117 Über Popmusik 1
“Wenn du jemals geliebt hast, heb‘ deine Hände hoch. Wenn du jemals von jemandem verlassen worden bist, heb‘ die Hände hoch. Wenn du jemals geliebt worden bist, heb‘ auch du deine Hände hoch”.
So oder so ähnlich tönt es aus meinem von iTunes gefütterten Handy. Nelly heißt der Interpret aus den USA und „Just a dream“ heißt sein Welthit aus dem Jahre 2010 – ich weiß nur nicht, ob er auch in den islamischen Staaten unserer Welt gehört wird oder gehört werden darf. Er macht mir den Zugang zu meinem Thema jedoch leicht. Denn wer hätte noch nie geliebt von uns allen, wer war noch nie verliebt, ist noch nie geliebt worden? Jeder von uns hätte in diesem Konzert die Hände hoch strecken können.Eine Ausnahme bilden wohl nur die jüngeren Zeitgenossen unter uns, die so cool sein wollen, dass es hinter ihnen bereits zu schneien anfängt oder die Antarktis beginnt.
Popmusik ist Nähe zum Körper. In zweifacher Hinsicht: Über eine schon archaische Rhythmik animiert sie uns zu Bewegung, Tanz, zum Mitschwingen, Fühlen. Reine Sinnlichkeit also. Ähnlich werden es bereits die Steinzeitmenschen am Lagerfeuer gemacht haben und ähnlich musizieren immer noch fast alle Kulturen dieser Welt. Selbst die chinesisch-asiatische, deren Musik und Rhythmik doch viel gezügelter und beherrschter klingt als die Beispiele aus anderen Teilen der Welt, auch sie kennt den Tanz und damit auch den Rhythmus, die gestaltete Zeit.
Und zweitens will Popmusik dem Körper nahe sein über die Texte. Welcher Popsong handelt nicht irgendwie und irgendwo von Liebe? Von Hass, Leid, Trauer, Begehren oder Leidenschaft? Wir brauchen jetzt keinen Sublimations-Filter mehr für unsere Gefühle, den wir im täglichen Leben, bei der Arbeit, in unseren wohl durchdachten Gesprächen einsetzen müssen. Gefühle wollen im Fall von Popmusik, ja Popart allgemein, hier und jetzt und direkt angesprochen und – soll ich sagen – wach gekitzelt werden wie auch immer.
Dass sich die Fähigkeit Gefühle wahr zu nehmen, sie zu zulassen, zu entwickeln unter den Völkern und Menschen unterschiedlich ist, dürfte sich bereits herum gesprochen haben.
Der deutsche Charakter, sofern es ihn in dieser Verallgemeinerung überhaupt geben kann, hat erfolgreich gelernt seine Gefühle zu domestizieren, zu bändigen, zu kultivieren. Das ist gut und schlecht zugleich, je nachdem, in welcher Handlungs-Situation ich mich befinde. Ja es gibt Menschen, die noch nicht einmal wissen, was überhaupt Gefühle sind (und dauernd in der Eiszeit leben müssen).
Umgekehrt ist mir aufgefallen, dass etwa in der russischen Bevölkerung sich eine sehr starke Gefühlskultur entwickelt hat, dass auch die Sprache dort durchwoben ist von emotionalen Begriffen. Dass man mich sogar gefragt hat als Lehrer bei der Interpretation von Musik am Klavier, welches Gefühl man jetzt und an dieser Stelle auszudrücken habe. Ich war über diese Frage verblüfft, auch ratlos. Das müssen Sie doch selber wissen, habe ich geantwortet. „Wissen“, habe ich gesagt und nicht „fühlen“. Als ob man etwas über Gefühle wissen könne oder doch eher ja.
Womit wir beim Thema Geist, Verstand, Denken und Intellektualität angekommen wären. Denn so ganz auf der sprachlos animalischen Seite mag die Popmusik auch nicht verkümmern. Immerhin ist Musik mit ihrer harmonia humana, harmonia coelestis, ihrer Zahlenmagie, ihrer kompositorischen Struktur doch eine berühmte alt-ehrwürdige Kunst auch in ihrer Geistigkeit. Denn diese gibt es gleichwohl und auch ganz ohne Text.
Man betrachte und analysiere nur die Instrumentalmusik von Bach, was sich alles in diesen Kantaten und Fugen und Concerti verborgen hält an Verschlüsselungen, Mehrdeutigkeit, Komplexität. Sie ist tatsächlich ein Abbild Gottes und der himmlischen Sphären (dreht sich nicht im Oktav-Verhältnis 2:1 die Erde um die Sonne, oder doch eher 3:2 wie die Quinte?), und diese Art von Musik will sich nicht nur in den unteren Regionen bewegen müssen.
Deshalb wollen die Texte mancher Popsongs auch Botschaften übermitteln, die die Ebene der Sinnlichkeit verlassen, komplex zu sein scheinen oder sogar direkte politische Handlungsanweisungen geben, „wie man zer werlte sollte leben“(Walther von der Vogelweide). Das können auch durchaus provokative und anspruchsvolle Konstruktionen oder Vorschläge sein.
