115 Niklas Luhmann II (Interview)
Leerräume füllen
Die Philosophie der Moderne am Wendepunkt
Niklas Luhmann, Jahrgang 1927, Hegel-Preisträger der Stadt Stuttgart, studierter Jurist, Soziologe und Systemtheoretiker zugleich, scheint souverän über allen Lagern der Gegenwartsphilosophie zu schweben. Bekannt geworden durch seine Kontroverse mit Jürgen Habermas („Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung“ 1971), wird er mittlerweile sogar zu den Diskussionen der französischen Vordenker der Postmoderne eingeladen. Gleichwohl fühlt er sich jedoch, nach eigenen Angaben, auf dem Boden der anglo-amerikanischen analytischen Philosophie immer noch am wohlsten.
Um etwas Neues sagen zu können, muss man eine neue Sprache erfinden. Dies war die These von Karl Otto Apel im Gespräch. Das folgende Interview stellt eine neue Sprache vor, die Sprache der Systemtheorie. Sie ist von Niklas Luhmann wesentlich mitbegründet worden. Selbst die Schule der “Konstruktivisten” (das gibt es auch in der Philosophie) beruft sich gelegentlich auf ihn.
Das in Ludwigsburg geführte Gespräch mit Luhmann greift die von Francois Lyotard in den internationalen philosophischen Raum gestellte Frage nach dem aufklärerisch-modernen und dem postmodernen Denken wieder auf.*
Reinhold Urmetzer: Herr Luhmann, beginnen wir mit der gleichen Frage, die ich auch an François Lyotard gerichtet habe: Sind Sie ein postmoderner Philosoph?
Niklas Luhmann: Ihre Frage hat zwei Seiten. Einerseits haben meine Vorstellungen selbst in der Theorie post-moderne Züge. Das heißt, sie lassen alles auch in eine Paradoxie zurücklaufen, sie nehmen an, dass es keine Prinzipien mehr gibt, über die man sich auf der Meta-Ebene für alle gültig verständigen könnte.
Andererseits bin ich der Meinung, dass wir in der modernen Gesellschaft leben und nicht in einer postmodernen. Wir hatten zu diesem Thema im September 1995 in Bloomington eine Tagung, „Systems theory and postmodernity“.[1] Auch diese Irritation gehört dazu, dass ich sage, wir leben in einer modernen Gesellschaft, aber wir brauchen sogenannte „postmoderne“ Theorien.
Ich bin jedoch mit Francois Lyotard einer Meinung, der den Ausdruck „postmodern“ nicht für seine glücklichste Erfindung hält.
R.U.: Wie erklären Sie sich den gegenwärtigen Erfolg von Lyotard, Derrida, Baudrillard und anderen französischen Schriftstellern, nennen wir sie nun einmal so.
N.L.: In Amerika?
R.U.: Ja. In Deutschland weniger, aber doch in Frankreich, Italien, Japan, den USA.
N.L.: Ich habe den Eindruck, es hängt mit der Füllung eines L e e r r a u m s an theoretischer Orientierung zusammen, den die analytische Philosophie erzeugt hat. Als Philosoph hat man das Gefühl, durch diese analytische Schule muss ich hindurch, man muss sorgfältig argumentieren. Aber andererseits kommt man da so leicht auch nicht wieder heraus.
Anlässlich einer Diskussion mit Derrida in New York in einem wesentlich feministischen Kreis habe ich in zehn Minuten Systemtheorie zu erklären versucht, und Derrida entgegnete, die Bedingung der Möglichkeit von Systemtheorie sei, dass es gar keine Systeme gäbe.(Lachen)
R.U.: Eine Provokation der Derridadaschen Art?
N.L.: Ja. Für die Studenten war das nur ein Ausweichen vor dem Problem. Bei den Juristen, den Literarturwissenschaftlern und anderen spielt Derrida jedoch eine große Rolle.
