124 Vom Denken V
Vom Namen zum Begriff und der Wonne des Denkens
Das einfache Abschreiben des Hauptinhalts bewirkte in mir schon ein großes Interesse an der Sache, denn indem ich nun das Blatt, auf welchem ich den in dem Buch enthaltenen Inhalt niedergeschrieben hatte, beim Lesen des Buches vor mich hinlegte, erhielt ich dadurch den Vorteil, dass ich bei dem Einzelnen nie das Ganze aus den Augen verlor, welches doch beim philosophischen Denken immer ein Haupterfordernis ist und auch die größte Schwierigkeit macht.
Alles, was ich noch nicht durchdacht hatte, lag auf dieser Seite wie ein unbekanntes Land vor mir, welches genauer kennen zu lernen ich eine große Sehnsucht empfand.
Die Umrisse des Ganzen, das Fachwerk gewissermaßen, war durch die allgemeine Übersicht auf dem Blatt nun auch in meiner Seele gemacht. Ich strebte nun danach, von den Lücken, die ich erst jetzt empfinden konnte, eine nach der anderen auszufüllen.
Und dasjenige, was mir zuerst nur leere Namen gewesen waren, wurden nun allmählich voll gefüllte deutliche Begriffe, und wenn ich nun einen solchen Namen wieder las oder wieder dachte und auf einmal alles so licht und heller wurde, was mir vorher dunkel und verworren gewesen war, so bemächtigte mich meiner ein so angenehmes Gefühl dabei, wie ich es noch nie empfunden hatte – ich schmeckte zum ersten Mal die Wonne des Denkens.
Diese immer währende Begierde, das Ganze auch zu überschauen, leitete mich durch alle Schwierigkeiten des Einzelnen hindurch. In meiner Denkkraft ging eine neue Schöpfung vor. Es war mir, als ob es erst in meinem Verstande dämmerte und nun allmählich der Tag anbreche und ich mich an dem erquickenden Lichte nicht satt sehen könnte.
Carl Philipp Moritz (1756-1793)