175 Jean Paul
Poetisches Denken
Das poetische Denken benützt gerne Bilder, um die Gedanken anschaulicher, das heißt sinnlicher und damit auch emotionaler werden zu lassen. Das Moment der Schönheit und nicht das der Richtigkeit oder Stimmigkeit steht im Vordergrund. Der folgende von Jean Paul 1812 beschriebene Sonnenuntergang setzt sogar einen eigenen Satzbau ein – eher ein Prosagedicht als die nüchterne Beschreibung eines Sonnenunterganges. Diese Sonne schwimmt schwer und schläfrig-schlummernd über ihrem blauen Meer, und sie zieht den Horizont hinunter mit ihrem golden glühenden Glanz in das leere Blau des Abends, der Nacht.
Abenddämmerung
Jetzt brannte und zitterte in zartem Umriss eine Obstbaumallee durchsichtig und riesenhaft in der Abendglut – schwer und schlummernd schwamm die Sonne auf ihrem Meer – es zog sie hinunter – ihr goldener Heiligenschein glühte fort im leeren Blau – und die Echotöne schwebten und starben auf dem Glanz.
Jean Paul
*
Es folgt jetzt die experimentelle Bearbeitung eines anderen Textes von Jean Paul, diesmal geht es um eine Mondnacht. Die romantischen Bilder sind von mir immer wieder ersetzt und gebrochen worden durch Gegenwarts-Bezüge und Lapidaritäten fast im Stile der Popart, so dass sich die Banalität des Alltags mit dem romantischen Zauber trifft und nur wenig kompatibel scheint, weil alles sprachlich auch sehr gegensätzlich ist. Wir haben also eine chaotische Sprach-Mixtur im postmodernen Sinn vor uns.
Im zweiten, selbst-reflexiven Teil greife ich eine Idee von Jorge Luis Borges auf, dass wir immer nur geträumt werden von wer weiß wem.
Der Text mischt reale Beschreibung, romantische Bildhaftigkeit und (irrationale?) Reflexion zu einem surrealen Zauber, der eine künstliche, zugegeben auch manieristische Überkomplexität entstehen lässt, die uns befremdet und unverständlich bleibt. Sie erfordert zumindest eine geduldige Analyse, Satz für Satz wie eine lateinische Konstruktion, um ihren Sinn zu verstehen,was damit gemeint worden ist.
Nichts desto trotz ist dieser Text von einer fachkundigen Jury in Bonn 1997 als preiswürdig eingestuft worden.
Texte träumen
Der Mond liegt in Dresden mit seinem ersten Band wie mit einem Schwanenflügel auf der wächsernen Traube. Wir gehen in den stillen, neblichten Nachsommer-Abend hinaus. Was für eine flimmernde Welt! Durch Zweige und Quellen und über Berge und Wälder fließen blitzend die zerschmolzenen Silberadern des Lichts, welches der Mond aus den Nachtschlacken ausgeschieden hat; sein Silberblick fliegt über die zersprungene Woge und über das rege, glatte Blatt und legt sich fest um weiße Marmorsäulen an und um gleißende Birkenstämme.
Ich gehe in das magische Tal wie in eine mit Nacht und Licht und Laser spielende Zauberhöhle (dieser Text, das Davonschreiben, Auseinandernehmen und Vermischen), wo alle Lebensquellen, die am Tag Düfte, Stimmen, Lieder, durchsichtige Flügel und gefiederte Farben empor geworfen haben, zusammen gefallen nun einen tiefen, stillen Trabant wie einen Golf, wie eine Insel darin anfüllen und tanzen lassen.
Wir sehen die blauen Berge wie im abendlichen Fernseh-Western, deren Gipfel die Last von Zeit und Politik darnieder drückt und auf denen, statt der mächtigen Reklametafeln, nun der Koloss eines wabernden Trockeneisnebels wie in einer glänzend-glitzernden Video-Show aufersteht. Wir blicken über die blass-grüne, unter den fernen, stilleren Sonnen schlummernde Welt und an den Silberstaub der künstlichen Sterne, die von dem herauf rollenden Mond weit weg in ferne Tiefen der Untergrundbahnen und Discotheken der Altstadt vor springen, und wir fangen wie neu geschaffene Engel an zu träumen:
Wir träumen von einem Text, in dem das „Unglück der industriellen Ballungsgebiete“ beschrieben wird. Ein Text, dessen Stringenz und Logik collagenartig immer wieder aufgebrochen wird von heterogenen Einschüben, Abschweifungen, Zitaten und Monstersätzen; von Anspielungen aus Mythologie und Kulturgeschichte, privaten Manierismen und surrealistischen Einbrüchen, von Ironie und Parodie.
Wir stellen uns in diesem Text-Traum die Ängste und Befürchtungen eines durch zahlreiche Katastrophen gebeutelten Zeitalters vor, die Hoffnungen der Menschen in allem Unglück, die zerfallene Gemeinschaft voller Kühlschränke, Waschmaschinen, Konsum, und wir haben den trennenden Riss plastisch vor Augen, der durch alles geht und nur noch Teile, Bruchstücke oder Trümmer zurück lässt.
Wir träumen alle diese Vorstellungen zu Ende wie in einem Albtraum, der uns schließlich erschöpft aufwachen und aufmerken lässt, dass alles zu einem großen Parkplatz der Lebenslangeweile geworden sei, selbst das Denken, selbst die Fantasie.
Wir lesen im Traum das Manifest eines zynischen Intellektuellen und suchen als Gegengewicht dazu Denken und Stil von Jean Paul auf, seine romantischen Visionen, die neblichten Nacht-Sonnen einer flimmernden Disco-Welt, und wir gelangen an den Punkt, wo wir träumen, dass wir träumen, oder (um ein Bild von Borges zu gebrauchen) wir träumen voller Erstaunen den Traum, dass wir selbst immer nur Träumende sind, jetzt vielleicht auch, und schließlich müssen wir sogar feststellen, dass wir geträumt w e r d e n, auch wenn dies recht unwahrscheinlich klingt: von einem Gott, von einem Menschen, von etwas anderem, dass unser Ich ist, unser Schicksal bestimmt – wer weiß*.
*Reinhold Urmetzer, “Glück und Unglück im Paradies”. Dieser Text, von dem nur ein kleiner Auszug wieder gegeben ist, wurde 1997 mit dem Bonner Cicero-Rednerpreis ausgezeichnet. Wieder abgedruckt in: Reinhold Urmetzer, “Ästhetik Band 2” – Kunstbuch.