120 Nicolaus von Kues (IV)
Warum ich Nicolaus von Kues mag
Er ist einer von uns. Er steht ebenfalls in der Mitte einer Zeitenwende: das Mittelalter geht zu Ende mit seinem Denken, seinen Institutionen. Die Herrschaft der katholischen Religion, des Papstes und seiner Dogmatik schwindet dahin. Das tausend Jahre alte oströmische, griechisch sprechende Reich schrumpft zusammen, zerfällt. Mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, heute Istanbul, ist 1453 auch diese Ära zu Ende.
Die Renaissance, eine “Wiedergeburt”, kündigt sich an. Wieder einmal wird ein Umweg zum Denken der Vergangenheit gesucht, um zeitgenössische Probleme lösen zu können. Der alte Glaube, das Wissen des Mittelalters, genügt nicht mehr, die neuen Anforderungen der Zeit zu bewältigen. Dogmen wie der Allmachtsanspruch des Papstes werden mit allen kriegerischen Mitteln angezweifelt und bekämpft. In der Plastik, in der neu entstehenden „Oper“ (besser „Dramma per Musica“) wird Griechenland wieder entdeckt (und missverstanden) und lange Jahrzehnte immer wieder nachgeahmt.
Nicolaus von Kues, latinisiert Cusanus, steht mitten in dieser Welt des Umbruchs, die auch ein Umbruch der Kommunikationsformen sein wird. Das Hören und Zuhören wird vom Selber-Lesen-Können immer mehr abgelöst. Nur deshalb konnte das Aufbegehren Luthers so erfolgreich sein. Cusanus sieht schon Jahre vorher ebenso diese Probleme, will sie lösen. Er kennt Konstantinopel gut und kann dennoch den Untergang dieser alt-ehrwürdigen Stadt der tausend Türme nicht verhindern.
Er weiß von der Flucht der Wissenschaftler dort ins weströmische Reich mit ihren wertvollen Büchern und Papyrusrollen, mit neuen Philosophien und Weltanschauungen im Gepäck, die wieder geboren, wieder entdeckt werden wollen. Er lässt zahlreiche dieser Schriften vom Griechischen ins Lateinische übersetzen. Bis heute kann man sie in seiner Heimatstadt Bernkastel-Kues an der Mosel studieren, bewundern.
Er ist offen für Andersgläubige, schreibt eine philosophische Disputation über den Koran (Cribratio Alkorani, “Sichtung des Korans”) um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass diese beiden „Religionen des Buches“, wie die Asiaten später sagen werden, gar nicht so weit auseinander liegen. Er stellt also als erster eine sogenannte „Konvergenztheorie“ der Religionen auf, das Judentum mit eingeschlossen. Sie wird jedoch nur allzu schnell von interessierten Kreisen unterdrückt und dann auch schlicht vergessen.
Erst im Zeitalter der Aufklärung hat man über dieses Phänomen wieder nachgedacht. Zu sehen im Schwetzinger Schlossgarten: Die Moschee als Gebäude von Weisheit und Vernunft steht einträchtig neben antiken Tempeln, einer künstlichen Ruine sowie der christlichen Schlosskirche. Im Paris um 1800 hat es sogar zusätzlich dazu noch einen „Tempel der Vernunft“ mit einer neuen Gottheit gegeben. Was aber nicht ausschließen konnte, dass eine brutale Unvernunft dort zeitweise ihr Terror-Regime aufrecht erhalten konnte.
Cusanus war weit gereist und kosmopolitisch. Und dennoch bodenständig. Sein Körper ist zwar in Rom begraben. Aber sein Herz bleibt auf eigenen Wunsch in seiner Heimatgemeinde Kues bei Bernkastel aufbewahrt. Zum kirchlichen Beruf hat er sich spät erst entschieden – wer weiß, was er als Sohn eines Mosel-Schiffers, der dank seiner Intelligenz sofort zahlreiche Förderer gefunden hat, noch alles erlebt haben wird. –
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Weites Reisen, das Reisen überhaupt ist für mich eine der besten und sinnvollsten Arten von Allgemeinbildung, denn es macht die Relativität der Lebensformen, des Denkens, des Wissens deutlich.