Ich bin immer wieder überrascht, wenn ich jetzt die englischen Texte über die Shazam App mitlesen kann, was darin alles fabriziert worden ist, ohne dass wir es bemerkt hätten. Dass „Lola“, der bekannte Klassiker der Kinks aus den Frühzeiten der europäischen Popmusik, den man in der Jugend doch so begeistert mitgesungen hat zumindest im Refrain, sich jetzt als ein Mann, ein Transvestit sogar, herausstellt („Boys will be Girls and Girls will be Boys“) und dergleichen mehr.
Doch kommen wir wieder auf den oben angesprochenen Hit von Nelly mit dem Titel „Just a dream“ zurück. Treuherzig, zerknirscht und voller Schuldgefühle vielleicht auch – ich liebte sie nicht so, wie sie es wollte, wir wissen was er damit im Zeitalter des Feminismus sagen will – beklagt er die Trennung von seiner Geliebten. Er, dem sogar Frauenfeindlichkeit in der Presse nach gesagt worden ist, nennt seine Sehnsucht jetzt, wo es zu spät ist, seine Geliebte, seine Ehefrau, sein Leben und dass alles nur ein Traum war. Dass seine kleine Sie weg ist, sie steht nicht mehr dort an der Bus-Haltestelle, geht nicht ans Telefon und sie wird auch nicht mehr wieder zurück kommen.
Natürlich haben wir Mitleid mit dem Sänger und mit uns selbst und versuchen noch intensiver diesen Schmerz – weg zu tanzen. Denn Bewegung, sagt die Medizin, ist ein gutes Mittel gegen Depression, Traurigkeit, Schwermut. Selbst wenn sie uns dann und wann überfällt, nicht wahr, wenn wir auch nur an die Zerrissenheit unserer gegenwärtigen Welt und Gesellschaft denken.
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Für euch Nachgeborenen, die ihr alles Gegenwärtige als so selbstverständlich und naturgegeben anseht und nicht in Frage stellt – seht euch das Video von Nelly an. Er ist ein Rapper der übelen Sorte, zumindest ist er dergestalt in die Schlagzeilen der Presse gelangt. Er ist scheinbar sehr erfolgreich mit seiner Musik und anderen wirtschaftlichen Geschäften. Sein Energie-Getränk verkaufte sich im Sommer 2003 allein in den beiden ersten Monaten über eine Million Mal in den USA. Und er stammt aus der Nähe von Ferguson/St.Louis und hat auch schon Opfer in seiner unmittelbaren Umgebung zu beklagen.
Machomäßig mit nacktem Oberkörper tritt er in diesem Live-Mitschnitt von 2010 auf, Muskel-bepackt wie für den Germanenfeldzug der Römer. Die Bodybuilding-Kultur fiel auch nicht so einfach nur von Himmel, wie ihr vielleicht reichlich naiv denkt, sondern sie wurde ganz gezielt von interessierten Kreisen in den USA (denn dort kommt sie her) gemacht, für gut befunden, konditioniert.
In meinem jugendlichen Alter hat man sich überhaupt nicht um Muskelmassen gekümmert. Noch nicht einmal um die Kleidung, geschweige denn um Parfum oder gegehlte Haare (ich schreibe das Wort jetzt einmal so). Alles war einheitlich, Jeans, Parka, und alles war politisch. Es ging nur um Politik und wie man leben, auch lieben sollte. Das „Sollte“ ist wichtig, denn es gab Tausende von neuen Lebensentwürfen, Utopien, Hoffnungen und Kriegserklärungen.
Es gibt amerikanische Untersuchungen darüber, ob es eine Nähe zwischen dieser neuen Art Körperlichkeit (Bodybuilding) und Homosexualität geben könne. Ja, hat man festgestellt, und dies bis auf den heutigen Tag. Und es gibt Theorien darüber, dass diese Art Körperkult für kriegerische Nationen wie etwa die antiken Griechen und Römer notwendig war, um im Nahkampf mit Schwertern und Knüppeln überleben zu können. Muskelbleckende Körper, schnelles Laufen und das gezielte Speerwerfen waren für kriegerische Auseinandersetzungen immer von Vorteil, mussten also trainiert werden.
Und ansprechend hübsch sahen doch auch Hitlers stählerne Mannen aus als weiße Gipsfiguren oder Marmorbüsten von Arno Breker oder in den Filmen von Leni Riefenstahl. Göring, Himmler, Röhm und die Seinen hatten zumindest eine Zeitlang ihre Freude daran.
Der Beginn der Bodybuilding-Kultur lässt sich sogar zeitlich einigermaßen genau orten. Im Film „Rambo“(1982) mit Sylvester Stallone in der Hauptrolle, einem „Klassiker des Faustrechts“(Wikipedia), zog erstmals eine muskelbleckende Gestalt die Aufmerksamkeit auf sich und wurde zum Massenidol. Die Amerikaner hatten gerade ihren Vietnam-Krieg verloren.
