien deshalb nichts mehr oder weniger als Kunst: Kunstgebilde, Artefakte, Erfindungen des schöpferischen Menschen. Selbst die Philosophie – gelegentlich wird sie auch als »Begriffsdichtung« bezeichnet – sei nichts anderes als eine weitere Kunstform im Bereich von Sprache und Vielfalt des Lebens, und eine eigene Diskurstheorie des philosophischen Sprechens sei bereits entwickelt worden.
Dies also drei Ansätze, die sich mit der zukünftigen Akademie auseinander setzen. Ausgeschlossen habe ich den orthodoxen Ansatz, die Macht der Akademie mit gewaltsamen oder terroristischen Mitteln brechen zu wollen; ebenso auch den anarchistischen, mit Destrukturierungen oder Dekonstruktionen ihre Bedeutung und ihren Einfluss im Bereich von Geist und Politik zu schmälern. Auch der literarische Ansatz Franz Kafkas, den dieser Zeit seines Lebens gepflegt hat, muss an dieser Stelle Erwähnung finden.
Nicht zuletzt seien auch wieder Musik und Kunst genannt. Sie können zwar nichts Wesentliches dazu beitragen, die Macht der Akademie zu schmälern. Sie bleiben aber doch immer wieder Spiegelbild und Ventil, um mit den Problemen, welche die Existenz der Akademie aufwirft und die uns alle in diesem Lebenslabyrinth immer wieder begegnen, auf einer anderen Ebene fertig zu werden.
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1 Der Vortrag wurde in gekürzter Form im Rahmen einer Konzertveranstaltung mit Neuer Musik in Stuttgart gehalten. Carol Morgan(Klavier) war Solistin.
2 B.F.Skinner, “Jenseits von Freiheit und Menschenwürde”(1973)
3 Aldous Huxley, “Brave New World”, London (1932)
4 Vgl. “Die Stahlstadt” (Blogbeitrag Nr. 36)
5 Jürgen Habermas, “Theorie des kommunikativen Handelns”(1981)
Erstveröffentlichung des Blogbeitrags in: Reinhold Urmetzer, “Musikästhetik Band 3” Musikbuch (2010)
Der Erinnerung an den argentinischen Komponisten und Konzertveranstalter Thomas
L u z i a n (1944-96)