151 Lukian 2 (Kynismus)
Hunde, hat man sie damals genannt. In unserer Zeit sagt man im Englischen Punk, Dreck, zu ihnen. – „Zynismus“ ist etymologisch zwar eine direkte Ableitung vom griechischen Originalbegriff, hat aber nur noch relativ wenig mit dem Kynismus in der Zeit um 400 v.Chr. zu tun.
Unangepasstheit, Andersartigkeit, Widerspruch gegen das Ganze war immer eine schwere Bürde für den einzelnen. Vor allem wenn man in einer Polis, in einem Stadtstaat lebte, wo Staatsveranwortung, militärische Werte und Unterordnung an das Ganze von den führenden Politikern immer wieder als Staasraison eingefordert worden sind.
In Lukians Satire„Verkauf der philosophischen Schulen“(1) wird der Kyniker Diogenes von Sinope vorgestellt. Nicht sein Lehrer Antisthenes, ein Mitstudent und Rivale Platons innerhalb der Jünger-Schar um Sokrates. Vielleicht weil Diogenes noch um einiges provozierender und spektakulärer war als sein Lehrer und auch andere seiner Art(2). Er lebte „wie Herkules im ewigen Krieg mit der Wollust, aber nicht auf Befehl eines anderen“ (wie Herkules), sondern freiwillig hat er sich vorgenommen, „die Welt von dieser Pest zu reinigen“. Als „Arzt ihrer Leidenschaften“ sieht er sich an, als ein „Befreier der Menschheit, als ein Prophet der Wahrheit und Freimütigkeit“.
Lukian schreibt über die wesentlichsten Eigenschaften, die ein Kyniker besitzen muss (in der Wieland-Übersetzung aus dem Jahre 1798):
Deine Sprache muss etwas Fremdes und der Ton deiner Stimme etwas Knurriges und Hündisches haben. Dein Gesicht muss in die Länge gezogen sein, und dein Gang soll so sein, wie sich‘s zu einem solchen Gesicht schickt. Mit einem Worte, alles wild und tierisch. Aller Scham, Anständigkeit und Bescheidenheit musst du auf immer den Abschied geben und keinen Begriff davon haben, wie man über etwas erröten kann.
Der wichtigste Punkt in der Philosophie der Kyniker ist die Freiheit. Daraus abgeleitet sind die Begriffe Unangepasstheit und Bedürfnislosigkeit.
Ein Kyniker „ist überall und unter allen Umständen frei“ und er will frei bleiben. Ein freier Mann macht sich nicht abhängig vom Begehren, von der Lust. Er ist also gegen Luxus und Lust (sexuell “Wollust”) und für Bedürfnislosigkeit. Das ähnelt in der Tat den späteren buddhistischen Lehren, wonach das Leiden immer ein Resultat oder eine Funktion des Wollens, des Begehrens ist, weil jede Befriedigung des Begehrens alsbald neues Begehren, sogar gelegentlich noch als Steigerung, evoziert und so fort (Sucht). Wer auf das Begehren verzichtet, also bedürfnislos lebt, ist hingegen kein Opfer seiner Wünsche, sondern frei.
Entsprechend verhielten sich die Kyniker im hellenistischen Weltreich. Schlecht, ja schmutzig gekleidet und mit einem Rucksack auf dem Rücken für wenig Proviant nur lebten sie in ärmlichsten Verhältnissen in den Tag hinein. Wie die Anarchisten waren sie gegen jegliche Art von Staatsform. Sie bezeichneten sich als Weltbürger, als Kosmopoliten, und waren deshalb „überall zu Hause“. Sie liebten die Provokation. Ein Kyniker sieht schlecht gelaunt und gefährlich aus, schreibt Lukian. Man hat Angst davor, ihm zu nahe zu kommen, er hat immer einen Knüppel bei sich zum Drauflos-Schlagen.
Die Unangepasstheit und Ablehnung gesellschaftlicher Konventionen gegenüber geht sogar so weit, dass in aller Öffentlichkeit masturbiert wird. Die Masturbation sei eine „Natur-Notwendigkeit“, sexuelle Lust war zum Kinder zeugen und als Provokation erlaubt:
Verrichte ohne Angst vor aller Welt Augen, was niemand sogar im Verborgenen tun möchte(3), und habe keinen Begriff davon, wie man über etwas erröten kann. Wenn du der Venus opferst, so geschehe es immer auf die widersinnigste und lächerlichste Art – Liebe, Ehe und Familie werden strikt abgelehnt.
Der Kyniker hat ein aggressiv-arrogantes Auftreten, was in der Bevölkerung jedoch durchweg als positiv angesehen und mit Freimütigkeit gleich gesetzt wird:
Du musst frech und trotzig sein und einem jeden ohne Ausnahme, vom Fürsten bis zum gemeinsten Manne,Grobheiten ins Gesicht sagen. Denn das wird aller Augen auf dich ziehen und dir den Namen eines großherzigen Mannes verschaffen. Du wirst ein Wundermann in den Augen des Volkes werden, wenn du nur unverschämt und frech genug bist und tapfer schimpfen gelernt hast.
Freiheit wird mit königlicher Unabhängigkeit gleich gesetzt:
Du erscheinst überall, wo die meisten Menschen beisammen sind, aber tust immer so, als wenn du mitten unter ihnen allein seiest und erkennst niemanden, weder einen Einheimischen noch einen Fremden, für deinen Freund. Denn dies würde deiner königlichen Unabhängigkeit auf einmal ein Ende machen.
Die Kyniker lehnten auch jede Art von Bildung ab.
Lukian kritisiert diese Lebensform als „schändliches und viehisches Glück“:
Diese Glückseligkeit ist ohne alle Mühe zu erhalten und steht zu allen Zeiten in eines jeden Gewalt. Denn du brauchst dazu weder Gelehrsamkeit noch Nachdenken noch andere solcher Dummheiten, sondern du gehst unter allen Wegen, die zum Ruhm führen, den kürzesten. Du kannst der gemeinste Kerl ohne alle Erziehung und Kenntnisse sein.
Bekannt geworden ist das Zusammen-Treffen von Alexander dem Großen und Diogenes. Alexander wollte den berühmten Philosophen in Athen einmal persönlich kennenlernen. Doch dieser kümmerte sich gar nicht um den größten Herrscher der Welt. „Geh mir aus der Sonne“, ist der einzige Satz, den Alexander von Diogenes zu hören bekommt.
Am Ende eines solchen Lebens in Freiheit, Bedürfnislosigkeit und Unangepasstheit und am Ende auch eines solchen Kampfes gegen Luxus und Lust steht die freiwillige Selbsttötung: Endlich, wenn du des Possenspiels müde bist, so iss einen rohen Polypen oder einen Tintenfisch auf und stirb.
Natürlich sind solche Menschen ungeeignet für einen Beruf. In Lukians Erzählung wird Diogenes schließlich an einen Käufer als Ruderknecht oder Gartenarbeiter verkauft, aber nur „zu einem sehr niedrigen Preis“. “Dies ist die Glückseligkeit, die ein Kyniker dir garantieren kann“, spottet Lukian.
1 Lukian Werke Bd.1 S.214ff (Aufbau-Verlag 1981)
2 Von Antisthenes, der eine Schmähschrift gegen Platon verfasst haben soll, stammt der bekannte Ausspruch: Lieber wahnsinnig werden als Lust zu empfinden, oder auch der Satz: Man soll um der Lust Willen niemals einen Finger rühren.
3 Wieland scheut sich an dieser Stelle, der Zeit entsprechend, den Begriff „Masturbation“ in die Übersetzung aufzunehmen.
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