153 Lukian 4 (Idealismus)
Sokrates/Platon (Teil 1)
Wir sind zwischenzeitlich mit unserer Lukian-Lektüre im illustren Sokrates-Kreis in Athen angekommen. Mitstudent in dieser kleinen Jünger-Gruppe um den Meister-Denker ist Aristipp. Sein Lebenssinn definiert sich aus Spaß, Vergnügen und Lust (s.Blogseite 152). Um Sokrates kennen zu lernen und zu hören ist er aus dem weit entfernten Kyrene nach Athen gekommen.
Dann haben wir noch in der Gruppe Antisthenes, Platons Intimfeind. Antisthenes mag den Meisterschüler von Sokrates nicht, kommt mit diesem Menschentyp und seinem Denken nicht klar. Platon ist ein junger Mann aus höchsten Kreisen. Berühmte Politiker und Staatslenker zählen zu seinen Vorfahren. Er ist ein Aristokrat, gebildet-eingebildet und besserwisserisch wie kaum ein anderer, auch wenn er, das muss zugegeben werden, gute Ideen hat und sehr scharfsinnig ist. Vor allem liebt er die Mathematik und die Sprachlogik.
Antisthenes, der Kyniker, wird einige Jahre später eine Schmähschrift gegen Platon publizieren, über die sich heute noch Exegeten und Interpreten den Kopf zerbrechen. Was daran stimmt und was nicht. Platon nennt er darin einfach „Sathon“ („Dickschwanz“), und in seinem Text gibt es einige Anmerkungen über Knabenliebe, Enthaltsamkeit etc., die auch deutlich machen könnten, warum Platon ebenfalls die Lust schließlich so in Frage gestellt und nur in ihrer „Zeugungs=Züchtungsfunktion“, muss man wohl sagen, akzeptiert hat.
Platon ist der Star in dieser kleinen Gemeinschaft. Auf Anraten von Sokrates hat er mit dem Dramenschreiben ganz aufgehört. Gedichte schreibt er jedoch gelegentlich immer wieder. Er liebt Sokrates abgöttisch. In vielen seiner späteren Werke, die alle eine überzeitliche Gültigkeit besitzen, weil sie sich mit überzeitlichen Ideen befassen (zum Beispiel wie ein Mensch oder Staat gut, gerecht und schön leben kann), hat er diesem ein Denkmal gesetzt. Immer wieder taucht nämlich Sokrates in Platons Dialogen und kleinen Theaterstücken als Hauptperson und Vordenker auf; aber auch als ironischer Nichtwisser, Spötter oder Mahner wird er gezeigt. Selbst wenn Platons persönliche Meinung und Lehre dahinter steht.
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In Lukians Text(1) wird Sokrates (das ist Platon selbst) als ein „Meister in der Kunst zu lieben“ vorgestellt (einschließlich der Knabenliebe). Diese Liebe ist jedoch eine rein geistige. Wenn ich eine Blume schön finde, bewundere und sehe ich mit meinem geistigen Auge nach Platon/Sokrates die Idee der Schönheit und lasse die Blume vielleicht sogar unberührt (was eher der östlich asiatischen Mentalität angeblich entsprechen soll).
Wenn ich einen Menschen liebe, begegne ich der (wieder göttlichen) Idee der Liebe und Schönheit und lasse diesen Menschen vielleicht sogar – zumindest als Philosoph – auch ganz unberührt. Wie Sokrates den Alkibiades. Lukian spielt damit auf die Alkibiades-Rede in Platons Dialog „Das Gastmahl“ an, wo dieser junge Mann, verliebt in Sokrates, mit seinen sonst so erfolgreichen Verführungskünsten aufgeben musste: “Er lag neben mir wie ein Bruder, wie ein Vater”, wundert sich Alkibiades.
Merkur: Hier, meine Herren, biete ich euch einen tugendhaften, weisen und unsträflichen Charakter an.
Käufer: Was kannst du denn am besten?
Sokrates: Ich bin ein Knabenliebhaber und überhaupt ein Meister in der Kunst zu lieben.
Käufer: Als ein Knabenliebhaber bist du kein Mann für mich, denn ich brauche einen Lehrer für einen hübschen Jungen, den ich zu Hause habe.
Sokrates: Und wo wolltest du einen tauglicheren Mann zur Aufsicht über deinen schönen Sohn finden können? Denn du musst wissen, dass meine Liebe nicht auf das Körperliche geht. Ich finde nur die Seele schön. Es hat nichts zu sagen, wenn alle auch unter einer Decke bei mir liegen: Du wirst aus ihrem eigenen Munde hören, dass ich Ihnen nicht Leides tue.
Käufer: Wie? Ein Berufsliebhaber, wofür du dich ausgibst, sollte, wenn er unter eine Decke mit dem Geliebten läge, es bloß mit seiner Seele zu tun haben? Das machst du einem anderen weiß!
Sokrates: Ich schwöre dir beim Hund und beim Ahornbaum, dass es so ist wie ich dir sage.
Käufer: Das sind aber sonderbarer Götter, bei denen du schwörst! So gebildet und klug bist du! Noch ein Wörtchen zu deiner Philosophie! Was ist eigentlich die Substanz davon?
Sokrates: Die Ideen oder die Urbilder der Dinge sind die Substanz meiner Philosophie. Denn von allem, was du siehst, von Himmel, Erde und Meer und von allem, was darin ist, stehen gewisse unkörperliche Urbilder außerhalb der Welt.
Käufer: Wo stehen sie denn?
