158 Tacitus (1)
Geschichten und Geschichtsschreibung
Tacitus war zusammen mit Sueton der Geschichtsschreiber, der unseren abendländisch-christlichen Blick auf die römische Antike maßgeblich geprägt, das heißt auch unbewusst gesteuert, manipuliert hat.
Seine Geschichtsschreibung ist die Geschichtsschreibung von oben, das heißt aus der Sicht der Herrschenden und Führenden. Ihn kümmern weniger Hunderttausende von hin geschlachteten Soldaten, das erbärmliche Leben der Sklaven und Sklavinnen als Freiwild der Mächtigen – gesetzlichen Schutz für sie gab es fast keinen. Sie konnten geprügelt („gegeißelt“), vergewaltigt, hingerichtet werden gerade so, wie es der Pater familias, das bis zu seinem Tod allmächtige Familienoberhaupt, wollte.
Tacitus und Sueton kümmern sich um die Oberschicht, die Aristokraten mit dem legendären Stammbaum ihrer Vorfahren, der sich vielleicht sogar – wie beim vergöttlichten Caesar – direkt von Göttern und Halbgöttern herleiten ließ. Sie schildern Machtmissbrauch, Verfall, Verbrechen, „Dekadenz“. Worte wie Unzucht, Ehebruch, Widernatürlichkeit, oder später auch Unkeuschheit kennen wir im christlich gefärbtem Übersetzungsfilter bis auf den heutigen Tag, wobei bereits Platon den Begriff „Widernatürlichkeit“ in seinen „Gesetzen“ mit Deutungshoheit eingeführt hat. In einer solchen Welt hat sich fast mit Notwendigkeit das Christentum als Isosthenie bilden müssen, auch wenn es bis in die Gegenwart, vor allem im katholischen Ritus, immer auch noch sehr „römisch“ geblieben ist. Doch darüber später und an anderer Stelle mehr.
Tacitus wird bis heute von Philologen und Übersetzern vor allem wegen seiner Sprache bewundert, an die sich die Übersetzer auch meiner Ausgabe angelehnt haben ohne Rücksicht auf Verständlichkeit oder leichte Lesbarkeit*. D.h. komplizierte Satzkonstruktionen werden auch im Deutschen beibehalten. Ausdrücklich wird vermerkt, dass es nicht das Ziel der Übersetzer war, „eine freie und im Deutschen leicht lesbare Übertragung vorzulegen“. Sondern „das Deutsche sollte sich dem Original so anlehnen, dass die Übersetzung zur Nachbildung wird“. Außerdem sei dem Leser durchaus zuzumuten, „eine Übersetzung zu akzeptieren, bei der er sich erst durch längeres und langsames Lesen in die fremdartige Form des Stils von Tacitus hinein findet.“
Die Grundstimmung des Historikers angesichts seiner Gegenwart und jüngeren Vergangenheit bleibt immer pessimistisch; der Blick negativ und mit Nostalgie gefärbt zurück auf bessere Zeiten. Ich denke jedoch, dass dieses Bild der Antike in großen Teilen falsch ist. Dass Tacitus nur einen kleinen Ausschnitt aus der Oberschicht heraus greift, ebenso wie auch heute die Boulevardpresse viele Dinge verzerrt und unglaubwürdig macht und nur an Sensationen, weniger an Wahrheiten, geschweige denn an nützlichen Wahrheiten interessiert ist. Dass also auch dieses uns heute so spektakulär vermittelte Weltbild der Gegenwart nur einseitig und wenig sinnvoll sein kann.
Dennoch sind die antiken „Erzählungen“, wie Lyotard formuliert (für ihn sind alles nur relative und subjektiv gefärbte „Erzählungen“) bis in die Gegenwart hinein Handlungsanweisung geblieben für die Mächtigen. Selbst vom Untergang des amerikanischen Imperiums wird mittlerweile gesprochen, von Dekadenz, Verfall, „westlichem Denken“, Eurozentrismus. Römische Villen findet man in originalgetreuem Nachbau in Kalifornien, ganz zu schweigen von den Orgien, die dort gelegentlich in bestimmten Kreisen abgehalten (oder sagt man „gefeiert“?) werden.
