126 Juvenal 1 (Römische Lektüre III)
Laster und Dekadenz
Difficile est satiram non scribere – Schwer fällt es, die Satire nicht zu schreiben. Dieser Spruch Juvenals ist weltberühmt geworden. Doch von allen bekannten literarischen Zeitzeugen, die im ersten nachchristlichen Jahrhundert aus dem antiken Rom berichtet haben, ist Juvenal wohl auch der bitterste. Sein fünfzehn Jahre älterer Freund und Kollege Martial betrachtete noch mit einem einigermaßen gelassen-ironischen Humor die Zustände der Zeit, auch wenn sein Spott gelegentlich ins Aggressiv-Zynische umzukippen droht. Juvenal hingegen klagt nur noch an.
Sein Werk gilt als schwierig übersetzbar. Wer sich an dessen Gedichtform mit griechischen Metren hält oder sie sogar nachzuahmen versucht, läuft Gefahr unverständlich zu werden. Ich habe mich also für die Prosafassung von Harry C. Schnur in der Reklam-Ausgabe entschieden, auch wenn die Gedichtform dabei meist aufgegeben werden musste*.
Satiren im umgangssprachlich-herkömmlichen Sinne unserer Zeit sind Juvenals Texte ebenso wenig. Es fehlt Ihnen der Humor, das Bissig-Übersteigerte. Stattdessen trifft man immer wieder auf Anklage und Kritik, ja sogar auf offen ausgesprochenen Hass etwa gegen Ausländer oder Einwanderer.
Man hat Juvenals Misanthropie biografisch zu erklären versucht. Literarische wie materielle Erfolge blieben aus, wegen einer vergleichsweise kleinen Auseinandersetzung mit einem einflussreichen Schauspieler hat man ihn nach Ägypten in die Verbannung geschickt – das Trauma seines Lebens.
Es regierten zwar zu seiner Zeit und nach Domitian, den er noch erlebt hatte, die „guten“ Kaiser Nerva, Trajan und Hadrian. Sie korrigieren zusammen mit der in der Bevölkerung vorherrschenden stoischen Lebensweise das düstere Bild, das auch die beiden Geschichtsschreiber Sueton und Tacitus von dieser Epoche zeichnen.
Juvenals Invektiven gelten jedoch immer noch der Terrorzeit dreißig Jahre früher unter Claudius, Nero und Domitian. Gebessert hatte sich scheinbar nichts. Eher das Gegenteil war der Fall – die Enkel machen weiter so wie bisher; Luxus und Laster breiten sich weiterhin aus.
Nicht in der ganzen Bevölkerung, wie Historiker immer wieder betonen, sondern nur in der begüterten Oberschicht. Dort aber umso mehr, umso spektakulärer. Der Kaiser Caligula verkehrte sexuell mit einem ebenfalls vergöttlichten Pferd, Nero hat vor dem ganzen Hofstaat einen Sklaven geehelicht und ihm die Treue geschworen. Mescallina, die Gattin des Kaisers Claudius, vergnügte sich incognito als Prostituierte im Bordell, und Kaiser Domitian lässt unschuldige Menschen im Zirkus vor einer faszinierten Menge von ausgehungerten Tieren zerfleischen und auffressen.
Juvenal nimmt sich in seinen 16 Satiren der gleichen Problemfälle an wie Martial: Übertriebener Tafel-Luxus, Erbschleicherei, Unzucht, das Elend des Klientenwesens – ich brauche mich nicht zu wiederholen, was schon bei Martial geschrieben steht (vgl. Blogeintrag Nr.114). Die Zustandsbeschreibungen seiner Zeit können uns Nachgeborene heute nicht mehr schocken – im Gegenteil. Manches hat sich noch weitaus befremdlicher hier zu Lande im 20.Jahrhundert politisch wie sozial entwickelt als damals. Dennoch werden die Satiren 2, 6 und 9 heute gelegentlich immer noch zensiert.
Die Akzente sind gleichwohl bei Juvenal etwas verschoben, die Beschreibungen ausführlicher und weit ausholender. Seine Ablehnung, seine Kritik, seinen Hass lässt er immer wieder deutlich werden. Satire Nummer 2 beschäftigt sich mit Männern, die als Transvestiten Frauenkleider tragen, das Frauenfest der „Bona Dea“ samt seiner Orgien mitfeiern oder die heimlich ihren Mann heiraten.
Die 9. Satire lässt einen alternden Kinäden(Lustknaben) ausführlich zu Wort kommen, der sich bitter und detailreich über seinen Liebhaber beschwert, zumal er diesen mit seiner sexuellen Hilfe doch zum Vater gemacht habe. Die Ehe zu dritt habe seinem Patron jetzt als Familienvater erhebliche finanzielle Vorteile gebracht, von denen er als Samenspender gleichwohl nicht habe profitieren können.
