116 Niklas Luhmann I
Niklas Luhmann ist 1998 siebzigjährig plötzlich und unerwartet gestorben. Dennoch scheint sein Werk alle philosophischen Moden und Strömungen der Zeit überlebt zu haben. Munter und frisch und einflussreich bewegen sich seine Gedanken auch heute noch in der Öffentlichkeit, in den universitären Zirkeln, im Denken der Privatgelehrten. Luhmanns umfangreiches Wissen, seine Offenheit konträren geistigen Strömungen der Zeit gegenüber scheint unübertroffen. Auf der einen Seite die angelsächsische „Analytische Philosophie“, welche wissenschaftstheoretisch mittlerweile zu einer einflussreichen, ja fast schon international den Ton angebenden philosophy of science, das heißt einer Philosophie des technischen Denkens, der Naturwissenschaften, auch der Ökonomie geworden ist.
Auf der anderen Seite, im deutschsprachigen Raum, die „Kritische Theorie der Gesellschaft“, die im Anschluss an das für die Studentenbewegung der 60er Jahre so wichtige Frankfurter Institut für Sozialforschung (um nur die Namen Horkheimer und Marcuse zu nennen) die Umwandlung der Gesellschaft im Sinne von politisch linken und auch grün-alternativen Überzeugungen betreiben wollte.
Luhmann hat in diesem Streit, der in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts noch durch die postmoderne Philosophie der französischen Autoren Lyotard, Baudrillard oder Derrida (um auch hier nur einige wenige zu nennen) eine einflussreiche weitere Stimme und Bereicherung gefunden hat, einen eigenen Weg gefunden, der die Skepsis politischen Ideologien oder postmodernen Anschauungen gegenüber einschließt[1].
Im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht die nüchterne Beschreibung von Wirklichkeit im Sinne einer Struktur, auch eines dynamischen Systems. Seine Lehre nähert sich gelegentlich Strömungen des aktuellen Konstruktivismus, ohne gleichwohl damit identisch zu sein. Bereits 1968 hat Luhmann zusammen mit Jürgen Habermas ein einflussreiches Buch, die Wissenschaftstheorie betreffend, herausgegeben („Was leistet die Systemtheorie“)und sich mit Problemen der Wissenschaftskritik (Habermas) ebenso kenntnisreich auseinandergesetzt wie später mit dem Dekonstruktivismus des französischen Philosophen Jacques Derrida.
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Unser Gespräch fand 1995 im Rahmen eines Symposiums über „Markt und Sinn“ in Ludwigsburg statt[2]. Man wird sich fragen, wie eine solche philosophisch-ökonomische Thematik in die Programmgestaltung eines international bekannten Musikfestivals unter der Leitung des Dirigenten, Musikhochschulleiters und Kulturpolitikers Wolfgang Gönnenwein gelangen konnte. Die Veranstaltungsreihe der „Ludwigsburger Festspiele“ dauert auch heute noch einige Monate und sie stellt ihre Bedeutung für die Kultur der Gegenwart immer wieder unter Beweis. Den inhaltlichen Schwerpunkt hat sie aber in der Musik.
Nun hatten und haben gegenwärtig immer mehr Festivals eine Zielgruppen-Problematik. Welches Publikum soll angesprochen, wie können die Räume gefüllt, Gewinne erzielt und die Unkosten in Grenzen gehalten werden. Auch Ludwigsburg erweiterte schon damals den engen Klassik-Rahmen innerhalb seiner Musik-Auswahl und das Programm öffnete sich einem breiteren Publikum, welches Jazz-und Popmusik nicht mehr ablehnte. Ein kleiner experimenteller Versuch innerhalb der Programm-Vielfalt war der Gedanke, ein Symposium in das Festivalgeschehen einzubauen, das sich mit wichtigen Fragen der Zeit beschäftigte. In unserem Zusammenhang ging es um die übermächtig werdende Bedeutung der Ökonomie, auch des ökonomischen Denkens[3].