Also – macht euch auf den Weg, gerade das Fremde kennen und schätzen zu lernen, das Ferne! (ich wiederhole mich). Auch das Fremde in euch, der Weg nach innen, das Fremde im Gegenüber. Auch dort werdet ihr mit dem Dschungel preußischer Zwänge, kreativer Lust, dem Reich von Warmherzigkeit oder auch einer blind wütenden Destruktivität Bekanntschaft machen können.
Kosmopolitisch werdet ihr sein wie vielleicht Kaiser Friedrich II in Palermo, der sogar an seinem Hof Arabisch gesprochen und die arabische Lebensform – sehr zum Entsetzen des Klerus in Rom – in Europa provokativ vorgeführt haben soll.
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Nicht zuletzt war auch ein Kloster der manchmal recht ketzerischen Minoriten in Holland, das Cusanus in seiner Schulzeit besuchte, zeitlebens Vorbild für dessen Reform der Klöster. Hochadelige Nonnen, die von ihren Ehemännern in ein Kloster aus Gründen der “Geschlechtslust” verbannt worden waren, sollten fortan keine privaten „Nonneriche“ dort mehr halten dürfen, die das Kloster fast schon in ein Bordell verwandelten. In Kues hat Cusanus auch als Erbe und Vermächtnis das erste Altersheim der Zeit begründet, das in seiner Art, beschränkt auf 33 Personen (nach den Lebensjahren Jesu Christi), bis heute noch dort besteht.
Cusanus war politisch: Er besucht und kontrolliert überall in Europa die katholischen Lande im Auftrag eines progressiv eingestellten Papstes, versucht hartnäckig und sogar mit kriegerischer Gewalt Reformen in den kirchlichen Institutionen, vor allem in den Klöstern, durchzusetzen – vergeblich. Weil er so vor-reformatorisch gearbeitet und einige Kritikpunkte Luthers an der Kirche bereits vorweg genommen hat, steht er mittlerweile sogar im Kanon des sogenannten „Ökumenischen Lexikons der Heiligen“ (auch das gibt es).
Er hat es zwar bis zum Kurien-Kardinal und päpstlichen Berater in Rom gebracht. Er hat sich jedoch bei seinen kriegerischen Unternehmungen als Fürst-Bischof von Brixen gegen den kirchenfeindlich eingestellten Adel und die Landesfürsten von Tirol einiges zu Schulden kommen lassen. Er saß deshalb mehr als ein Jahr im erzwungenen Arrest auf der Burg Buchenstein, was ihm wohl das Leben um einige Jahre verkürzt haben wird (er ist 63 Jahre alt geworden). Er konnte also nicht in den Heiligen-Kanon der katholischen Kirche aufgenommen werden. – Mir gefällt gleichwohl, dass er kein Heiliger war. Die Heiligen sind mir oft zu weit weg von den Menschen und ihrem Leben.
Und er war ein Mensch des Wissens, ein Universalgelehrter, der auch noch das Wissen selbst relativieren konnte. Das heißt: der sich der Begrenztheit des Wissens, seiner jeweiligen Abhängigkeit von Zeit, Kultur und Sprache, bewusst war.
Er disputierte und veröffentlichte Aufsätze über die gängigsten Thesen der scholastischen Philosophie, insbesondere auch der Sprachphilosophie, die bis heute noch nachwirken, sofern man sie überhaupt versteht.
