17 Über Jacques Derrida und was in Trochtelfingen /
Über Jacques Derrida und was in Trochtelfingen /
Jacques Derrida lernte ich in einem seltsamen Zusammenhang kennen. Als Musik-Kritiker der Stuttgarter Zeitung hatte ich Anfang der 80er Jahre über ein mehrtägiges Open Air Festival auf der Schwäbischen Alb in der Nähe von Tübingen zu berichten. Es war eine sehr ländliche und fast schon Hippie-nostalgische Atmosphäre an einem kleinen See, von Wäldern umgeben, reine Natur. Der Vollmond stand ruhig und gelassen am Himmel und freute sich über das bunte Treiben. Er gab mir auch das Stichwort für den Titel meiner nachfolgenden Rezension in der Stuttgarter Zeitung.
Ein Zeltdorf war aufgebaut, überall Stände mit illustrem und neuartigem Essen (die Bio- und Ökobewegung war im Entstehen). Wie damals üblich wurden billige Raubdrucke von Büchern und Raubpressungen massenhaft angeboten – es gab wohl keine LP, die man nicht hätte kaufen können zu deutlich billigerem Preis. Reguläre LPs kosteten 15-25 €(umgerechnet), waren also sehr teuer für uns junge Leute.
An einem dieser Stände entdeckte ich auch ein kleines schmales Bändchen mit 60 Seiten, das mich sofort faszinierte. Ein philosophischer Text, vollkommen unverständlich, im Schriftbild vielfältig und mit langen Zitaten zerrissen, eine Abhandlung auch, die sich gegen Ende seitenlang nur mit einem einzigen Nietzsche-Fragment beschäftigte: “Ich habe meinen Regenschirm vergessen“. Dann und wann blitzten im Text ironische Warnungen auf, dass das Ganze in die Nähe einer Parodie, wohl auch einer Persiflage rücken könnte – Achtung Spott! war zu vernehmen.
Dort fand ich auch Monster-Sätze wie
“Sobald die Frage der Frau die entscheidbare Opposition zwischen dem Wahren und dem Nicht-Wahren in der Schwebe lässt, die epochale Herrschaft der Anführungszeichen für alle Begriffe aufrichtet, die zum System dieser philosophischen Entscheidbarkeit gehören, das hermeneutische Vorhaben, das den wahren Sinn des Textes postuliert, für untauglich erklärt, die Lektüre vom Horizont des Sinns des Seins oder der Wahrheit des Seins befreit, vom Produktionswert des Produkts oder vom Gegenwartswert des Jetzt, entfesselt sich die Frage des Stils als Problem der ecriture, die Frage eines spornenden Vorgehens, das stärker ist als jeder Gehalt, jede These und jeder Sinn”(S.35),
Über solch “unverständliche” Formulierungen konnte man sich den Kopf zerbrechen. Sie wurden später in ihrer Hermetik nur noch vom “Zurückziehen der Vorhaut der Eichel” und dem phallokratischen Sexismus des Mannes, was sein Logozentrismus betrifft, übertrumpft.
Das Büchlein hieß “Sporen – die Stile Nietzsches” . Es ging aber hauptsächlich um die Differenz der Geschlechter, um die Frau, um den Mann – dass sie anders sind, anders denken, auch anders lieben möchten.
Diese Thematik war höchst aktuell.
Werden sich die Frauen von den Männern ganz abwenden und einen neuen Amazonenstaat ausrufen? Was geschieht dann mit uns, wir Phallokraten und emotionslosen Logozentriker? Alice (Schwarzer) steht vor der Tür und droht mit ihrem kynischen Knüttel, wenn wir sie noch einmal sexy finden mögen, ihre roten Haare, ihr hübsches Kleid. An unseresgleichen können wir trotz dem wohlmeinenden Zuspruch mancher Frauen immer noch keinen rechten Gefallen finden, nicht wahr. Auch wenn die Männerbewegung illustre Blüten trieb und gewiss hilfreiche Bücher mittlerweile erschienen sind über Zärtlichkeiten unter Männern, erfolgreiche Penetrationstechniken und dgl.mehr.
Das waren die 80er Jahre, und ich als stiller Berichterstatter immer mittendrin. Und so hatte ich Jacques Derrida kennengelernt.
Über Claudius Homolka, einen jungen Architekturstudenten, der gerade aus den USA zurückgekehrt war und in unserer WG lebte, hatte ich auch die postmoderne Architektur studieren können. Ein monumentales neues Gebäude vom britischen Stararchitekten James Stirling als Erweiterung der Stuttgarter Staatsgalerie gegenüber der Oper war gerade im Entstehen, und so schloss sich in mir ein Kreis, welcher sich postmodernes Denken, postmoderne Architektur, zeitgenössische Philosophie nannte.
Ich war gefangen in dieser Falle von Ästhetik, Denken, Mode und neuem Aufbruch. Ich kam nicht mehr davon los.
Derrida trieb fortan und höchst erfolgreich sein Unwesen in der internationalen Philosophie. Besonders erfolgreich waren er und seine Mitstreiter – um nur Baudrillard, Lyotard oder Virilio noch zu nennen, auf den die heute so aktuellen Be-und Entschleunigungstheorien zurück geht- in Asien und in den USA. Während sich in Deutschland alsbald erbitterter Widerstand regte trotz Umarmungsversuchen von Jürgen Habermas. Die Zustimmung war international jedoch groß und umfasste viele Bereiche von Kunst, Mode, Literaturwissenschaft und Denken; sogar Juristen zeigten sich infiziert vom Bazillus der Dekonstruktion.