R.U.: Vielleicht füllen die Dekonstruktivisten die eben angesprochene Leerstelle. Ist die Dekonstruktion, ist der Dekonstruktivismus nur eine Mode?
N.L.: Wenn Philosophie eine Art Kultur ist, dann gibt es auch Moden. Ich denke jedoch, dass die Dekonstruktion der Dekonstruktivisten noch nicht weit genug getrieben worden ist. Die Basis ist im Grunde der performative Widerspruch in jeder Kommunikation, dass man einen r e p o r t – und einen c o m m a n d – Aspekt hat, wie Psychiater sagen. Oder die Tatsache, dass die Mitteilung selbst die Information desavouieren kann.
Gerade im politischen Bereich wird dies besonders deutlich. Es kommt immer darauf an, eine Unterscheidung zu treffen, die als Einheit paradox ist: die Einheit des Unterschiedenen, die Selbigkeit des Unterschiedenen.
Andererseits sind aber auch die Entparadoxierungs-Strategien notwendig, weil man sich mit der Paradoxie selbst blockiert.
R.U.: Das sagen Sie nun als Europäer. In Kalifornien würde man gut taoistisch oder buddhistisch die Paradoxie schätzen im Sinne von Gegensätze aushalten lernen, nicht Gegensätze angleichen, Konsens bilden und so weiter. Das fernöstliche Denken breitet sich immer mehr aus, habe ich den Eindruck. Gegensätze, Wiedersprüche werden als positiv eingeschätzt, selbst wenn man davor kapitulieren, resignieren muss.
N.L.: Ich würde dieses Denke innerhalb der Religion akzeptieren, aber nicht, wenn man ein großes Unternehmen leitet, Pläne für die nächste Wahlkampagne macht oder Studenten überzeugen will. Als Religion und im Sinne des Buddhismus das Vermeiden von Unterscheidung, ja.
Ich habe einen japanischen Studenten kennengelernt, der diese Ja/Nein-Struktur als ganz europäisch-rational bezeichnet hat, der Japaner denke einfach nicht so. Andererseits, was wird er sagen, wenn der Yen zu teuer wird… (Lachen).
R.U.: Vielleicht machen wir den Fehler, das eine gegen das andere ausspielen zu wollen. Beides geht. In bestimmten Fällen ist Ihre Position gut zu vertreten, in anderen Fällen stimmt aber auch das Gegenteil.
N.L.: Ich finde, dass Religion der Platz ist, wo man dies reflektieren kann.
In der modernen Gesellschaft gibt es eine Art von Unterlaufen der Notwendigkeit, immer etwas auszuschließen, wenn man etwas bejaht oder verneint. Man muss immer eine andere Seite mitdenken, die man nicht bezeichnen kann, oder die Wahl eines f r a m e treffen, einer Unterscheidung, an welcher Stelle man zu einem anderen f r a m e übergehen kann. Aber dann muss wieder eine Unterscheidung getroffen werden.
R.U.: Den Satz vom ausgeschlossenen Dritten oder den Satz vom Widerspruch würden Sie nur im Rahmen der Religion diskutieren? Sind das nicht eher logische als religiöse Fragen?
N.L.: Es gibt logische Theorien, die sagen: Es gibt ja und nein und unentschieden, es gibt die Unterscheidung unentschieden und nicht unentschieden und so fort. Aber soweit ich sehe, kommt die Logik doch immer wieder zurück auf ein Dies und ein Nicht-Das.
In der Schule muss man Zensuren geben, man kann die Prätention, etwas Richtiges beizubringen, nicht durchhalten, wenn man es ablehnt, auf Unrichtiges zu reagieren. Es ist schon denkbar, dass das eine europäische Ausgangsbasis ist.
Aber ich sehe nicht, wie man diese binäre Codes anders transzendieren könnte als in der Religion, wo Fragen wie „Ich mische mich in die Welt nicht ein“ (die asketische Beziehung) oder die neo-stoische Haltung (mir passiert eine Unterscheidung, dir passiert eine Unterscheidung, es kommt darauf an, die Würde nicht zu verlieren) ihren Platz haben.
