121 Über Kunst
Antwort (Brief an Lucilius 4)
Du beklagst dich, mein neues Werk für Operngesang sei zu schwer. Allein schon der Titel „Arie der Meeresgöttin Thetis“ sei zu kompliziert. Wo ich nur die vielen Gedanken und Ideen her hätte, fragst du mich.
Jede Kunst hat ihren Anfang in einem lapidaren Beginn, der biografisch begründet, vom Geldverdienen getrieben oder wer weiß wie motiviert sein mag. In meinem Fall hast du mir eine Nachricht in mein Quartier gesendet, wohin ich mich für einige Zeit zum Schreiben und Denken zurückgezogen hatte. Ich solle das Meer berühren, schreibst du, und von dir grüßen.
Es war eine dunkle Nacht, die See stürmisch und wie in einer Eingebung hat sich dort in Ostende auf der Mole der Text in mir gebildet, geformt. Ich war wieder in einer seltsam emotionalen, irgendwie auch unruhigen und heftigen Stimmung, die ich nicht zu erklären, auch nicht zu benennen weiß. Jedenfalls sind das die Momente der Kreativität, der Schöpfung fast schon so etwas wie Geburtswehen, die manchmal stundenlang, wenn nicht sogar tagelang anhalten können. Es sind meist Augenblicke von großer Labilität, Erschöpfung und Erregung, die manchmal auch mit Menschen oder Erlebnissen zu tun haben.
Die Idee des Textes ist mir also dort und in diesem Augenblick eingefallen. Ich habe daran gefeilt, gearbeitet, stunden-, tagelang. Arie oder Gesang als Titel? Soll am Schluss dieses Baudelaire-Zitat stehen von den „Finsternissen der Zukunft, die uns allen bevor stehen“? – Schließlich stand fest: Gesang oder Arie der Meeresgöttin Thetis, so wird die Überschrift lauten.
Dann habe ich diese wunderbare Stimme von Seda Karajan in einem Konzert gehört. Die junge Frau war mir schon für die Produktion meiner Renaissance-Lieder empfohlen worden und sie hatte mich fasziniert. Ihre Stimme ging mir tagelang durch den Kopf, wie eine Göttin alles um sich herum einnehmend und gefangen haltend. Für diese Stimme, diese Frau werde ich dieses Gedicht und diese Musik schreiben.
Ich ging wieder an die Arbeit, den mittlerweile fertig gestellten Text in Töne zu setzen oder, wie Humboldt sagt, „Töne und Gedanken miteinander zu verbinden“. Jetzt kommt also das Thema Kunst ins Spiel, Wissen, Können, Erfahrung. Lass es mich an einem Beispiel aus der Gastronomie erklären.
Ein einfacher Hamburger mag sinnvoll, gut und lecker sein. Manchmal ist er notwendig und manchmal isst man ihn sogar mit Appetit. Ebenso kann aber auch ein mehrgängiges französisches Menü meines geschätzten Kochmeisters Vincent Klink von der Stuttgarter Wielandshöhe sinnvoll und gut und lecker sein.
Im Gegensatz zur Herstellung eines Hamburgers verlangt dessen Kunst jedoch Wissen, Erfahrung und Verstand. Soviel Arbeit, Neugierde und Erfindungsreichtum wollen darüber hinaus auch honoriert, das heißt bezahlt werden. Morgens bei Sonnenaufgang zur Markthalle aufzubrechen oder zum Fischmarkt am Meer, wie es die gute französische Küche praktiziert (idealiter), das ist etwas ganz anderes als mit einigen wenigen Handgriffen einen tief gekühlten Fleischklotz aufzuwärmen.
Auch in der Musik gibt es gute Handwerker, die mit wenigen Griffen eine sehr erfolgreiche und gerne gehörte Musik in die Welt zaubern. Es gibt aber auch geistige Schöpfungen, wo alles aufgeladen scheint gleichsam wie eine Batterie mit Geist, Wissen, Tradition, Bildung, Erfahrung. Es entsteht dergestalt eine strukturelle Komplexität, die mehrdeutig und offen für viele Zugänge ist.
Das heißt, die mehrere Sinn- und Bedeutungsebenen dem Interpreten anbietet, ihn auffordert – auch durch Provokationen, Überforderungen, ästhetische Tricks – sich damit auseinander zu setzen. Und die last but not least den menschlichen Geist, auch seinen Körper, sein Gemüt, viele seiner emotionalen wie geistigen Fähigkeiten reifen, wachsen, sensibler, umsichtiger, vielleicht sogar klüger werden lässt.
Während einfaches Kunsthandwerk nur eine einzige oder nur wenige Bedeutungs-, das heißt auch Sinn-Ebenen besitzt. Ich will Kunst und Kunsthandwerk nicht gegeneinander ausspielen oder abwerten. Aber Kunst braucht zum Verständnis Zeit. Gute Kunst hält der Zeit stand. Gute Architektur beispielsweise altert nicht, im Gegenteil. Viele Häuser, die nur nach funktionalen Gesichtspunkten gebaut wurden, möchte man am liebsten nach etlichen Jahren wieder abreißen. Gute Architektur überdauert jedoch wie jede Kunst Zeit und Alter. Während der Hamburger bereits vergessen ist oder in uns arbeitet (Entschuldigung).
Wenn ich Kunst mit einer von Geist aufgeladenen „Batterie“ vergleiche, dann habe ich noch gar nicht den für die Allgemeinheit weitaus wichtigeren und beliebteren Aspekt angesprochen, den der Sinnlichkeit nämlich. Kunst fasziniert durch Schönheit, Wohlgefallen, also durch Emotionalität.