Die 6. Satire schließlich setzt sich mit der ungehemmten sexuellen Zügellosigkeit mancher Oberschicht-Frauen auseinander. Sie feiern ihre Orgien unter- und miteinander, treiben zu dritt lesbische Unzucht im Tempel der keuschen Göttin. Auch in den Tempeln der Vestalinnen spielte sich einiges Ehebrecherische ab, da die Frauen dort der staatlichen Jurisdiktion entzogen waren. Sie treten sogar als Gladiatorinnen im Zirkus auf – fast könnte man meinen, die Amazonen kehrten wieder zurück. Wie bei Martial wird auch bei Juvenal ein ausgeprägter Frauenhass deutlich – selbst und gerade wenn die Frau gebildet war (auch Juvenal blieb unverheiratet).
Ein weiterer Punkt fällt bei Juvenal auf: Man lebt scheinbar nur noch für Geld und Genuss. Gerichtsprozesse, Götter, Religion oder weltanschauliche Grundsatzfragen werden nicht mehr sonderlich stark thematisiert. Stattdessen widmet Juvenal der Erbschleicherei ein ganzes Kapitel. Die Ehe zu dritt mit einem Sklaven oder einer Hetären wird von der Gattin nur mit hohen Geldbeträgen akzeptiert, wie man überhaupt etliche Nebenbeziehungen des Geldes wegen immer wieder zu dulden bereit war.
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Wie glaubwürdig sind nun alle diese wenigen Überlieferungen, die wir aus der Antike erhalten? – Vom Wissenschaftstheoretischen her gesehen sind diese Texte, selbst wenn sie von ausgewiesenen zeitgenössischen Historikern wie Sueton oder Tacitus geschrieben worden sind, “Erzählungen”, neumodisch in der Nachfolge des Philosophen Lyotard mittlerweile „Narrative“ genannt. Sie sind trotz aller archäologischer Funde nicht “objektiv belegbar”, wie so Vieles, ja bis in die Gegenwart fast alles in der Geschichtsschreibung. Man beachte nur den Streit um die Holocaust-Dokumente. Aber die römischen “Erzählungen”, wie auch ich sie ausgrabe, stehen seit bald 2000 Jahren in den Geschichtsbüchern unserer Kultur der Erinnerungen und haben dergestalt das Selbstbild des Abendlandes bis in die Gegenwart geprägt, nicht zuletzt durch Nachahmung, Gegenbewegung, pädagogisches Material. Selbst Caligulas angeblich zoophile Neigungen haben ihre Fortsetzungen unter den Aristokraten und Mächtigen gefunden.
Bis auf den heutigen Tag gehören diese römischen Kaiserbiografien als Negativbeispiele zu unserer abendländischen Identität, zur Moral, zur Tradition. Auch die neuen Herausgeber und Übersetzer der Texte aus unserer Zeit relativieren ihre “Wahrheiten” und betonen immer wieder, dass die geschilderten Zustände nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ständen. Im Gegenteil. Je abseitiger, fremdartiger und grausamer etwas war, umso leichter kommt es in die Schlagzeilen. Wie heute auch erregten grelle Ausnahmeerscheinungen das besondere Interesse der Bevölkerung.
Das Atypische, Groteske, Lächerliche wird auch heute bevorzugt gesucht und gefilmt. Wir wissen, dass es nicht weit von unseren Lebensgewohnheiten Darkrooms mit Lederpeitschen, Swinger-Orgien und Dominas gibt. Aber wir wissen es nur ungefähr, vom Hörensagen, sind erstaunt und verblüfft, dass es tatsächlich so etwas geben kann. Und es bleibt doch deutlich in der Minderzahl.
Auch Tacitus, der berühmte Geschichtsschreiber seiner Zeit, betont trotz allem Pessimismus immer wieder, dass Familie, gute Ehen und Treue weitaus überwiegend in der römischen Gesellschaft vorherrschten. Nicht das Laster.
Man muss auch bedenken, dass im Untergrund der Epoche die Christen immer mehr Zulauf fanden und sich ausbreiteten. Dass gerade diese Gruppe abgestoßen war von den Umgangsformen der Oberschicht, ihrer A-Religiosität, ihrer Graustamkeit, dem Lust-Fanatismus und militärischen Zwang. Dass sie gerade deshalb Antithesen zum antiken Götterglauben, zur Sexual-Moral, zum “glücklichen Leben” selbst Epikurs entwickelten und Askese, Nächstenliebe, Treue als dominierende Werte einzuführen versuchten. Dass die stoischen Ideale wie sexuelle Mäßigung, Recht und Gesetz, Gelassenheit zu den neuen Idealen der Zeit ebenfalls gehörten, denen sich auch Sklaven anschließen durften und überaus zahlreich angeschlossen haben.
Es ging also nicht gar so heftig drunter und drüber, wie man vielleicht angesichts dieser „Dekadenz“-Lektüre annehmen mag.
Wie wird man einmal in 100, ja in 500 Jahren über unser Zeitalter urteilen, das schon so viele Opfer gefordert hat und immer noch fordert?
Wird es dann diese unsere neu sich entfaltende Welt-Zivilisation überhaupt noch geben können?
* Juvenal, “Satiren” Übersetzung Harry C.Schnur (Reclam 8598-8600)