R.U.: Sie rechnen die stoische Philosophie zur Religion?
N.L.: Die Stoa ist eine philosophische Position, die in mancher Hinsicht nicht als religiös bezeichnet werden kann. Aber wenn es das Christentum nicht gegeben hätte, wäre die Stoa die Religion der Zeit geworden.
R.U.: Diskutieren wir an dieser Stelle die skeptische Schule der späten Kaiserzeit in Rom. Jeder These lasse sich eine ebenso beweisbare oder überzeugende Gegenthese, eine gleichermaßen gut begründbare Antithese gegenüberstellen. Sextus Empiricus hat sich fast ein Spiel daraus gemacht, solche Isosthenien zu entwickeln. Kann man sagen, dass sich jeder These eine gleichermaßen gut begründbare Antithese gegenüberstellen lässt?
N.L.: Ich habe Schwierigkeiten mit der Formulierung j e d e These. Es gibt das Antinomienproblem, und wenn man weiß, wie eine Theorie konstruiert ist, kann man auch sehen, was passiert, wenn man es an bestimmten Punkten anders macht. Aber ich glaube nicht, dass die Skepsis, die letztlich darin besteht, Alternativ-Konstruktionen anzubieten, überzeugen kann.
Es gibt in einem sehr frühen Jenaer Test von Hegel eine Formulierung über Skeptizismus, wo es heißt, jedes philosophische System habe eine f r e i g e l a s s e n e S e i t e. Damit ist noch nicht gesagt, dass dort eine Theorie entstehen könnte. Wenn ja, ok. Aber dann hat man wieder das Problem, dass diese oder jene Konstruktion wieder etwas ausschließt, indem man den Vergleichsrahmen auf das Problem bezieht.
Was den Skeptizismus angeht, so würde ich diese Formulierung („freie Stelle“) einer philosophischen Alternative vorziehen.
R.U.: Lyotard spricht von “Erzählungen“. Behauptungen, Diskurse, Theorien, alles seien nur „Erzählungen“. Er akzeptiert die argumentative Sprache, glaubt auch an den Sinn von Diskussionen. Aber es gibt Grenzen für den argumentativen Diskurs[2]. Muss alles offen bleiben für das Argument?
N.L.: Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff des Diskurses. Ich denke, dass jeder Diskurs, wenn wir das Wort nun einmal vorläufig akzeptieren, mit bestimmten Unterscheidungen zu tun hat. Dass man also im moralischen Diskurs zwischen gut und schlecht unterscheidet, dass man Sein/Nichtsein, endlich/unendlich, Gesellschaft/Natur, Mensch/Tier, solche Primärunterscheidungen akzeptiert.
Dann hat man das Problem, dass man im Diskurs die Grenze, die Unterscheidung, die Trennungslinie überspringen kann, sie kreuzt. Man kann aus diesem Diskurs rausspringen und sagen, warum unterscheiden wir gerade Gesellschaft und Natur, warum reden wir nicht von nützlich/schädlich, warum führen wir nicht einen ästhetischen Diskurs über passend/unpassend durch. In einer kontrollierten Kommunikation gibt es immer die Möglichkeit, einen Seitenwechsel zu vollziehen.
Warum ist zum Beispiel im feministischen Diskurs gerade die Mann/Frau-Unterscheidung so wichtig, die Behandlung von Frauen durch Männer war zwar immer Kultur, ist aber nicht immer kultiviert gewesen. Ist das denn überhaupt ein Problem, warum soll im täglichen Verkehr gerade diese Unterscheidung so wichtig sein. Warum ist es nicht völlig gleichgültig, ob ein Mann oder eine Frau diesen oder jenen Posten besetzen wird.
Oder betrachten Sie die künstlerische Arbeit. Es ist immer die Frage, springt man aus der getroffenen Unterscheidung raus, hat man Präferenzen, von der einen Seite zur anderen überzugehen und warum.
