96 Vom akademischen Manierismus in der Musik
Überkomplexe Musik (I)
Ich habe vom überkomplexen Denken gesprochen, von komplexen Gedanken, die in sich eine Dichte und Vielschichtigkeit, manchmal auch Mehrdeutigkeit enthalten, die in einem komplizierten und nicht zuletzt das Denken auch übenden (überfordernden?)Vorgang entschlüsselt, eingeordnet, richtig zugeordnet, d.h. verstanden werden wollen. Dieses Denken setzt Wissen, Fantasie und Sensibilität gleichermaßen voraus. Es will gar nicht eindeutig sein wie etwa die Mathematik, im Gegenteil. Wenn dann auch noch ästhetische Faktoren mitspielen, also Ideen des Schönen, der Form, Struktur und Gestaltung hinzu kommen, dann ist die “Komplikation”, wie man bei dem kunstvollen Inneren etwa einer Automatik-Uhr sagt, (ich bin ein großer Fan davon!) groß. Und damit auch der Weg frei für eine mehr oder weniger gelungene und zum Ziel führende Interpretation.
In der klassischen Musik der Moderne, nennen wir sie einmal so statt dem veralteten “Neue Musik”-Terminus, gibt es etwa seit 1945 die sogenannte “Serielle Musik“, auch Musikmathematik genannt. In Zusammenhang mit der Ideologie des “bewussten Hörens”, die insbesondere von den Anhängern Adornos gepflegt wird (wir sind an einer ganz anderen Stelle bereits ihm begegnet), hat sich in der Musikkomposition ein Denken entwickelt, welches der Struktur-Komplexität und dem Neuen allgemein höchste Aufmerksamkeit widmete.
In der Kunst, auch im Denken steht Komplexität sehr oft an höchster Stelle. Auch die Musikkomposition zeigt in Wellen der Musikhistorie eine immer größer werdende Komplexität in der Struktur. Höchste und fast nie wieder erreichte Komplexität in der Chormusik der Renaissance (Isorhythmische Motette) wechselt ab mit Einfachheit etwa beim Wechsel zum Frühbarock Monteverdis. Dies schließt meist auch einen erhöhten Schwierigkeitsgrad bei der Interpretation ein mit all seinen Folgen, vielleicht auch Kollateralschäden.
Wenn man spätromantische Partituren etwa von Reger oder Mahler betrachtet, wundert einen der Sprung Arnold Schönbergs zur rein mathematischen Komposition mit zwölf aufeinander bezogenen Tönen nicht mehr. Schönberg hat jedoch als Ausdrucks-Komponist der expressionistischen Kunstströmung und Welteinstellung nie die kunstvolle Struktur, sondern immer auch das zu Erklingende im Auge behalten. Im Gegensatz vielleicht zu seinem Schüler Anton Webern, bei dem die Pausen, also Stille und Nicht-Musik, immer wichtiger wurden.
Die seriellen Komponisten nach 1945, insbesondere Karlheinz Stockhausen und Karel Goeyvaerts – auch Olivier Messiaen und Pierre Boulez gehörten eine Zeit lang dazu – haben die mathematische Komplexität und kunstvolle Konstruiertheit der Struktur noch mehr in den Vordergrund gerückt. Die Musik wurde aufgespalten in vier „Parameter”: Tonhöhe, Rhythmik, Spielweise und Klangfarbe, die jeweils mit mathematischen Strukturen gekoppelt und in die Musikschrift übertragen worden sind.
Alle diese vier Parameter sind im Laufe der letzten Jahrzehnte und bis in die Gegenwart hinein mit schöner Regelmäßigkeit “ausdifferenziert” worden. Das bedeutet, dass sich vier Kompositionsrichtungen mittlerweile gebildet haben, die sich auf jeweils einen der Parameter spezialisieren bzw. diese etwa im Werk Karlheinz Stockhausens zu einer erstaunlichen Überkomplexität mischen.
Die Tonhöhenforschung etwa hat Viertel-und Achteltöne entdeckt und nebenbei dann auch noch außereuropäische Tonarten schätzen gelernt, etwa aus Indien oder Arabien. Neuartige rhythmische “Patterns” haben sich in der MinimalMusic entwickelt, Klangfarben und spieltechnische Experimente sind gegenwärtig tonangebend in Konzerten mit neuer Musik.
Die forcierte Entdeckung und Bevorzugung des “Neuen” auch in der Kunst allgemein hat sich darüber hinaus zu einem eigenständigen fünften Parameter entwickeln können: Nur das Neue ist gegenwärtig und ganz anders als in der Antike oder im Mittelalter das Gute, Faszinierende, historisch Wertvolle. Was aus dem Diktat dieses Parameters in der Kunst allgemein geworden ist, eine meist alles andere ausschließende Dogmatik, das ist all überall zu beobachten. Selbst im Alltagsleben hat sich im Gefolge eines alles beherrschenden Ökonomismus ein „Neuerungs-Fetischismus“ entwickelt.