Er nahm eine mittlere und eher ausgleichende Stellung im Universalienstreit ein, dem führenden Gegensatz und philosophischen Problem der Zeit: Ob Allgemeinbegriffe wie Liebe, Wahrheit oder Gerechtigkeit wirklich sein, Realität besitzen könnten. Das heißt auch praktisch werden können für die Gegenwart, die Ethik, Religion, die Politik, oder ob sie nur Fiktionen, Erfindungen des menschlichen Geistes, ein sprachlicher Lufthauch quasi, sind. Ob nur die konkret sinnlich erfahrbare Liebe, zum Beispiel ein Kuss, wirklich ist oder gleichzeitig dabei auch der Allgemeinbegriff “Liebe” wahr und real wird. Ob man Abstraktionen wie den päpstlichen Dogmen überhaupt gehorchen muss. Eher nein, antwortet immer häufiger im Herbst des Mittelalters die Politik.
Und Cusanus war trotz aller Diskussion um Rationalität und Vernunft ebenso sehr beeinflusst von der Mystik der Zeit, etwa Meister Eckharts, die sich antithetisch oder auch komplementär zum zeitgenössischen Intellektualismus gebildet hatte und überaus einflussreich im einfachen Volk geworden ist.
Im Bereich des Wissens war Cusanus, als Platoniker ebenfalls ein Vorläufer des neuen Renaissance-Denkens, ein großer Anhänger der Mathematik. Wie Platon hat er diese sogar mystifiziert, das heißt ihr übernatürliche Kräfte zu geschrieben. Platon hat die Bewunderung der Zahlen, auch ihre magische Kraft (etwa in der Musik) bei einem Besuch der pythagoreischen Gemeinde in Sizilien kennen gelernt. Zeit seines Lebens war er überzeugt davon, dass die Zahlen näher an den Ideen waren als die Begriffe oder deren Abbilder in Kunst und täglichem Leben. Das heißt auch, dass sie überzeitlicher waren als alles andere.
Auch heute dominiert die Mathematik fast schon totalitär unser Zeitalter. Die Digitalisierung umfasst bereits mit den Zahlen 0 und 1 weite Bereiche unseres Lebens. Können wir das überhaupt noch richtig einschätzen, dass wir von einem unsichtbaren Netz von 0 und 1 umgeben sind, quasi gefangen gehalten werden? Jetzt auch, indem ich dies schreibe mit meiner kleinen Zauber-Maschine, die sogar meine Groß-und Kleinschreibung automatisch korrigiert, die sich einschaltet, ohne dass ich es merke, und mich filmt; die mir Botschaften zuflüstern kann der allergeheimsten Art und trotzdem den großen Mächten der Zeit hilflos ausgeliefert scheint.
Was nicht digitalisiert werden kann, das ist jedoch verdächtig, „irrational“, wird aus dem Gespräch, dem Diskurs der Wissenden und Intellektuellen ausgeschlossen. Es ist auch nicht steuerbar, beherrschbar, quasi ein Taliban im Bereich der internationalen Manipulations- und Steuerungs-Strategien.
Cusanus hat die Zahl 0 wenig nur beachtet. Für ihn war die Zahl 1 wichtiger als das Symbol für Einheit, Ganzheitlichkeit, Totalität, aus der sich alles entwickeln kann bis hin zur Unendlichkeit, sogar bis hin zur Unendlichkeit der Negativität in den Minus-Zahlen. Die sich gleichwohl im Ganzen des Unendlichen wieder finden und eine Einheit werden können (Coincidentia oppositorum).
Und er ist, last but not least, ein Theologe, ein Gottessucher. Wenn Gott uns als überzeitliche Idee (des Guten, sagt Platon) den rechten Weg weist, dann ist die Vernunft seine Sprache, mit der er sich an uns wendet, die er uns zu lehren versucht trotz aller Widerstände. Die wir hören, die wir lernen, die wir verstehen müssen. Der Geist versucht diesen Weg der Vernunft mit Verstand und Rationalität zu finden, zu erfassen, zu spuren, zu ebnen. Die Gefühle antworten und kommentieren alles tagtäglich, wenn wir sensibel dafür sind, mit Lust und Freude, mit Schmerz.