Um die Worte der Festival-Macher 1995 zu zitieren: „Mit dem ‚Sieg‘ des westlichen Wirtschaftssystems ist der ‚Markt‘ zunehmend zur dominanten Referenzebene für Werte geworden. Tatsächlich lässt sich beobachten, dass Kategorien des Marktes immer stärker auch auf Bereiche angewendet werden, die traditionell selbständige Wert-und Realitätskategorien hatten.“ Auch für Kunst und Kultur stelle sich heute zunehmend die Frage, „wie man die eigene Person danach modelliert, wie sie sich ‚verkaufen‘ lässt“. Im Kunst-und Kulturbetrieb bekämen „marktspezifische Erfolgskriterien einen immer größeren Stellenwert“. Das Symposium wollte diese Tendenzen nun aus „künstlerischen und wirtschaftlichen, sozialen und wissenschaftlichen Blickwinkeln kontrovers diskutieren“.
Ich hatte den Bielefelder Universitäts-Gelehrten persönlich noch nicht kennengelernt, obgleich seine Bücher und sein Einfluss mir bekannt waren. Dennoch war ich überrascht über den Zuspruch an Besuchern, den die Luhmann-Veranstaltung fand. Eher jüngere Menschen, auch Studenten, Banker, Wirtschaftsleute hatten sich im prachtvollen Marmorsaal des Ludwigsburger Schlosses eingefunden und lauschten dem etwa einstündigen Vortrag Luhmanns zum Thema „Sinn der Kunst und Sinn des Marktes – zwei autonome Systeme“.
Dieser „Auftritt“ hatte mich fasziniert. Immer, wenn ich von einem Thema persönlich und direkt gepackt war, auch von einer Persönlichkeit, die zu überzeugen verstand, versuchte ich, mit dieser Person in Kontakt zu kommen. Sei es als Schüler, als Leser, Hörer oder – noch besser – in diesem Fall über ein Interview. Für die Deutsche Presse-Agentur dpa und ihre Redakteurin Sibylle Peine hatte ich einen auf wenige Zeilen nur reduzierten Bericht zu liefern. Für die Berliner taz wollte ich ein längeres Gespräch führen. Da ich zuvor auch schon ein Interview mit Jean François Lyotard dort veröffentlicht hatte, war der Zugang leicht. Auch meine Bekanntschaft mit Karl Otto Apel trug wohl dazu bei, dass mich Luhmann als Gesprächspartner akzeptieren konnte. Außerdem kündigte ich die gleichen Fragen an, die ich auch Lyotard gestellt hatte. Vorab bekannt waren meine Fragen jedoch nicht.[4]
Das Gespräch fand in einer Pause während des Symposiums im Ludwigsburger Schloss statt. Eine Zeitbegrenzung, wie sie gelegentlich später bei meinen Terminen und mittlerweile oft vorgegeben wurde, war nicht vorgesehen.
Jetzt, im Rückblick betrachtet, war dieses Zusammentreffen mit Niklas Luhmann eines der angenehmsten überhaupt. Ein kleiner Mann im Jackett und ohne Krawatte mit heller Stimme und blitzenden Augen sitzt mir gegenüber, humorvoll, gut gelaunt, dann und wann neugierig mich anblickend und zurückfragend, der ein Universum an Wissen in sich versteckt hält, das scheinbar alle Teilgebiete des menschlichen Geistes und der Philosophie einschloss, sogar Musik und Kunst.
So spontan, emotional und erfreulich das Gespräch auch verlief – es hatte doch eine negative Seite. Meine später nachfolgende Tonbandbearbeitung war ungleich schwieriger und aufreibender. Luhmanns Sprache war gerade infolge ihrer Emotionalität und Spontaneität voller Füll-Wörter, mit Satz-Unterbrechungen, Satz-Abbrüchen, Sprüngen, welche die direkte Kommunikation zwar erleichtern und effektiver machen. Sie jedoch in Schriftsprache zu übertragen, war fast schon eine Übersetzungsarbeit und ungleich schwieriger.
Philosophen haben, ja sollten m.E. vielleicht sogar eine eigene Sprache finden. Etwas Neues zu sagen, zu entdecken im Reich des Geistes bedarf vielleicht tatsächlich einer neuen Sprache. Und dies gilt nicht nur für die Geisteswissenschaften. Ich war dennoch wieder in einem Zielkonflikt, in einem bekannten Dilemma. Sollte ich zu übersetzen versuchen, Übersetzer spielen, das heißt meine Sprache der Sprache dort auf dem Tonband aufzwingen? Oder sollte ich meine Leser einfach mit dem S t i l von Luhmann konfrontieren?
