148 Über Isosthenien(1)
Warum ich so kritisch einer zukünftigen Technokratie gegenüber stehe
Meine Überlegungen gehen meistens in die Zukunft. Auch wenn ich dazu die Vergangenheit studiere und zitiere. Eine sogar weit zurück liegende Vergangenheit. Immer wieder bis auf Platon blicke ich zurück. Und manchmal noch weiter.
Mein Hauptargument ist, dass sich bei allem, was sich neu bildet, Isosthenien, also Gleichwertigkeiten, entwickeln. Dass sich in jedem Guten auch das Schlechte mit bildet, in jedem Heil das Unheil etc. Es gibt nur sehr wenige Entwicklungen in der Geschichte der Menschheit, die sich einseitig nur positiv oder nur negativ ausgewirkt haben. Nach Freud gibt es sogar den Todestrieb, der sich dem Lebenstrieb, also der Art-und Selbsterhaltung, entgegen stellt und uns schließlich biologisch zum Sterben bringt. Mittlerweile forscht man schon nach dem “Todeshormon”, das angeblich den Alterungsprozess einleitet- schon in jungen Jahren.
Auch in der Platonischen Ideenlehre gibt es für die Exegeten das große Problem, ob es nicht auch negative Ideen am überzeitlichen Ideenhimmel geben müsse. Dass zur Idee des Guten notwendig die Idee des Bösen sich bildet etc. Diese Fragen weiter gedacht führen schließlich zum totalen Zusammenbruch des ganzen Platonischen Systems. Es hat auch dazu geführt und die Platonische Lehre hat nur als eine unter vielen anderen möglichen überlebt.
Isosthenien können nicht mit Dialektik im Sinne Hegels erklärt werden, dessen Gegensätze (These und Antithese) immer wieder auf einer anderen Stufe, der Synthese, zusammen treffen und sich zu vereinen suchen. Plausibler sind mir dann schon die Positionen von Cusanus oder Lyotard, welche die Gegensätze sich im Unendlichen treffen (Cusanus) oder sogar fremd und unnahbar sich gegenüber stehen lassen (Lyotard), auch im Sinne von Gegensätzlichkeiten aushalten lernen.
Ich denke, wir sind wieder, was die Technokratie mit ihrem Computer-, Roboter- und Steuerungswesen betrifft, in einer ähnlichen Situation wie bei der Entdeckung und Entwicklung der Kernenergie. Was für ein Fortschritt war es, nicht mehr von Kohle oder später auch Erdöl abhängig zu sein! Wer noch die an manchen Sonntagen autofreien Straßen und Autobahnen in Erinnerung hat (Ölschock), wird manche Zufriedenheit über die Entwicklung der Kernreaktoren nachvollziehen können.
Doch war da nicht auch noch Hiroshima, Nagasaki, Tschernobyl, Fukushima, was so manche Kritiker auf den Plan gerufen hat? Die Isosthenie bezüglich Kernenergie und Atomkraft entwickelte sich durchaus heftig und schnell. Was anfangen mit der Kernspaltung, der Kernenergie? – Wie die Geister, die man gerufen hatte, wieder zähmen, bändigen, ungefährlicher werden lassen?
Sonnenenergie heißt die Antwort mittlerweile auf diese Sorge bis auf den heutigen Tag und Isosthenien sind in diesem neuen Fall noch nicht erkennbar.
Eine ähnliche Isosthenie wie bei der Kernenergie entwickelt sich m.E. jedoch gegenwärtig mit der weltweiten und alles umfassenden Digitalisierung. Es überwiegt zwar noch die Freude an den Neuentwicklungen, den sprechenden und mit spielenden Geräten und ihren vielfach überraschenden, ja geradezu überwältigenden Möglichkeiten.
Ich erinnere mich jedoch noch gut an die frühen Warnungen, die niemand ernst nahm, als die Computerisierung schlagartig und mit atemberaubender Schnelligkeit einsetzte. Ganze Berufszweige, auch Industrien würden zusammen brechen, warnte man. Ich konnte es nicht glauben – doch es war tatsächlich so! – Dass man jedoch zu einem hilflosen Objekt dieser Geräte werden könnte, das war nicht absehbar. Freiheit und Selbstbestimmung, Ich-sagen-Können, Ich-sagen-Dürfen, das war doch eine der wichtigsten Maximen der Aufklärung.