Wer weiß, wann es so weit sein wird, dass auch die Frauen das Maßband anlegen werden an unseren Bizeps und danach dann ihre Entscheidungen fällen werden. Zwar zeigen auch die Porno-Filmchen mittlerweile schon Wirkung, wie zu hören ist (“Generation Porno”). Doch an der Größe unserer Geschlechtsorgane scheinen die Frauen unserer Zeit noch nicht so viel Interesse zu haben. Es ist alles nur, Entschuldigung, eine Frage der Steuerungstechnik, der Mode, der Massen-Konditionierung. Warten wir’s ab.
Der Astronauten-Trainer James F.Cooper hatte einige Jahre zuvor mit medizinisch-präventiver Absicht einen Sport- und Tauglichkeitstest entwickelt, der bis in die Gegenwart als Standard für Fitness beispielsweise im Sportunterricht Verwendung findet. Später sprangen dann die Mediziner auf diesen gewinnträchtigen Zug auf. Er hat ganz neue Berufe und Geschäftsmodelle ins Leben gerückt und nannte sich jetzt „Fitness“. Nichts gegen Fitness, aber dass dieses Gebiet zuweilen heftig übertrieben wird, im Alter schließlich zu traurigen Spätfolgen führen kann und dass andere Körperteile sträflich dabei vernachlässigt werden, das wird mittlerweile wohl vielen klar sein.
Ein zweiter Punkt ist mir in diesem Pop-Video von Nelly noch aufgefallen. Als Kollateralschaden des Feminismus (Kollateralschaden?) muss sich auch der modebewusste Mann von heute schön und begehrenswert machen. Es genügen bei Weitem nicht mehr Kraft und (geistige) Stärke.
Manche meiner jungen Geschlechtsgenossen laufen bereits wie Paradiesvögel durch die Straßen. Auch im Bereich von Mode, Verpackung, Maskerade hat sich einiges geändert. Doch es reicht nicht mehr mit Löchern in den Hosen herum zu laufen, nackte Haut durchblitzen zu lassen, wohl duftend und mit Islamisten-Bart oder einer Glatzkopfmähne Aufmerksamkeit zu erregen (was ist eine „Glatzkopfmähne“?). Nein, neuerdings muss selbst der obere Rand der Unterhose bei den jungen Männern, der Weg ist das Ziel, nicht wahr, neckisch versteckt zu sehen sein oder schamhaft immer wieder mit dem T-Shirt verdeckt werden.
Was früher ein Privileg der Frauen war, was sie früher mit ihren kurzen Höschen, Röckchen, mit oder ohne BH, alles zu inszenieren wussten, das dürfen wir ihnen nun im Namen der Gleichberechtigung nachmachen, nachzumachen versuchen.
Eine durchaus bemerkenswerte Steigerung bedeutet gleichwohl und bevorzugt nur in bestimmten Monaten das nackte Hinterteil beim Manne. Scheinbar trägt man im Sommer keine Unterhosen mehr und statt dem sonst so schamhaft verdeckten Kleidungsstück prangt der überraschten Zeitgenossin jetzt der Ansatz einer leicht gewölbten Ritze entgegen, die das weibliche Geschlecht anlocken und das Objekt vor ihr begehrenswert machen soll wie der Affenhintern in der Tierwelt. Nur dass die Geschlechterrollen jetzt in fälschlicher Art und Weise vertauscht sind. Als wenn in der Tierwelt ein Weibchen ein Männchen von hinten bespringen könnte, Entschuldigung.
Um wieder etwas ernsthafter und politischer zu werden und unseren Diskurs gut desillusionierend-intellektuell abschließen zu können und damit ich mich auch nicht zu sehr in oberflächlich-ironischen Überflüssigkeiten verliere, denn nur Abstracta zählen, sind wesentlich, nicht wahr, das einzeln Vereinzelte zählt nicht, deswegen sagten schon die Realisten im mittelalterlichen Universalienstreit (was wieder für eine Satzkonstruktion!): In dem oben angesprochenen Hit sind gleich sieben (!) männliche Autoren verzeichnet, die an der zugegeben mickrigen Textproduktion mit beteiligt gewesen sein wollen.
Kein Individuum, kein glaubwürdiges Ich spricht uns also in diesem Lied an, mit dem wir uns doch so schnell haben identifizieren wollen. Immer wieder Massenproduktion, Konfektionsware, Second Hand-Gefühle. Selbst Liebe und Leidenschaft werden nur noch simuliert im Konzert auf der Bühne, vor allem auch auf den Bildschirmen dieser Welt, um uns das Geld aus den Taschen zu ziehen.
Opfern wir also weiter dem heiligen Dollar in unseren Konsumtempeln. Beten wir zu diesem Zauberer und Zuhälter, dass er uns weiterhin Scheinlügenstunden des Glücks voll Liebe und Leidenschaft besorgen möge, ohne dass wir es merken würden. Wie wir von diesem all umfassenden System bereits gesteuert, manipuliert, ausgebeutet und auch um wahres Leben und wahres Lieben betrogen werden, tagein tagaus (seufz). – Ein positiver Schluss fällt mit leider nicht ein.
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Hitparade 3: Nelly, “Just a Dream” (Single) 2010
YouTube:Nelly, “Just a Dream” LIVE (shirtless) at B 96 Jingle Bash