Sokrates: Nirgendwo. Denn wenn sie irgendwo wären, so wären sie gar nicht. Sie sind geistig, nicht körperlich-materiell. Materielle Dinge vergehen schnell und sind nicht überzeitlich.
Käufer: Es ist doch sonderbar, dass ich diese Urbilder nicht sehen kann.
Sokrates: Das geht gleichwohl sehr natürlich zu. Du bist blind an deinem Seelenauge. Ich hingegen sehe sie sehr gut. Ich sehe dich und mich selbst und, mit einem Wort, ich sehe alles doppelt, ich sehe es körperlich und unkörperlich.
Käufer: Den Mann muss ich kaufen, der so weise und scharfsichtig ist. (Zu Merkur) Was verlangst du für ihn?
Merkur: Um zwei Talente sollst du ihn haben.
1 Lukian, Der Verkauf der philosophischen Schulen, a.a.O.S.220f
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Sokrates/Platon (Teil 2)
Was ist Platons Lehre? – Man weiß nie so recht in den vorhandenen Texten, ob es die Meinung von Sokrates oder von Platon oder von beiden ist, die in den Büchern zum Vorschein kommt. Sokrates spielt darauf an, dass man konkrete Menschen, aber nicht die Menschheit, grausame Dinge, aber nicht die Grausamkeit, oder einen Tisch, aber nicht die „Tischheit“ sehen könne.
Abstraktionen von realen Dingen wie die Ideen Platons sind nicht zu sehen und sie existieren dennoch. Sogar in den Wissenschaften (Noam Chomsky) wird die These von den angeborenen Ideen diskutiert. Sie existieren demnach nicht außerhalb der Erde, sondern sind als handlungsleitende Steuerungs-Instrumente unseres Geistes, das heißt auch unserer Sprache und Sprachgrammatik, mittlerweile sogar im Gehirn zu orten. Auch die Idee von Gott scheint so evolutionshistorisch fest in unserem Gehirn verankert zu sein. Wie man damit als erwachsener Mensch umgeht, bleibt gleichwohl jedem selbst überlassen.
In der Menge der Abstraktionen gibt es wichtige und weniger wichtige für das Wohl des Menschen und sein Leben in einer staatlichen Gesellschaft (Polis). Denn wir sind Gemeinschaftswesen, ein zoon politicon, müssen also nach Aristoteles miteinander auskommen. Die Hauptideen dazu sind Schönheit, Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Wichtigkeit der Liebe ist erst 500 Jahre später vom Christentum eingefügt worden, das sich in mancher Hinsicht durch die Vermittlung von Augustinus auch an Platon anlehnt. Diese Ideen leiten unser Handeln, unsere Ziel-Orientierung, unser Denken und Hoffen. Untergeordnet sind diese drei nur noch der obersten Idee: der Idee des Guten, die alles leitet. Diese Idee nennt Platon Gott.
Das ist also die schon mehr als 2500 Jahre alte Ur-Theorie von den Ideen. Alles, was man heute darunter versteht, sind Abwandlungen bis hin zur völligen Verfälschung. Im einfachen Sprachgebrauch ist ein Idealist fast nur noch ein Träumer, ein Fantast, der sich in der Realität nicht auskennt oder zurecht findet. Tatsächlich hat sich der Realismus als Antithese zum Idealismus schon in Athen unter dem Einfluss des Platon-Schülers Aristoteles gebildet und eine eigene Schule gegründet, die der Peripathetiker.
In der Isosthenie der Begriffsentwicklung ist der Materialismus vielleicht die bessere Antithese zum Idealismus. Nur das, was man greifen, sehen, fühlen kann, besitzt demnach Wirklichkeit. Alles andere sind Hirngespinste. Wichtigste Triebfeder unseres Handelns bleibt die Materie, vor allem das Geld. Etwas vornehmer ausgedrückt sagen manche auch “Klassengegensätze” dazu, die zu einer Ungerechtigkeit im Verteilen der Ressourcen, letztlich also des Geldes, führen würden. Jetzt sind wir also schon in der Gegenwarts-Politik mit Sozialismus, Kapitalismus etc. angekommen.
Ob wir bei all unserem Tun nach dem Guten für uns streben? – Gewiss. Niemand strebt nach dem Schlechten für sich. Selbst der Mafioso, den eine Zuchthausstrafe erwartet, strebt bei seinem verbrecherischen Handeln nach dem Guten (für sich und seinen Klan), auch wenn dieses sein Ziel nicht verallgemeinerbar, für alle gültig sein kann. Nur ob wir auch vom Guten geleitet und gesteuert werden in Form eines göttlichen Schicksals – das ist die spätere Interpretation der platonischen Lehre durch das Christentums. Und das ist eine andere Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss.
Jede Art der Antwort darauf wird jedoch m.E. auf dem Glauben an die Richtigkeit der Antwort beruhen. Es ist keine Wahrheit, sondern es ist immer nur ein Glaube, ein Annehmen, auf das wir uns stützen, dass wir die Wahrheit besitzen würden – Atheisten wie Nicht-Atheisten. Alle sind Glaubende, gläubig Glaubende vor ihren jeweiligen Altären. Auch nicht an Gott zu glauben ist ein Wissen, eine Wahrheit, die auf dem Glauben, dem Für-wahr-Halten beruht(nämlich dass es Gott nicht geben kann).
An was glauben wir? – An die Wahrheit. Das ist eine überzeitliche Idee.
Dass unser Glauben oder auch Nicht-Glauben (Unglauben) an diese Idee der Wahrheit entspricht und als wahr oder falsch begründet, bewiesen werden kann.
Also lassen wir uns von der Idee der Wahrheit leiten.
Jetzt gerade auch.