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Im Folgenden geht es um einen fingierten Prozess in der römischen Oberschicht des ersten Jahrhunderts. Claudius ist als Nachfolge-Kaiser von Caligula an der Macht. Der junge Nero wird ihm als neuer Herrscher, dann erst 17 Jahre alt, in nicht so langer Zeit folgen. Für jeden missliebigen oder in Ungnade gefallen Menschen wurde ein Ankläger benannt oder bestochen, der willkürliche Vorwürfe und Verbrechen aufzählte und zu beweisen suchte. Mit der voraussehbaren Entscheidung des Kaisers als oberstem Richter wurde dann diese Person sofort hingerichtet bzw. ihr die Selbsttötung nahe gelegt.
Es geht um Valerius Asiaticus, den Mörder des vorausgegangenen Schrecken-Kaisers Caligula. Der noch bis vor kurzem so gefeierte Held Roms war der neuen Kaiserin Messalina ein Dorn im Auge und in Ungnade gefallen. Sie ist als Prototyp einer Nymphomanin in die Kultur-und Sittengeschichte der Welt eingegangen. Nachts soll sie sich in Bordellen inkognito prostituiert und Wettbewerbe mit ihren Kolleginnen veranstaltet haben. Als sie schließlich auch noch eine Parallel-Ehe mit einem angeblichen Geliebten einging, wurde es auch ihrem Gatten, dem etwas einfältigen und schwerfälligen Kaiser Claudius, zu viel. Sie wurde hingerichtet.
Bis dahin dauerte es aber noch ein Jahr. Ihre fingierten Hauptanklagepunkte in der nachfolgenden gerichtlichen „Untersuchung“ gegen Asiaticus waren Förderung von Ungehorsam im Heer, Ehebruch und passive Homosexualität.
Dies waren drei Hauptverbrechen, die sich ein Militärstaat nicht leisten konnte und auf die er schon in republikanischer Zeit empfindlich reagiert hat.
Ehebruch war ein Kardinalsverbrechen, denn nur die in einer rechtmäßigen Ehe gezeugten Kinder waren in der römischen Welt und im Gesellschaftssystem anerkannt, das heißt auch erbberechtigt. Die Ehe war also eminent wichtig, wenn nicht sogar heilig, auch wenn die Scheidung leicht möglich war für beide Seiten. Es durften keine unehelichen Kinder gezeugt werden, geschweige denn solche, die von Sklavinnen abstammten.
Ein großes Problem der Zeit war jedoch, dass keine legitimen Kinder mehr im Rom der Oberschicht, das heißt unter den relativ wenigen Bürgern mit römischem Bürgerrecht, zur Welt kamen. Wie eine passende Frau finden? Die romantische Liebe gab es noch nicht. Also bemühte sich der allmächtige Vater der Familie (Pater familias), eine Frau für seinen Sohn oder einen Gatten für die Tochter zu finden, das heißt auch zu kaufen, selbst wenn die Ehe nur auf dem Papier stand und es zahlreiche Nebenbeziehungen gab, vor allem in den aristokratischen Familien. Dort gehörte der Ehebruch auch zum politischen Kalkül, um Gegner auszuschalten.
Passive Homosexualität war verpönt, weil in einem Militärstaat jeder Mann ein echter Mann, das heißt ein männlicher Mann und gut trainierter Kämpfer sein musste. Das Phänomen der antiken Homosexualität ist gleichwohl historisch immer noch nicht eindeutig geklärt. Ich denke jedoch, dass die antike Sexualität eine Pan-Sexualität im Sinne Freuds war(nur ohne ihre Sublimation bzw. Domestizierung) und dass man durch die weit verbreitete Knabenliebe schon in der Pubertät dieses Sexualverhalten gelernt hat bzw. hat lernen müssen. Nicht zuletzt auch mit den zahlreichen Sklaven aus aller Welt.