In Lyotards Diskursbegriff würde das nicht gehen, denn er meint, l e d i f f é r e n d sei der im Diskurs selbst erzeugte Gegensatz oder „Widerstreit“, wie übersetzt wird.
R.U.: Glauben Sie an die Wirksamkeit der argumentativen Sprache, an das Argumentieren mit Begriffen?
N.L.: Ja. Nicht jedoch im Sinne einer Finalität, die irgendeinmal eine überzeugende Lösung bringt, aber doch im Sinne einer Beweglichkeit, die durchsichtig macht und durchsichtig ist, so dass man weiß, wie man es auf nicht beliebige Weise auch anders machen könnte, wenn man einen bestimmten Stein aus dem System herausbricht.
R.U.: Wie lösen Sie das Problem, dass derjenige, der besonders rhetorisch geschult ist, andere überreden kann zu dem, was er will. Dies auch als ein Argument gegen die kommunikative Theorie von Habermas, gegen seine Vorstellungen von herrschaftsfreiem Sprechen, Diskussion, Konsensbildung – die besten Sophisten sind wieder die Sieger. Das philosophische Problem der Wahrheit wäre letztlich nur eines der Rhetorik.
N.L.: Es gibt zwei Stränge in der Tradition: Die Linie Cicero/Quintilian, wo der Rhetoriker letztes Endes auch von der Sache überzeugt sein muss, die er vertritt, und die Linie der Alleskönner. Ich bin nicht sicher, ob mit dieser Unterscheidung das Potential der Rhetorik erschöpfend bezeichnet werden kann.
Sie sehen, wieder ist alles eine Frage der Unterscheidung. Und ob es nicht gerade diese Unterscheidung war, an welcher die Rhetorik später dann gescheitert ist, nachdem es Wissenschaft gab und man die Rhetorik aufgegeben hatte.
Es stimmt faktisch heute einfach nicht, dass Politiker alles über Rhetorik erreichen könnten. Gerade dieses Alleskönnen wird schnell in der Öffentlichkeit wieder nur als eine F o r m angesehen. Man verspricht alles, hat für alles gleichsam eine nichtssagende Formulierung.
Gerade unter demokratischen Bedingungen, wo verschiedene Rhetoriken nebeneinander laufen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man gegen die Form, gegen Rhetorik überhaupt reagiert und sich nicht beeindrucken lässt. Der Manipulationsverdacht ist ja gerade in den Massenmedien generell.
Und trotzdem: Wenn etwas über die Serben gesendet wird, glauben wir, das etwas gesendet wird.
R.U.: D a s s gesendet wird, ja. Aber w a s gesendet wird, glaubt man weniger.
N.L.: Ich bin da nicht so sicher. Der Manipulationsverdacht ist generalisiert, aber nicht effektiv.
R.U.: Sollen wir als machtbewusste Politiker und Sozialtechnologen neue Schulen der Überredungskunst gründen? Berlusconisten ausbilden mit entsprechendem Knowhow, mit Fähigkeiten, psychologischen Taktiken, NLP-geschult, Bild-tauglich, Charisma- und Medien-fit? Das Problem der Überzeugung, der Überredung ist damit erfolgreich instrumentalisiert.
N.L.: Was Sie hier entwerfen, ist ein typischer Fall von Derridas Dekonstruktion. Wenn man das machen würde, wäre es jedoch meiner Meinung nach kontraproduktiv.
R.U.: Als künstlerische Provokation jedoch nützlich. Vielleicht lässt sich nur noch auf diese Art und Weise ein Problem bewusst machen. Eine ironische Idee, die den Blick in eine Richtung lenkt, wo etwas gemacht werden müsste.
N.L.: Eine wichtige Frage ist dabei jedoch, ändert Entlarvung etwas oder ändert Entlarvung nichts.
R.U.: Baudrillard würde ironisch von einer „Ekstase der Entlarvung“ sprechen. Außer dem Dementi oder der Gegendarstellung gibt es keine weiteren Folgen.