Auch wenn mittlerweile die Avantgarde zur „Arrièregarde“ geworden ist und bereits von einem „Post-Avantgardismus“ gesprochen werden kann. Ähnlich dem „post-amerikanischen Zeitalter“, das immer wieder ausgerufen wird – vergeblich. Feste Strukturen lassen sich wie beispielsweise Institutionen oder Bürokratien auch in der Ästhetik nicht so schnell ändern. Erfreulicherweise, muss man trotz allem wohl sagen.
Am Ende der Entwicklung zu einem musikalischen Konstruktivismus, der alsbald in den 60er/70er Jahren eine Antithese hat entstehen lassen in Form von semi-dadaistischem Musiktheater(Kagel), improvisatorischer Musikgrafik (Bussotti, Haubenstock-Ramati, Karkoschka) und auch Klangfarben–Experimenten (Ligeti), die weiterhin bis in die Gegenwart wirken, steht das Werk von Brian Ferneyhough. Dieser Künstler – er lehrt immer noch in Freiburg an der Musikhochschule – begnügt sich in seinen teilweise unspielbaren Werken damit, dass gelegentlich nur 50% seiner Partituren realisiert, das heißt zum Klingen gebracht werden kann.
Die oben abgedruckte Seite gibt die Takte 57-59 der “Carceri d’Inventione” für Kammerorchester wieder. Da die zu erklingende Musik im Höreindruck infolge ihrer Komplexität austauschbar ist (nur darauf konditionierte Fach-Spezialisten werden Hör-Unterschiede oder gar Fehler im Spielen einer solchen Partitur bemerken), entscheidet über die Güte eines solchen Kunstwerks allein nur die Strukturanalyse.
Ich selbst habe mich als Interpret immer geweigert, eine solche Musik einzustudieren. Allein schon den ersten Takt im oben abgedruckten Beispiel mit einem der angegebenen Holzblasinstrumente spielen zu können, erfordert ein ewiges Lernen und Üben und Studieren, welches meiner Meinung nach die Sache nicht wert war. Zumal sich auch das Publikum immer mehr von einer solchen Musik abgewendet hat und desinteressiert zeigte. Das beweisen Eintrittspreise und Besucherzahlen solcher Konzerte bis in die Gegenwart hinein.
Stattdessen habe ich dann musikgrafische Partituren einstudiert, auch selber erfunden (Beispiele sind im Handel und in der edition weissenburg zu finden), bei denen das improvisatorische Element dem Interpreten Freiheit lässt. Dem Hörer fällt es dann leichter, den emotionalen Ausdrucksgehalt der Musik als gestalterisches Element eines Menschen, des Interpreten nämlich, nachzuvollziehen.
Anders als im überkomplexen Denken (damit meine ich nicht komplexe und meist auch neu entwickelte Fachsprachen der universitären Disziplinen) erschöpft sich eine derart artifiziell konstruierte Musik in einem Manierismus, der mittlerweile zahlreiche Nachahmer hervorgerufen hat, welche die Kompositionlehre an den Musikhochschulen in einem reinen und uneffektiven Akademismus haben erstarren lassen mit all den Konsequenzen, wie sie mittlerweile diskutiert werden. Dass Berufsaussichten (als moderner Komponist) in Frage gestellt werden, die weltweite Konkurrenz beklagt, ganze Fach-Abteilungen an den Musikhochschulen geschlossen werden sollen – dies alles zeigt nur wieder die Krise, in welcher sich die Kompositionslehre zeitgenössischer Musik und die moderne Klassik allgemein befinden.
Zusatz 5.Juli 2020.- Ganz zu schweigen von der international immer größer werdenden Ablehnung des Publikums, welches diese Art von Musik als ein Zeichen und Ausdruck von Leben, wie es ist, war oder sein könnte, mittlerweile ganz ablehnt. Denn nur das will Kunst: ein Leben zeigen, wie es ist, war oder sein könnte, sein sollte.
Ein Liebesbekenntnis etwa, atonal und musikmathematisch vertont, klingt einfach künstlich und unglaubwürdig. Und man frage bitte nicht nach, was Liebe in der Musik zu suchen habe. Sehr viel sogar.
Zusammen mit einer rigiden und fast schon leninistisch ausgerichteten Adorno-Dogmatik in den Ausbildungsstätten unserer Hochschulen (Entschuldigung) fristet diese Musiksprache, die sich dem Sprechen fast ganz entzogen hat und permanent Dolmetscher braucht, ein kümmerliches Dasein in einer angestaubt und weit abgelegenen Ecke. Es ist tatsächlich ein Jammer. Eine so altehrwürdige Kunst wie die Musik-und Kompositionslehre wird in einer vollkommen monetarisierten Gegenwart billigen Effekten, modernen Computer-Apparaturen und einer Massen-Manipulation überlassen (Pop-Kultur), die nicht menschenwürdig ist.
Vgl. Nr.99 „Einfach in die Zukunft“