155 Maurice Blanchot (1)
Blanchot lesen: Das Geheimnis
Er verlebte so einige Tage großen Glücks. Von einfacherem Glück und liebevollerer Zärtlichkeit hatte er niemals auch nur geträumt.
Mit ihm wurde er auf einmal zu einem Wesen, über das man gefahrlos verfügen konnte. Wenn er sich seiner bemächtigte, so mit der allergrößten Freiheit. Seinen Kopf überließ er ihm ganz. Bevor seine Worte ausgesprochen wurden, steckten sie schon ununterscheidbar in einem der beiden Münder, so sehr ließ er ihn tun, was er wollte. In der Art, wie er mit seiner ganzen Person spielte und im Fehlen eines jeden Risikos, was ihm erlaubte, diesen fremden Körper so zu behandeln, als hätte er ihm gehört, lag eine so gefährliche Leichtfertigkeit, dass jedermann beklommen geworden wäre.
Handelte er deshalb so ohne Vorsicht, weil er glaubte, er habe es mit jemand Unnahbarem oder, im Gegenteil, mit einem ihm allzu Nahbaren zu tun? Je stärker er sich in sich selbst jedoch zurück zog, desto leichter rückte der andere vor. Er zog ihn an, und er tauchte bereits in das Gesicht ein, als er noch dessen Umrisse zu liebkosen glaubte.
Er sah ihn ihm nur einen belanglosen Mund, übermütige Blicke, zögerliche Reaktionen. Und statt dass er es als unbehaglich empfunden hätte, dass ein Mann, dem er sich nicht nähern konnte, den er nicht einmal im Traum hätte zum Sprechen bringen können, gerne seinen Kopf auf seine Knie legte, vergnügte er sich daran.
Seine Blicke hefteten sich auf ihn. War das ein schamloses oder ein verzweifeltes Spiel? Seine Worte wurden feucht, sogar schwache Bewegungen verbanden sich mit ihnen, während das Organ der großen Stimmungen und Gefühle anschwoll, größer wurde, welchem er vielleicht günstigenfalls eine ungewöhnliche Fähigkeit zum gefahrlosen Mitmachen zuschreiben konnte.
Sein Benehmen war schwer zu rechtfertigen. Jeden Augenblick ließ sich zwischen diesen mit zarten Banden so innig ineinander verschlungenen Körpern eine Berührung voraus ahnen, die die Schwäche ihrer Bindung entsetzlich zur Schau stellen würde. Ja selbst einen Bruch, ein trauriges Ende sogar würde sie hervor rufen können. Innerlich wie äußerlich bestanden beide nur aus Wunden, die vernarben wollten, aus Fleisch, zum Zusammenwachsen vielleicht vernäht. Sie wussten es. Und trotz solcher Veränderungen und Gefahren spielten und lachten sie miteinander weiterhin.
Als er ihm schließlich die Hand entgegen streckte, sagte er zu ihm: Was bist du eigentlich? Wer bist du? Wer könntest du sein? – Ich empfinde Zärtlichkeit, nicht nur für dich, sondern auch für deine Leidenschaften. Ich liebe sie, indem ich die Gefühle liebe, um derentwillen man dich lieben könnte. Ich möchte dich sehen, wenn du alleine bist.
Wenn ich jemals alleine sein und ganz vor dir stehen könnte, antwortete er, indem ich mich ganz von dir entfernen würde, dann hätte ich eine Chance, zu dir zu kommen, oder viel mehr weiß ich, dass dann gerade ich nicht zu dir kommen könnte. Die einzige mir verbleibende Möglichkeit, die Distanz zwischen uns zu verringern, wäre, mich unendlich weit zu entfernen. Ich bin aber schon unendlich weit entfernt von dir und kann mich nicht noch weiter weg von dir entfernen. Sobald ich dich berühre, wenn du alleine bist –
Wieder einmal musste alles neu begonnen werden. Die Enttäuschung, dass er die gewünschte Erklärung nicht bekommen hatte, ließ ihn jedoch gleichgültig bleiben. Er konnte nicht mehr annehmen, er werde ihm enthüllen, was für eine Art Geheimnis es war und das für ihn gleichwohl gar nichts mit einem Geheimnis zu tun hatte.
Andererseits klammerte er sich an den Gedanken, was er über das Geheimnis sagen könnte, werde trotz allem bestehen bleiben, und er wollte ihm unbedingt kund tun, er werde trotz der offenbar ungeheuren trennenden Distanz mit äußerster Kraft auf einen näheren Kontakt zwischen ihnen beiden drängen. Denn mochte auch etwas Schamloses, etwas Spielerisch-Leichtfertiges darin liegen, so lag doch auch eine große Versuchung in seinem Bemühen um die Aussage, was er tun würde mit diesem Geheimnis, und er tue es doch ganz bewusst und ganz bewusst nicht.
