139 Über Wiederverzauberung
Mailand Tagebuch (1)
Marianne Pape macht sich auf den Weg nach Mailand. Sie ist die Artdirektorin des Deutschen Pavillons dort auf der Internationalen Weltausstellung Expo 2015. Auf Twitter habe ich sie schon öfter vorgestellt, wie sie in ihrem Atelier mächtige Blöcke und Skulpturen bewegt, überdimensional große Fotos an die Wand pinnt und mit allerlei Kunst eine wunderbar chaotisch-verzauberte Atmosphäre hat herstellen können.
Die auch mich verzaubert und inspiriert hat (Ihr wisst mittlerweile, dass ich ein Anhänger des Chaos und seiner positiven kreativen Energien bin).
In diesem Atelier in der Nähe des alten Theaterhauses in Wangen ist auch die Idee einer Kunstausstellung in Form einer Installation mit Skulpturen, Fotos, Bildern, Texten und Musik entstanden. Mit ins Boot genommen haben wir mit ihren Grafiken, Zeichnungen und Collagen auch Maria Grazia Sacchitelli, eine Künstlerin, die in Mailand aufgewachsen ist.
Der Titel unseres Kunstprojektes mit den einzelnen Kapiteln lautet:
Vom Wiederfinden des Himmels und der Erde
1 Bruchstücke und Erinnerungen
2 Flaschenpost(Gesang der Meeresgöttin Thetis)
3 Der Schimmer des Himmels der Vergangenheit
4 Erzählungen der Erde
5 Erzählungen des Himmels
6 Mailand einen Augenblick
Die Texte, meist in Form von Prosagedichten, sind alle bereits fertig und werden jetzt noch ins Italienische und Englische übersetzt. Es ist auch eine Publikation von Grazias Bildern (sie ist übrigens auch eine großartige Poetin!) zusammen mit meinen Texten geplant. Auch eine Musik-Komposition ist im Entstehen, der Gesang der Meeresgöttin Thetis (zusammen mit Tanz). Vielleicht findet auch sie einen Platz in der Installation.
In Ostende am stürmischen November-Meer des letzten Jahres fing alles an und entwickelte sich nach meinen Besuchen in den Ateliers von Marianne Pape und Grazia Sacchitelli immer weiter, verdichtete sich schließlich zu einem Konzept, zu einem umfassenden Gebilde mit Worten, Bildern, Texttafeln, Skulpturen und Musik.
*
Mitten in der Nacht habe ich deine Samenkörner studiert, die du mir Tags zuvor zugeschickt hattest, Marianne. Ich wollte bei der Betrachtung der Bilder schon aufgeben, erschlagen von der Schönheit dieser Farben und Formen. Unser Sohn war wieder in der Stadt unterwegs, wir voller Unruhe und Sorge.
Doch dann kamen die Worte. Sie näherten sich mir langsam, fast zärtlich. Sie sprachen mit mir, zögerlich, aber auch fest und bestimmt. Ich habe den Anfang gefunden, den Anfang des Wiederfindens von Himmel und Erde.
Auch eine „Message“ gibt es bereits, wie und inwiefern unser künstlerisches Projekt sich abgrenzt und abhebt von den Ideen des Deutschen Pavillons.
Das wieder von der UNESCO ausgegebene Leitmotto der ganzen Ausstellung lautet: Feeding the World / Energy for Life.
Vom Wiederfinden des Himmels und der Erde
Feeding the Planet / Energy for Life
Ich denke, wir sollten als deutsche Künstler und Kunstbotschafter nicht ein arrogant-selbstbewusstes Deutschlandbild vertreten, ein Deutschland der Perfektion und schulmeisterlichen Souveränität, das so oft bewundert, beneidet, gelegentlich abgelehnt, auch sogar gehasst wird. Wir sollten eher die Brüche und Risse in diesen glänzenden Fassaden aufzeigen, die sogar verallgemeinerbar unsere ganze westlich Kultur betreffen und problematisch werden lassen.
Risse voller Poesie (auch das gibt es in Deutschland), des Zweifels und der Verunsicherung, ja auch Verstörung, wie sie letztmalig und international sehr erfolgreich in der Zeit des Neuen deutschen Films gezeigt worden sind (Werner Herzog, Wim Wenders, Edgar Reitz u.a.).
Wer schon, wenn nicht die Künstler, die doch das Ganze im Auge behalten müssen, kann dem all umfassenden und fast schon alles beherrschenden gegenwärtigen Ökonomismus der Zeit noch gegenüber treten, ihm entweichen, seine Schäden, Verwerfungen, Verzweiflungen noch aufzeigen? – Selbst auch auf die immer deutlicher werdende Gefahr hin, dass diese Künstler nicht mehr gehört, nicht mehr verstanden werden können?
Proömium
Der Himmel der Vergangenheit ist leer.
Stahlhütten, Steinkohlegruben und
Kraftwerke sind verschwunden.
Dies Zeitalter ist vorüber, die
Zeit der Schwerindustrie und
Kernenergie, der Flugzeuge und
Autobahnen, sie ist
vorbei.
*
Die Götter sind im Exil.
Es gibt sie nicht mehr.
*
Ob man klagen,
darüber traurig sein soll,
fragst du.
Ich weiß es nicht.
Irgendetwas schimmert noch
in der Ferne, in der Ferne des
leeren Himmels ohne /
Ein Himmel,
der nicht mehr dieser Himmel
jetzt ist.
*
Leben will leben und
lieben mit seinen
Farben, Formen, Vulkanen und Meeren.
Du siehst Wiesen, Wälder und Gärten.
Die Menschen sind schön.
Alle rufen dir zu.
Wir kennen ihre Botschaft, verstehen ihre
Zeichen. Doch wir hören sie nicht.
*
Ob sich das
Warten lohnt?
Anfang von Kapitel 3 “Vom Schimmer des Himmels der Vergangenheit”