Selbst Niklas Luhmann äußerte mir gegenüber in einem Interview Respekt und Anerkennung, auch wenn er den meisten Thesen Derridas nicht zustimmen konnte. So erzählte er von einem Symposium über Systemtheorie in den USA “in einem überwiegend feministischen Kreis”(es gab also sogar schon ein “feministisches Philosophieren”), wo Derrida gleich zu Beginn seines Vortrags behauptet hatte, die Bedingung der Möglichkeit von Systemtheorie sei, dass es gar keine Systemtheorie geben könne (Lachen).
Ich füge hier zwei Episoden aus Derridas Wirken an, um seine Vorgehensweise, die sich durchaus nicht in solchen ästhetischen Performances erschöpfte, noch einmal in die Erinnerung zurückzurufen. Das erste Beispiel entnehme ich meiner “Ästhetik Band II” (Kunstbuch) S. 20f. Ich beziehe mich darin auf einen taz-Bericht von Lutz Engelke im Herbst 1985:
Ort der Handlung: Die Cornell University im Staate New York, wo Jacques Derrida neben einer Professur für Philosophiegeschichte in Paris den Titel eines Gastprofessors führt. Ein Vortrag “Über die rechte Hand Heideggers” ist angekündigt, ein Bild des deutschen Philosophen und Wortkünstlers wird verteilt. Bevor Derrida zu reden beginnt, stürmt eine Gruppe wild geschminkter Gestalten in den Saal und skandiert lautstark den Namen Derrida, zusammen mit Paul Feyerabend der neue philosophische Guru, Spurenleser und Chaosdenker unserer Zeit.
Der nun folgende Vortrag hat in seinem sprunghaften Stil und in der assoziativen Manier Methode. Statt sich über die rechte Hand Heideggers auszulassen, bringt der Referent eine gedankliche Abschweifung über den Begriff “Das Geschlecht” bei Fichte und über die Schwierigkeiten, die sich bei einer Übersetzung dieses Terms in andere Sprachen ergeben; das Ganze abwechselnd in deutscher, französischer und englischer Sprache vorgetragen. Nicht genug damit, es folgt eine Flut von etymologischen Entdeckungsreisen in die Wortgeschichte, von Wort-und Zitatspielen und skurrilen Erkenntnissen wie: übersetze man deutsch “Handwerk” ins Französische (metier), so sei die Hand ständig in Gefahr, verloren zu gehen. Und, nach einem überraschenden Einschub über Fichtes Ästhetik, folgte mit überlegenem Lächeln die Behauptung, das reinste Denken des christlichen Abendlandes sei – das Schweigen.
Das zweite Beispiel ist ein Zeitungsbericht vom 23.5.1992 über einen heftigen Streit, der in Großbritannien, dem Mutterland der analytischen Philosophie und seiner Philosophy of Science entbrannt ist anlässlich der Verleihung der Ehrendoktor-Würde an Jacques Derrida:
Die umstrittene Verleihung eines Ehrendoktorats an den französischen Philosophen Jacques Derrida ist dieser Tage durch ein 2:1 Mehrheitsvotum des Lehrkörpers der Universität Cambridge entschieden worden. Im Falle des 62jährigen französischen Philosophen, seit den Pariser Studentenunruhen 1968 Vorkämpfer des “Dekonstruktivismus”, rebellierte jedoch die philosophische Fakultät, die, weil sie relativ klein ist, gar nicht konsultiert worden war. Überdies ist anzunehmen, dass ihre Mitglieder auch die einzigen sind, die Derridas Bücher wirklich gelesen und studiert haben.
Ihrer Meinung nach ist Derrida ein Scharlatan, dessen wissenschaftliche Methoden die normalen Maßstäbe des Beweises und einer nach Vernunftgründen geführten Argumentation zerstöre. Professor Hugh Mellor nannte Derrida einen Nihilisten, der jeglichen Wahrheitsbegriff in Frage stelle. Derrida zu ehren sei, als ob man einen pyromanischen Süchtigen zum Chef der Feuerwehr wähle (…)
Der Derridaismus bekämpft die Ansicht, dass ein Autor bestimme, was seine Worte bedeuten. Vielmehr zeige der verborgene Sinn eines dekonstruierten Textes, dass der oberflächliche Sinn nicht der eigentliche sei. Wahrheit sei, was der Kritiker da hinein verlege und jede beliebige Interpretation sei so gut wie jede andere.
Von Seiten der Befürworter wurde betont, dass Derrida seine Gegner gezwungen habe, sich ihrer eigenen Ideen kritischer bewusst zu werden und daher Dank verdiene (…) Der konservative “Daily Telegraph” kommentierte nicht ganz unzutreffend, die Universität Cambridge habe mit ihrem Votum offenbar vorübergehend ihren Verstand verloren.(Roland Hill, StZ 23.5.1992)
Neben Jacques Derrida schätze ich ebenso sehr, vielleicht sogar noch ein wenig mehr den Schweizer Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend, der viele Jahre lang den Lehrstuhl von Herbert Marcuse in Berkeley (California) inne hatte.