Die Seele hält alle diese getrennten Ebenen von Vernunft, Rationalität und Gefühl (Sinnlichkeit) zusammen, vernetzt sie gleichsam als eine Funktion des Lebens, das leben, das lieben will mit Selbsterhaltung, mit Arterhaltung. Seele ist ein metaphysischer Begriff, der nicht mit rationalen Mitteln, was man gegenwärtig als rational versteht, bewiesen werden kann.
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Was sind metaphysische Begriffe?
Metaphysische Begriffe sind Begriffe, die trotz oder gar infolge ihrer Komplexität, das heißt auch Mehrdeutigkeit, kommen und gehen, Jahrhunderte lang existieren, also ebenso wie die platonischen Ideen überzeitlich sind. Sie verschwinden aber auch immer wieder. Gott ist beispielsweise ein solcher Begriff, der bei vielen Menschen gegenwärtig verschwunden ist. Auch das altchinesische Qi (Lebensenergie) mag ein solcher Begriff sein, über den sich viele Wissenschaftler gegenwärtig kontrovers den Kopf zerbrechen – ist auch die Akupunktur ein neuer Irrationalismus der Zeit?
Der Materialismus hat versucht, diese wie Batterien, auch wie Kunst “aufgeladenen” Begriffe auf einen einzigen Aspekt ihrer Bedeutungsebene zu reduzieren, einzuschränken und dergestalt auch zu entwerten. So lässt sich zum Beispiel das komplexe Phänomen Liebe nicht biologistisch nur auf die Chemie des menschlichen Körpers reduzieren (um wieder ein triviales Beispiel zu nennen). Es wird dergestalt reduziert, aber mit erheblichen Kollateralschäden.
Im heutigen Sprachgebrauch wird mittlerweile und neuzeitlich – um ein weiteres Beispiel zu nennen – von dem metaphysischen Begriff “Seele” systemtheoretisch als “ganzheitliche Vernetzung” gesprochen, ja man kann “Seele” sogar als einen mathematisch definierbaren und immer auch anders lesbaren individuellen Informationscode des Menschen auffassen. Womit aber die Komplexität des Phänomens nicht erschöpft sein kann, vor allem sub specie aeternitatis, wie die Lateiner sagen, gesehen unter dem Aspekt der Ewigkeit.
Auch von der Seele des Weltalls ist schon gesprochen worden. Was hält das Universum mit seiner schwarzen, weißen und was weiß ich für farbigen Materie oder diesen unglaublichen Monster-Löchern zusammen? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? Vor unserer Zeit, nach unserer Zeit? – Warum bin ich, existiere ich jetzt und hier und an dieser Stelle?
Mich gibt es, antwortet Cusanus, weil Gott uns liebt. Die Menschen, das Weltall. Die Idee der Liebe, die Platon in seinem kriegerischen Militärstaat nicht gekannt hat (er hat nur von Eros und Begehren gesprochen), diese neue Idee hat er besonders nachdrücklich durch Christus in die Welt gesetzt. Nicht durch Heraklit, Platon, Sextus oder Epikur. Scheinbar war damals, zur Zeit des Kaisers Augustus, die Zeit dazu reif.
Wenn Gott für diese immer doch auch zur Liebe fähigen Totalität, für das Ganze, selbst für die Einheit der Gegensätze im Menschen und in seiner Welt zuständig ist, dann ist der Mensch ein Fragment dieser Totalität.
Dann gilt der Satz, der auch ein Gebet sein mag, umso mehr:
Gott, mich gibt es nur, weil es dich gibt. Wenn es dich nicht gäbe, dann gäbe es auch mich nicht.
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Das Photo oben (September 2014) zeigt das von Cusanus gegründete Altenheim in Bernkastel-Kues, heute “Cusanus-Stift”. Im Vordergrund die Kapelle und Bibliothek mit wertvollen Handschriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Die Kapelle wird ebenso wie die Bibliothek nur von einer einzigen Säule getragen, dem Sinnbild von Einheit, Ganzheit und Totalität.
109: Bücher von Reinhold Urmetzer
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