Aber war auch nur anzunehmen, er könne das in seiner ganzen Einfalt und Begrenztheit selbst ausführen? Sprechen, doch, er konnte zu sprechen anfangen, in demselben Gefühl von Unsicherheit ihm gegenüber, von Schuld und Scham wie ein Freund, der einen Freund verrät, nicht aussagt, was er weiß, sondern der gesteht, dass er nicht weiß.
Denn er hatte kein Mittel irgend etwas zu sagen, was wahr oder auch nur anscheinend wahr gewesen wäre über dieses Geheimnis.
Mitunter wurde er auch durch das, was er sagte, ohne dass er ihm damit auch nur eine Spur der Wahrheit gezeigt, ohne dass er ihm auch nur die geringste Aufklärung über das Geheimnis vermittelt hätte, ebenso stark in Ketten geworfen, ja vielleicht in noch stärkere Ketten von Unfreiheit und Zwang, als wenn er den Kern seines Geheimnisses bloß gelegt hätte.
Als er erkannte, dass das mühsame Forschen und Suchen und Erklären mit ihm weiter gehen, auch vergeblich sein würde, diese beidseitigen Demaskierungen, Entlarvungen und Unterstellungen, da wusste er, dass er mit ihm nicht mehr mittels Worten und Gedanken sprechen könnte, sondern nur noch mittels der vergehenden Zeit selbst, mit der er sich jetzt enger als je zuvor verband.
Und es griff auch jeder Seufzer – und das war er, immer nur er – geräuschlos in sein ganzes Leben ein, das er ihm entgegen zu setzen suchte. In jedem seiner Argumente, die noch geheimnisvoller waren als seine Existenz, fühlte er die Anwesenheit eines Gegners, ohne den er, für immer reglos, aus Zukunft und Zeit doch hätte ausbrechen können.
So argumentierte er gegen das ihm widersprechende Absolute im Herzen des anderen. Er dachte, mit dem Anzweifeln dieser Gedanken über das Geheimnis auf den Grund der Gedanken und des Geheimnisses zu kommen, nämlich mit seinem vollkommenen Gegner das Geheimnis lösen, verstehen, erkennen zu können. Dieser Gegner, ich sagte es bereits, war die vergehende Zeit, und als er sie geheimnisvoll in sich aufnehmen wollte, kam er zum ersten Mal in ein ernsthaftes Gespräch mit ihm. Ein Gespräch, das nicht mehr Körper oder Geist ansprechen wollte und zum Ziele hatte, sondern nur noch die einfache und nackte Existenz einer einzigen Frage untersuchte, die unentwegt um dieses Geheimnis einer vergangenen wie zukünftigen Zeit kreiste.
Nur unter einer solchen Bedingung war er bereit, in die unbestimmte Form der Existenz seines Gegenübers einzudringen und auch ohne ihn das Geheimnis zu ergründen, zu spüren. Auch wenn ihm alles trostlos und leer vorkam. Verlassene Ufer, zusammen gebrochene Gestade, ein hoffnungslos Suchender, nach einem grandiosen Schiffbruch zurück gelassen von dem sich endgültig und für immer zurück ziehenden Meer –
Beide schwammen weiter, weiter in diesem Meer eines großen Geheimnisses, wo es kein Wasser, kein Wind, keine Fische und auch keine Schiffe gab. Auch kein Ziel, keine Hoffnung, keine Zeit und Zukunft.
Sie schwammen weiter dahin, wie wenn nichts gewesen wäre. Als wenn es kein Geheimnis geben könnte, kein Wasser, kein Wind, kein Meer.
Sogar die große Sehnsucht nach Liebe, ihre Sehnsucht nach Begegnung,Berührung und Kontakt war ihnen abhanden gekommen und vollkommen verschwunden.
Ich empfinde Zärtlichkeit, sagte er noch einmal zu ihm, Zärtlichkeit nicht nur für dich, sondern auch für dein Geheimnis. Ich liebe es, indem ich seine Gefühle liebe, um derentwillen ich dich immer noch lieben könnte.
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Ich habe den Text aus Blanchots schon 1941 geschriebener Erzählung “Thomas der Dunkle” entnommen, ihn bearbeitet, “verständlicher” zu machen versucht, verändert und auf ein Ziel hin konzipiert, um einen Eindruck zu geben von einer Sprache, die es dergestalt im deutschen Sprachraum nicht gibt. Während ihre Intellektualität in Frankreich scheinbar Vorbild-Charakter besitzt sogar für die Sprache der Presse.
Ähnlich wortstark umkreist dieses große Unbekannte auch schon vierzig Jahre früher der amerikanische Schriftsteller Henry James in seiner Erzählung “Das Raubtier im Dschungel”. Wir leben im Dschungel. Das Raubtier verhindert immer wieder, dass es zu einer Lösung des Geheimnisses kommen kann. Es wacht darüber, dass wir nicht zu viel erfahren könnten über Liebe und Glück im Olymp.