143 Arbeitsgeräte
Collage einer nach-westlichen Kultur*
Dass das post-amerikanische Zeitalter so schnell Realität werden könnte, habe ich mir beim Abfassen dieser “Arbeitsgeräte” nicht denken können. Sie sind meinem 2.Band der Ästhetik entnommen (” Kunstbuch”) aus dem Jahre 2004 und formal wieder dem französischen Denken verpflichtet.
Dass mittlerweile sogar die allgemeinen Menschenrechte in Frage gestellt, Ideen der Aufklärung als “eurozentrisch” diskreditiert und die ganze abendländische Kultur relativiert, ja bekämpft werden könnte, habe ich mir ebenso wenig vorstellen können. Sogar Russland stellt “eurozentrisches” Denken bereits in Frage, etwa unsere Sexual-Moral.
Wer wird dieses unser abendländisches Zeitalter ablösen wollen, ablösen können? Neue Welteroberer im Namen einer neuen Gottheit mit ihrer archaisch-animalischen Aggressivität, ihrer weltanschaulichen Eindimensionalität?
Das große Reich China, welches angeblich mit seiner Digitalisierung sogar die Amerikaner in wenigen Jahren überholt haben und mit ganz anderen Werten da stehen wird trotz Marx & Co?
Oder vielleicht doch eher noch und schneller die modernen Sozialingenieure einer weltweit im Aufbau begriffenen Technokratie, die mit ihren undurchschaubaren Steuerungsstrategien uns bereits fest in ihrer Hand haben, zumindest was die Vorstellungen von Gehorsam, Wohlleben und Glück betrifft?
Dann sind meine “Arbeitsgeräte” tatsächlich blauäugig und naiv zusammen geträumte Utopien eines Denkens, das nur noch am Rande existieren wird ähnlich den “Wilden” in Huxleys Roman “Schöne neue Welt”, eines Denkens, das zum Selbstzweck, vielleicht sogar zur l‘art pour l‘art wird in einer so brüchigen Zeit.
Doch wie kann Theorie zur politischen Praxis werden? Nur noch mit Gewehr und Gewalt ?
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I Die Offenheit: Nichts ist abschließbar auf Dauer, kein Gefängnis unzerstörbar, jede Grenze überschreitbar, zumindest im Traum. Jede Diktatur und jedes Regime gegen den Willen des Volkes bricht einmal zusammen, jede Mauer wird einstürzen und die elektronischen Sicherungs-und Überwachungssysteme, die Systeme zum Schutz der Mächtigen sind, werden abgeschaltet werden.
Jedes Denken, jede Sprache, jede Lebensform wandelt sich ununterbrochen. Deshalb müssen alte Sprachen, ihre Fragestellungen und Lösungsvorschläge immer wieder neu gelernt, studiert, dechiffriert, ins Handeln übertragen und verstanden werden – wir vergessen so schnell. Auch frühere Lösungsmöglichkeiten können wieder brauchbar werden.
II Das Pluriversum: Jeder lebt in seiner eigenen Welt. Das ist: in einer anderen Welt. Mit eigener Sprache, eigenem Verstehen, mit eigenen Werten, eigener Kunst, eigenen Vorstellungen von Glück, von Befriedigung. Es ist die Einsamkeit in der Fülle, im überschäumenden und zusammenbrechen Maß, die Mannigfaltigkeit des Lebens.
III Alles geht: Jede Lebensform, sofern sie aus freiwilliger Entscheidung und ohne Gewalt funktioniert, ist gleichwertig neben den anderen, selbst denen mit umgekehrtem Vorzeichen, den Gegenbildern, dem Widerpart.
In diesem „Alles geht“ muss jeder seinen eigenen Weg finden, angepasst an die Wünsche und Sorgen, Hoffnungen und Träume der anderen um einen herum und von sich selbst.
IV Destrukturierung: Dogmatische Positionen zum Wanken und Einstürzen bringen mit ästhetischen Kunstgriffen, mit Rhetorik, Geschichte und Fantasie. Alles Gewisse wird ungewiss und zerfällt in Heterogenitäten, in Isosthenien.
Strukturen aufblähen, fingieren, simulieren, sie destabilisieren, an den Ecken und Enden ihrer Lebensform ansägen, sie vermischen, brechen, ironisieren, in Frage stellen und abgleiten lassen.
Risse vergrößern nicht nur in den Denkmälern der Zeit.
V Indifferenz: Gleichgültig bleiben bei Entscheidungen zwischen den gleichwertigen Gegensätzen (Isosthenien). Widersprüche aushalten lernen und stehen lassen, sie nicht gewaltsam aneinander angleichen oder sie zu einer krampfhaften Synthese, einem billigen Kompromiss, einem wackligen Konsens bringen.