N.L.: Entlarvung besitzt einen Eigenwert. Man muss im Bereich des Nichtwissens operieren, man muss Wissen prätendieren und behaupten, den richtigen Weg zu kennen oder das richtige Tun zu wissen, obwohl man weiß und es die Öffentlichkeit auch weiß, dass das nicht der Fall sein kann. Denn vor dem Hintergrund, dass wir die Zukunft nicht kennen können, vor diesem Hintergrund ergibt sich dann auch die R e s i s t e n z gegenüber Entlarvung. Man kann alles entlarven. Wozu eigentlich?
R.U.: Es gibt in der Philosophie bestimmte Strömungen mittlerweile, die Aufklärung, die selbst den Humanismus allgemein ablehnen. Eine neue Art von Irrationalismus oder Anti-Rationalismus. Vielleicht gehört auch Derrida mit seiner „Logozentrismus“-Kritik als Vorreiter dazu. Gibt es gegenwärtig eine neue Einschätzung der Epoche „Aufklärung“ und dem aufklärerischen Denken oder dem Rationalismus gegenüber?
N.L.: Zeitbedingt scheint mir die Erwartung gewesen zu sein, dass sich Individuen rational disziplinieren könnten. Dieser Zusammenhang von Freisetzung des Individuums für eigene Urteile über Sicherheit oder Geschmack. Die Vorstellung also, das Individuum – auch das Genie, nebenbei bemerkt – könnte sich rational disziplinieren. Alles, was dem Individuum einfällt, hätte eine innere, eine inhärente Selbstkontrolle.
Ich glaube, das ist eine Denkfigur, die damit zusammenhängt, dass der moderne Begriff des Individuums benutzt wurde, um alte Sozialeinteilungen zu unterlaufen und dass er dann ortlos oder einschränkungsbedürftig geworden ist. Insofern denke ich, dass das eine für heute nicht mehr ganz zutreffende Figur ist.
Wir sind nicht nur eine kultivierte Schicht von Individuen, die sich über Ruf oder was auch immer wechselseitig kennen und beeinflussen lassen, sondern wir sind fünf oder sechs Milliarden Menschen, und wir können uns auch das Tempo nicht einmal vorstellen, mit dem sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern. Irgendwie können viele Probleme über eine rationale Domestikation einfach nicht gelöst werden.
Andererseits sollte keine kommunikative Ordnung darauf verzichten, mehr Durchsichtigkeit und Transparenz zu erzielen. Was muss ich sonst noch ändern, wenn ich dies ändere. Also man sollte eine Kontingenz von Formen anstreben, die wechselseitige Belastung der Funktionssysteme berücksichtigen, was bedeutet die Entwicklung der Wirtschaft für die Politik zum Beispiel. Man könnte sehr viel mehr durchsichtig machen. Es geschieht gerade in der Soziologie gegenwärtig, und man könnte damit auch unnötige Aufregungen beruhigen.
Anfang der 70er Jahre wollten die Studenten alles ändern. Ich habe also das Bürgerliche Gesetzbuch mitgebracht, die erste Zeile vorgelesen und gefragt: Wollt ihr das ändern? (Lachen). Oder wollt ihr das nicht ändern? Nächster Satz und sofort. Dies alles, um vorzuführen, man kann zwar ändern, aber was würde dann stattdessen an die Stelle treten?
In diesem Sinne denke ich schon, dass wir eine gesellschaftliche Situation haben, die viel mehr disponibel ist, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Aber andererseits ist auch alles mit Unwissen, Risiken, unvorhergesehenen Folgen gekoppelt. Da kann man sehr viel mehr Durchsichtigkeit und Transparenz vor dem Hintergrund vollständiger Intransparenz hineinbringen.
R.U.: Vollständige Intransparenz – ist das die Gegenwart?