Sex unter Soldaten war ebenfalls schädlich, denn er behinderte Disziplin wie Moral. Darin dachten die Römer anders als die Griechen, die feste Freundschaften und Liebesbeziehungen im Heer als geradezu günstig für die Kriegsführung hielten. Selbst der Schriftsteller Catull wurde schon in republikanischer Zeit bei seinem Militärdienst unter Memmius, dem Günstling Caesars, sexuell “geschunden”, wie er in einem Gedicht beklagte (Siehe Nr.79 im Blog).
Außerdem war die Eheschließung einem Soldaten während seines Militärdienstes, der etliche Jahre dauern konnte und nicht immer freiwillig war, verboten. Fast 2000 Jahre später setzte man deshalb mit Wilhelm Reich die tiefsinnige Formel in die Welt: „Make love, not war“ – ein freies und genussvolles Liebesleben gleichgültig welcher Art verhindert angeblich blindwütige Aggression und die Lust oder auch Fähigkeit zum Töten. Die preußische Nazi-Verkrampfung wird als Negativbeispiel von Sexualverdrängung psychoanalytisch an dieser Stelle immer wieder gerne angeführt.
Nichts desto trotz waren alle diese drei Punkte im Rom der Schreckenskaiser jedoch nur reine Papier-Vokabeln, an welche sich niemand mehr gehalten hat, sofern er mächtig genug dazu war.
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Zur ausgewählten Geschichte, wobei ich meist Tacitus wörtlich zitiere.
Asiaticus hatte Caligula, den Vorgänger des Kaisers Claudius im Jahre 41 ermordet und war deswegen zu einem gefeierten Nationalhelden geworden. Seine Popularität war auch eine große Gefahr für den jetzigen Kaiser. Er musste deshalb sterben.
Ihm wurde von Messalina, der eifersüchtigen und sexsüchtigen Gattin des Kaisers, unterstellt, er sei der Geliebte ihrer Konkurrentin Poppaea Sabina gewesen. Diese galt als die schönste Frau ihrer Zeit und war Schwiegermutter Neros. Messalina hetzte den berüchtigten Suillius zur Klage gegen beide auf. Außerdem sei Asiaticus der Hauptanstifter bei der Ermordung des Kaisers Caligula gewesen, er habe sich auch nicht gefürchtet, dies in den Versammlungen des römischen Volkes zu gestehen und bekenne sich obendrein ausdrücklich zu dieser Tat. Berühmt seitdem in Rom, nachdem sich sein Ruf auch durch die Provinzen verbreitet habe, gehe er schon damit um, sich zu den germanischen Heeren zu begeben, weil er es als transalpiner Gallier leicht habe, die vaterländische Volksstimme aufzuwiegeln.
Claudius, ohne irgendweiter nachzuforschen, schickt in Eile und wie zur Unterdrückung eines Krieges den Präfekten mit der Prätorianergarde ab und Asiaticus wird wie ein Schwerverbrecher an Händen und Füßen gefesselt nach Rom gebracht. Zu seiner Verteidigung nicht vor den Senat gelassen, wird er in einem Zimmer des kaiserlichen Palastes verhört. Die Anklage von Sillius lautet „Verführung der Soldaten“, die er sich durch Geld und Unzucht zu jeder Frevel-Tat verpflichtet habe, sodann „Ehebruch mit Poppaea“, zuletzt auch noch „Preisgabe des eigenen Körpers“. Bei diesem Punkt bricht endlich der Angeschuldigte sein Schweigen, er fährt auf, indem er sagt: „Frage deine Söhne, Sillius, sie werden es gestehen, dass ich genug Mann bin!”