In der Musik mag sie den Körper beim Tanz in Bewegung bringen; wir lachen, weinen mit bei Theaterstücken oder Filmen, blicken gebannt auf ein herausforderndes Gemälde oder einen poetischen Text. Dies ist also die zweite wichtige Ebene von Kunst: die der sinnlichen Verführung. Und sie ist beliebter, wohl auch erfolgreicher als die Ebene des Geistes, des Nachdenkens, Forschens und der Erinnerungen.
Komplexität, vor allem Über-Komplexität lebt nämlich vom Wissen. Du beklagst dich, die Überschrift meiner neuen Komposition (als Wort-Text trägt sie nur den lapidaren Titel „Flaschenpost“) sei zu schwierig. Du meinst wohl damit auch „hermetisch“, nur Wissenden, Fachleuten zugänglich. Was ist eine „Arie“? – Wer ist „Thetis”? Noch nie gehört. – Ebenso ging es auch mir! Auch ich habe den Namen dieser Göttin nicht gekannt, noch nie gehört. Thetis? – Seltsam.
Mein Problem war: Ich musste den Namen einer Meeresgöttin finden, die den Text singt oder spricht, eine mächtige, pathetische, alles umfassende Gestalt, die ihre Botschaft, eine Ode sogar, in die Meeres-Nacht hinein schleudert.
Wikipedia bietet mir unter dem Stichwort „Meeresgöttin“ an: Thalassa oder Thetis. Das erste Wort erinnerte mich zu sehr an Bäderkultur und Sebastian Kneipp. Also wählte ich den zweiten Begriff. Und erfahre nebenbei, dass Thetis die Mutter des sagenumwobenen griechischen Helden Achilles war. Die ihrem Sohn dergestalt diese meine Worte mit ihrer Musik vielleicht nachruft – nicht ganz und nicht alles im Text ist auf sie zugeschnitten. Aber vielleicht doch einiges davon mag zutreffen, mag passen.
Achilles hat sich im trojanischen Krieg geweigert weiter zu kämpfen, weil man ihm seine Geliebte Briseis weg genommen hatte. Als schließlich dann auch noch sein Geliebter Patroklos im Kampf den Tod findet, greift er wieder in das Geschehen ein, nimmt tödliche Rache und die Griechen gewinnen schließlich doch ihren Kampf um Troja*.
So steht’s um die unbekannten Namen und Begriffe, um Komplexität und um Kunst, die mit Wissen, Mehrdeutigkeit, Lebenserfahrung und noch so vielem anderen mehr aufgeladen ist wie eine Batterie. Vielleicht sogar wie eine Batterie mit Sonnenenergie. Denn Kunst kann auch heilen. Sie kann eine Botschaft Gottes sein, überzeitliche Erfahrungen und Weisheiten können weiter gegeben werden. Sie ist also nicht zuletzt auch ein Abbild der Urbilder, der Ideen.
Wikipedia macht’s einem heute leicht nachzusehen, nachzuschlagen, wenn man Wissenslücken hat. Man braucht nicht mehr schwergewichtige Lexika zu wälzen oder gar mit Fernleihe sich ein Spezialbuch aus der Bibliothek zu bestellen. Gerade ihr jungen Leute mit euren elektronischen Babys, die ihr doch so schnell alles zu wissen und zu erfahren wünscht, auch wenn ihr es gleich wieder vergesst oder nur oberflächlich erfassen könnt (Entschuldigung), für euch und eure große Neugierde, Offenheit und Sehnsucht nach Leben müsste das doch eine spannende Verführung darstellen.
Ich habe auch häufig und an dieser Stelle immer wieder geschrieben, dass mich meist nur das sogenannte Unverständlich-Fremde, Komplexe, Schwierige anspricht und interessiert. Ebenso ging und geht es mir mit den Menschen. Nur wenn sie etwas zu sagen hatten, etwas Neues, ungewohnt Überraschendes, manchmal Unverständliches, gelegentlich auch das Verhalten und die Lebensform betreffend, konnten sie mich faszinieren und an sich binden.
Nicht der leichte, der schwierige Weg, einmal eingeschlagen und mühsam genug gegangen, führt weiter. Führt weiter wohin? – Das ist die Frage, die ich nicht beantworten will, auch nicht beantworten kann. Wer aber Hegels „Philosophie des Rechts“ zum Beispiel einmal gründlich durchstudiert hat, für den werden alle philosophischen Sprachen dieser Welt offen stehen, leichter lesbar, spannend und vielfältig wie das Leben, dessen Abbild sie zu sein beanspruchen und, wenn sie gut, spannend, vielfältig und komplex sind, auch sein werden.
* Fortan bildet sich in manchen griechischen Stämmen die Überzeugung, dass eine feste Männerfreundschaft die beste Garantie für tapfere Krieger und erfolgreiche Kriege darstellen würde. Deshalb ist die Liebe zwischen Achilles und Patroklos viele Jahrhunderte lang in der Antike akzeptiert, ja gelegentlich sogar als förderlich vom Staat institutionalisiert worden. Mit dem Kollateralschaden gleichwohl, dass Sparta zum Beispiel schließlich innerhalb von 200 Jahren um zwei Drittel geschrumpft ist und leichtes Opfer seiner Gegner werden konnte, weil es an kriegerischer Nachkommenschaft gefehlt hat.
So ist vielleicht die soziale Akzeptanz der Homosexualität in der Antike zu verstehen, mit der sich auch Platon – gleichwohl sehr ambivalent und widersprüchlich – ausführlich beschäftigt hat.