N.L.: Ja. Dass man die Zukunft nicht kennt. Personen repräsentieren gleichsam das Unbekanntsein der Zukunft. Das Interesse an Zukunft und das Interesse an Personen, an Symbolen, soll verdecken, dass wir die Zukunft nicht kennen. Bei Kohl, Mitterand, Chirac glauben wir die Personen zu kennen und glauben dann sogar, die Zukunft zu kennen. Das ist absoluter Unsinn. Gorbatschow ist das beste Gegenbeispiel für Zukunftsprognosen.
Je mehr wir Strukturentwicklung von Entscheidungen abhängig machen, umso mehr erhöhen wir die Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Zukunft, umso mehr müssen wir in Aussicht stellen, dass auch in der Zukunft, am nächsten Tag wieder Entscheidungen fallen. Wir können aber nicht wissen, wie diese ausfallen, so dass es innerhalb von Stunden, Tagen, Monaten, Jahren zu einer vollkommenen Intransparenz der Zukunft führen kann. Das Wissen darum erhöht freilich den Gegenwert der Transparenz wieder.
R.U.: Ist unsere moderne Gesellschaft so unübersichtlich? – Zerfällt alles in Vielheiten, isolierte Sprachspiele, unterschiedliche Diskurse, Einstellungen, Haltungen, subjektive Entscheidungen? Glauben Sie, dass es in diesem Pluriversum keine Einheitlichkeit mehr geben kann?
N.L.: Das klingt so, als ob es ein objektives Urteil darüber geben könnte. Ich denke, dass wir eher davon ausgehen müssen, dass es verschiedene B e o b a c h t e r gibt, die alle ihre Konstruktion, Dekonstruktion oder Rekonstruktion, ihre Beschreibungen haben und dass wir immer, wenn wir eine Aussage über die Realität machen, erst einmal den Beobachter-Status wählen müssen. Das können wir selber sein, als Theoretiker zum Beispiel, von dessen Standpunkt etwas so aussieht und nichts anders.
Man kann aber nicht ausschließen, dass bei einem Standpunktwechsel oder einer anderen Antwort auf die Frage, wer ist der Beobachter, ganz andere Sachverhalte erzeugt werden. Das würde ich an die Stelle einer objektiven Aussage über die Welt oder die Gesellschaft, wie sie ist, setzen und dann auch die Frage, was Realität ist, entsprechend als Beobachter-relativ reformulieren.
R.U.: Glauben Sie, dass der Individualismus an einem Ende angekommen ist? Sie haben von Selbstverwirklichung gesprochen, den Begriff im Vortrag[3] fast ironisiert. Ist damit auch die Idee der individuellen Selbstverwirklichung an einem Ende angekommen?
N.L.: Am Ende ist die soziale Funktion der Semantik des Individuums in dem Sinne, dass man auf das Individuum zurück geht, um einen Standpunkt zu haben, von dem aus man gesellschaftliche Strukturen infrage stellen oder ändern könnte, indem man sie durchsichtiger macht, sie auf Interessen bezieht und so weiter, sie also im Sinne eines Utilitarismus verbessern zu könne glaubt. Die soziale Funktion der Semantik des Individuums ist wirklich am Ende.
Aber trotzdem und gerade deshalb ist jeder Mensch als Seele/ Geist/ Körper immer noch ein System-Konglomerat, das seinen eigenen Weltsinn erzeugt. Dies sind Sachverhalte, mit denen die Gesellschaft rechnen muss.
R.U.: Liegt das Potenzial für Selbstverwirklichung im Konsumismus oder Anti-Konsumismus?
N.L.: Das kann durch die Gesellschaft selbst nicht festgelegt werden. Das Individuum selbst legt es fest. Der moderne Individualismus ist für mich eine Selbstbeobachtung zweiter Ordnung: Ich beobachte, wie ich beobachte.