Darauf begann er schließlich doch seine Verteidigung, versetzte den Kaiser in ungewöhnliche Rührung, entlockte selbst der Messalina Tränen. Sie entfernte sich, um diese zu trocknen, aus dem Zimmer, schärfte jedoch dem Konsul ein, den Angeklagten nicht entschlüpfen zu lassen.
Sie selbst eilte zum Verderben der Poppaea, indem sie Leute zu ihr sandte, welche sie durch Androhung des Kerkers zum freiwilligen Tod trieben. Der Kaiser wusste gar nichts davon, so dass er wenige Tage darauf an Scipio, ihren Gatten, als dieser bei ihm speiste, die Frage richtete, warum er sich ohne seine Frau zu Tische begeben habe? Worauf dieser die Antwort gab, sie sei gestorben.
Als über die Schuld des Asiaticus ein Urteil gefällt werden musste, gedachte sogar der Konsul Vitellius unter Tränen seiner alten Freundschaft mit Asiaticus. Er zählte dessen Verdienste um den Staat auf und seine neulich im Feldzug gegen Britannien erreichten Siege und was sonst noch zur Erweckung von Mitleid nützlich war. Großzügig plädierte er deshalb schließlich „auf die freie Wahl der Todesart“(Hinrichtung „nach alter Art“ war zum Beispiel das zu Tode Peitschen oder auch Steinigen).
Kaiser Claudius ließ Gnade walten. “Man riet zum Hungertode und damit zu einem sanften Ende. Asiaticus verzichtete jedoch auf diese Wohltat, nahm seine gewohnten Leibesübungen vor, badete, ging zu Tisch und öffnete sich mit den Worten die Adern, er würde ehrenvoller durch des Tiberius List oder des Kaisers Caligulas Wut ums Leben gekommen sein als durch Weibertücke und den schamlosen Mund des Vitellius, besichtigte jedoch zuvor noch den Scheiterhaufen und gab noch den Befehl, diesen auf eine andere Seite zu schaffen, damit nicht das Laubdach der Bäume durch den Dampf des Feuers litte. So groß war seine Ruhe in der letzten Stunde”.
Soviel auch zur stoischen Lebensweise und zum häufig praktizierten Freitod in Rom. Asiaticus war zwar in seinem Sexualverhalten kein Stoiker, sondern vielleicht sogar eher prototypisch für einen Mann der begüterten römischen Oberschicht. Aber sein Freitod entsprach doch dem stoischen Denken. Auch der Schriftsteller Petronius oder Neros Lehrer, der Philosoph Seneca, sind wenige Jahre später ebenso fingiert verurteilt worden und in gleicher Weise dann aus dem Leben geschieden. Nero selbst hat es nicht eigenhändig geschafft. Von einem Sklaven ließ er sich auf der Flucht in seinem Versteck erstechen. Selbstmord mit dem Dolch gab es ebenfalls, sogar unter Frauen. Aber er war “heroischer” und weniger „sanft“ als ein Tod durch Verhungern, Vergiften oder Verbluten. Dass ich nur aus religiösen Gründen gegen den Freitod bin, wird man aus diesen meinen Zeilen leicht heraus lesen können.
Auch gegenwärtig gibt es in den Diktaturen unserer Welt zahlreiche fingierte Prozesse wirtschaftlicher, weltanschaulicher, kultureller, politischer Art mit fingierten oder konstruierten Anklagepunkten gegen “Staatsfeinde”. Diesen Opfern von Justizwillkür kann nur gesagt werden, auch wenn das kein Trost sein kann, dass schließlich immer solche fingierten oder bestochenen Ankläger bei einem Machtwechsel in Rom sofort ihre Strafe fanden und allesamt hingerichtet worden sind. Selbst wenn man nur mit einem einzigen Wort sich für diese neuen „Staatsfeinde“ ausgesprochen hatte.
*Cornelius Tacitus, Sämtliche erhaltene Werke, neu bearbeitet von Andreas Schaefer
Phaidon-Verlag o.J.