Isosthenien bilden, beide Seiten der Waage füllen und im Gleichgewicht halten.
Wahrheit herrscht immer nur von Fall zu Fall. Das Bemühen um Konsequenz, um Kommensurabilität ist oft müßig – Widersprüche akzeptieren im Pluriversum der Möglichkeiten (das Chaos) und nicht immer sofort nach Versöhnung oder Übergang, nach Verbindung und Vermittlung suchen.
Skeptisch bleiben gegenüber Abstraktionen, Allgemeinbegriffen und Verallgemeinerungen – in ihnen schlummert die ausschließende Gewalt der Dogmatik, des Fanatismus, der Konsequenz. Und: Skeptisch bleiben auch gegenüber der Skepsis. Dieser Widerspruch, diese Aporie existiert schon seit langen Zeiten und ist nicht lösbar, sondern von der Natur (unserem Geist), dem Schicksal oder Gott erfunden, damit wir nicht übermütig werden.
Deshalb noch einmal die Aufgabe an die Künstler: Isosthenien entwickeln.
VI Die Ruine: Jedes Denken, jedes Leben ist eine Ruine, die auf ein Ende ebenso wie auf einen Anfang, das Neusetzen, Zeugen, Erfinden und Neuschaffen hinweist. Deshalb sind Neuschöpfungen, Fantasie und Kreativität wichtige erzieherische Kategorien unserer Lebensformen; jeder Mensch besitzt die Fähigkeit, ein Künstler zu sein. Eros ist der Gott des Zeugens. Sein Begleiter und Untergott ist Pan, der zwielichtige Gott der Lust.
VII Das Labyrinth: Unsere Handlungen, mit denen wir unser Leben gestalten und in denen die Regeln unserer Lebensform deutlich werden, sind dauernd verstrickt in das Scheitern, den Irrtum, das Nichtwissen, in die Komplikation, die Grenze, die Unfähigkeit und das Ende. Imaginär verfolgt uns so dauernd ein Minotaurus, der uns keine Ruhe gönnt.
Doch es gibt auch den Traum von einem Ariadne-Faden, welcher uns den Weg finden lässt, die Sprache und Spur eines vergessenen oder verborgenen Gottes, seine Aufzeichnungen in der Welt, das Geheimnis und Verschlüsselte, worüber uns kein Urteil zusteht.
VIII Die Maske: Jenseits der Maske des Intellekts steht der Körper mit seinen seismographischen Antennen, steht das Begehren, halten sich Verlangen, Wunsch nach Befriedigung, Zufriedenheit und Glück immer wieder versteckt.
IX Das Chaos ist die Summe aller Möglichkeiten. Es kann ein positiver Zustand sein im Sinne eines verschwenderischen Überflusses, es ist Reichtum, Vielfalt und Neubeginn. Nur: wir müssen richtig und vorsichtig wählen und aussuchen lernen. Denn auch das Negative hält sich im Chaos versteckt.
X Die Kunst ist der Spiegel unseres Ich, unserer Existenz, unserer Lebensform in der Welt. Es ist das Gemälde und das selbst eingerichtete Zimmer, das neu gebaute Haus und die Erziehung der Kinder; es ist Musik machen und reproduzieren, Blumen brechen, Kochen und Backen, Erfinden und Neusetzen, Träumen, die Selbst-Stilisierung und der tägliche Frühsport im Park um halb Acht. Die Kunst bildet wie das Leben eine Einheit von Körper und Geist, Sinnlichkeit und rationalem Erkennen, das komplementäre Zusammengehen der Gegensätze.
XI Die Collage einer nach-westlichen Kultur wird also sein: assoziativ, offen, beweglich, spezifisch und Doktrin-los. Nach-westliche Menschen werden sich im Pluriversum wie in einem Mosaik bewegen, und sie werden Mosaik wie Collage sein, hin und her pendeln zwischen den Welten von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, von Ideologie, Überzeugungen und Wahrheit.
Die Offenheit wird die Maske hinterfragen und relativieren.Von Fall zu Fall werden Wahrheiten existieren und dann auch wieder vergehen.Die Suche nach überzeitlichen Gültigkeiten wird dennoch ein dauerndes Anliegen bleiben.
Die Kunst wird aus dem Chaos ihre Energie gewinnen. Ruine und Labyrinth verweisen uns auf die schöpferische Indifferenz: Dass alles akzeptiert werden kann innerhalb gewisser Grenzen, dass jede Position auf wackligem Grund nur sich behauptet, dass man vorsichtig bei Veränderungen und kreativ sein soll.
*Diese Anregungen verdanke ich Paul Feyerabend und Karl Otto Apel