Auch in der Sprache wird dies deutlich. Wenn man hört, wie manche Amerikaner über Sachverhalte reden, dann habe ich immer das Gefühl, sie reflektieren, dass sie beobachten. Sie vermeiden zum Beispiel Absolutsetzungen, die Formulierung von richtigen Standpunkten für andere. Da liegt natürlich auch eine gewisse englische Tradition drin. Oder die Studenten sagen: „Das würde ich sagen“. Solche Standardformeln zeigen, ich bin jemand, ein Individuum, das spricht, aber im Konjunktiv.
Es ist empirisch nicht möglich, zu einer Gesamtaussage über die Individuen der modernen Gesellschaft oder über den Menschen zu kommen. Aber das bedeutet für die sozialen Prozesse auch, dass so etwas wie eine öffentliche Meinung gar nicht als die Meinung der Individuen gesehen werden kann.
R.U.: Was ist die öffentliche Meinung dann?
N.L.: Die öffentliche Meinung ist einfach eine Summe von kognitiven Formeln, die sowohl von Individuen als auch von Politikern und anderen gesellschaftlichen Gruppen stammen.
R.U.: Ist die öffentliche Meinung eine Fiktion der Schreiber, Reporter, Dolmetscher, der Journalisten?
N.L.: Sie ist eine Fiktion insofern, als man simuliert, es sei die Meinung von irgendwelchen konkreten Individuen. Sie ist keine Fiktion, wenn man meint, es seien publizistische Tatsachen, die man zu kennen glaubt und auf die man zu reagieren hat. Ein Politiker, der die Zeitung noch nicht gelesen hat, der kann sich nur mit Geschick aus der Affäre ziehen. Aber es ist zumindest sinnvoll, sich auf dem Laufenden zu halten für einen Politiker.
Das gilt auch für den Wissenschaftler. Er muss sich laufend auf Kongressen und wissenschaftlichen Zeitschriften informieren. Das bedeutet jedoch nicht, sich darüber zu informieren, was sich in der Köpfen der Kollegen abspielt oder vor sich geht. Insofern ist die öffentliche Meinung ein Gebrauch von c o g n i t i v m a p s oder s c r i p t s, „Genre“ nennen dies die Rhetoriker, an die man anschließen kann, die man verwenden kann, um Motive zu postulieren.
R.U.: Sollen sich die Marketing-Menschen an die öffentliche Meinung „anschließen“, an deren Gestaltung, Bildung, Vermittlung, Verpackung?
N.L.: Das geschieht sowieso. Ich denke, die Werbung, die Werbebranche hat speziell im Kontext der Massenmedien eine Rolle, die schwer zu ersetzen ist. Und zwar die Leute ohne Geschmack mit Geschmack zu versorgen. Dass die Leute endlich wissen, dass die Autos jetzt rundlich sein müssen. (Lachen).
Das Gespräch mit Niklas Luhmann wurde von Alexandre Herrmann vom Tonband-Manuskript in den Computer übertragen
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* Das Interview wurde im Auftrag der Berliner taz geführt. Es fand im Rahmen eines während der Ludwigsburger Festspiele veranstalteten Symposiums über “Markt und Sinn” 1995 statt. Über die Entstehung und Entwicklung des Gesprächs (es gibt noch zwei weitere Teile) vgl. meine Publikation “Gespräche mit Zeitgenossen”, in der u.a. Interviews mit Jean Francois Lyotard, Olivier Messiaen, Wolfgang Rihm, Jean Pierre Dubost, Helmut Lachenmann und anderen gesammelt sind und die demnächst wieder veröffentlicht werden. – Vgl. auch das Gespräch mit Jean François Lyotard: “Wie vernünftig ist die Vernunft?” (Nr.19 im Blog)
[1] Eine Veröffentlichung ist in der Zeitschrift Cultural Critique / Heft 30 und 31 (1995) erschienen.
[2] „Wie vernünftig ist die Vernunft?“ – Francois Lyotard im Gespräch mit Reinhold Urmetzer. In: Die Tageszeitung Nr. 2353/ 4.11.1987
[3] Das Gespräch fand während eines Symposiums über „Markt und Sinn“ in Ludwigsburg 1995 statt.