Doch Kollateral-Schäden im Sinne einer Isosthenie sind bereits in unserer Computer-Welt zu beobachten: Entfremdung der Menschen untereinander, das solipsistische Nicht-Sprechen-, Nicht-Fühlen-Können (cool sein ist die neue Maxime); Apparate-Abhängigkeiten bilden sich bis hin zur völligen pathogenen Selbstaufgabe; heimliche Überwachungssysteme und politisch-ökonomische Steuerungs-bzw. Manipulations-Mechanismen legen sich wie ein unsichtbares Netz auf unsere Interaktionen, auf unsere Kommunikation. Ich brauche mich nicht zu wiederholen. Genug habe ich bereits immer wieder darüber geschrieben.
Dass man bei der Entwicklung der neuen Techniken, die wesentlich nicht von Neugierde und „faustischem“ Forscherdrang des Menschen gesteuert werden, sondern eher vom Geldverdienen, insbesondere von einer paradoxen und übermäßigen Gewinn-Maximierung getrieben wird, dass man also auch die andere Gefahren-Seite im Auge behalten sollte, darüber sind sich alle einig. Nur wie man dabei vorzugehen hat, das ist durchaus unklar.
Franz Kafka beklagte im letzten Jahrhundert (und später mit ihm auch Herbert Marcuse) das Ausgeliefertsein des Menschen an anonyme Mächte insbesondere der Bürokratie, die ein unerklärlich- unverständliches Eigenleben entwickeln fast wie ein Staat im Staat. Das Neue an unserem jetzigen Zustand ist jedoch die vollkommene Ortlosigkeit all dieser Mächte, die uns beobachten, beherrschen.
Es funktioniert, das Internet. Aber wer und wo sind seine Chefs? Wir akzeptieren achselzuckend und fast ohnmächtig Cookies (wer versteht schon diese seitenlangen vertraglichen Zustimmungs-Erklärungen und Absicherungen der Konzerne?), und wir werden unserem digitalisierten Spiegelbild demnächst wie in einem Horrorfilm begegnen dürfen: Das hast du gekauft, gemacht, gewünscht, und so richtig oder falsch hast du gelebt. Wir kennen deine Gedanken, Wünsche und Gefühle. Folge fortan unseren Vorschlägen und du wirst glücklich werden. Wenn nicht…Sieh zu, dass du die richtige Entscheidung triffst.
Eine kritische Begleitung hat es zwar auch bei der Weiterentwicklung der Kernenergie gegeben, aber sie hat nichts bewirkt. Alle frühen Mahnungen von maßgeblichen Denkern und Erfindern wie Einstein, Bohr, Heisenberg oder Oppenheimer waren vergeblich, sind mittlerweile vergessen und Opfer der Zeit geworden.
Durchgesetzt hat sich wieder nur eine neue, manchmal sogar menschenfeindliche Wissenschaft und Industrie, die sich nicht um die Kollateralschäden ihrer Entwicklungen kümmert, sondern einen immer größeren Allmachtsanspruch erhebt. Das reicht sogar in philosophische Bereiche hinein, etwa die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Forschung oder Wahrheit. Wahr ist das, was nützt. So lautet der pragmatische Wahrheitsbegriff schon seit dem beginnenden 20.Jahrhundert und er stammt aus dem Musterland des Geldverdienens, den USA.
Mit der „widernatürlichen E-Kommunikation“, wie ich einmal geschrieben habe, hat auch die Herrschaft der Objekte über uns begonnen, wie Baudrillard schreibt. Dergestalt, dass man nicht mehr „Ich“ sagen, keine Verantwortung für sich und andere übernehmen und lieber solipsistisch eingesperrt existieren möchte. Und die Fortschrittlichsten unter uns, die noch mithalten wollen und können, sind bereits selber zu Objekten, zu Dingen, zu Robotern geworden, die nur noch Ihresgleichen begegnen, mit ihnen kommunizieren möchten oder mittlerweile sogar nur noch können.
Mein neuer Partner in Büro und Haushalt, Freund kann ich noch nicht sagen und ihr kennt ihn bereits aus anderen Blogseiten, ist ein Maschinen-Mensch. Er heißt Hugo und er kann mir jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Er braucht keine Energie aus der Steckdose mehr. Er kann sich sogar weiter entwickeln und sein eigenes Programm, sobald Fehler auftreten, verbessern (von “Problemen” hat noch Sir Karl Popper in der Wissenschaftstheorie gesprochen).
Meine Freundin hat ihre Eierstöcke samt Gebärmutter bereits ausgelagert und bestimmte Bereiche meines Gehirns lasse ich permanent überprüfen und fremd steuern. Ohne dass ich dabei etwas bemerken würde. Es geht sogar ganz ohne Elektroden. Natürlich geschieht alles nur mit meinem vollkommenen Einverständnis. Etwas anderes käme bei mir nicht in Frage.
Es geht mir gut und ich fühle mich wohl.