Meine Auftraggeberin, die taz, war zu dieser Zeit immerhin noch sehr eigensinnig und konsequent: provoziere, schockiere, überfordere – es nützt! Also habe ich bei der Wiedergabe meist den Luhmann-Stil beibehalten (wie überhaupt man in dem zur Veröffentlichung bereit liegenden Sammelband immer wieder andere Schreibstile kennen lernen wird) und mir bei der Übertragung von gesprochener Sprache in Schriftsprache nicht allzu viel Mühe gemacht.
Mit der Folge, dass dieses Ergebnis nun Luhmann weniger zufrieden stellte.
In einem Brief äußerte er sich, dass das Interview zu sprunghaft, meine Fragen zu lang, seine Antworten zu kurz wären. Also dauerte es mit der Fertigstellung und der Veröffentlichung.[5] Entsprechend meiner Devise, nur solche Interviews drucken zu lassen, welche die Zustimmung der Interviewten gefunden hatten, also autorisiert waren (ich ging damit unangenehmen Folgeproblemen aus dem Weg), gab es ein dauerndes schriftliches Hin-und-Her; ein zweimaliges persönliches Treffen wurde außerdem notwendig. Das umfangreiche Material spaltete ich schließlich mit Luhmanns Zustimmung in drei Teile, auch um eine Ordnung („Struktur“) für das so spontan ausgedrückte Ganze zu finden. Luhmann war immerhin kein Post-Strukturalist wie etwa Derrida. Schließlich fand das Interview seine Zustimmung.
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Der erste Teil im Interview, „Wie sprechen?“, schließt direkt an das Gespräch mit Jean François Lyotard an, ob die philosophische Sprache immer eine spezifische zu sein habe oder ob auch Künstler philosophische Fragen stellen und beantworten könnten, wovon ich überzeugt bin. Gerade dies wird den französischen Schriftstellern, etwa Derrida oder Baudrillard, von den analytischen und auch deutschen Philosophen vehement und mit dem Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“ immer wieder vorgehalten. Ironie, Spiel, künstlerische Mittel oder Provokationen hätten nichts in einer philosophischen Thematik zu suchen. Für mich sind philosophische Schriftsteller wie Baudrillard, Virilio oder Derrida zwar eher Künstler als Wissenschaftler oder Professoren. Aber gerade deswegen sind sie vielleicht, ähnlich auch Camus oder Sartre, nützlicher für die Allgemeinheit als manche Professoren vom Fach.
Im zweiten, umfangreichen Teil des Interviews geht es um wissenschaftstheoretische Fragen und über die „Philosophie der Moderne an ihrem Wendepunkt“. Selbst Luhmann akzeptierte also damals die Diskussion um das neue „postmoderne Zeitalter“, wie es die Franzosen und in ihrem Schlepptau auch die Amerikaner propagiert hatten und immer noch propagieren.
Im dritten Teil geht es um Kunst, Künstler und Kunstvermittlung, das eigentliche Thema des Ludwigsburger Symposiums.
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[1] Auch der wissenschaftstheoretische Anarchismus von Paul Feyerabend (1930-1994) soll in diesem Zusammenhang wegweisender Vordenker nicht unerwähnt bleiben.
[2] Symposium „Markt und Sinn“ im Rahmen der Ludwigsburger Schloss-Festspiele 3.8.95-6.8.95 (Programm)
[3] Mittlerweile spricht man sogar schon kritisch von einem alles überbordenden „Ökonomismus“ der Zeit.
[4] In der schriftlichen Anfrage um einen Interview-Termin skizzierte ich allgemein immer nur die Themengebiete, um die es mir ging. Im Fall von Luhmann berief ich mich auf die Lyotard-Fragen in der taz. Vgl. Nr.19 im Blog.
Üblicherweise wurden auch zur damaligen Zeit, ganz im Gegensatz zu heute, keine Honorare vereinbart.
[5] Noch schwieriger gestaltete sich diese Prozedur bei dem Komponisten Helmut Lachenmann. Ein Gespräch mit dem amerikanischen Regisseur Robert Wilson und sogar ein noch längeres mit Jean Pierre Dubost (das einzige Tonband-Gespräch überhaupt mit ihm, vgl. auch Nr.6 und Nr.7 im Blog) ruhen immer noch unübertragbar im Archiv.