159 Neue Menschen (Interview)
Antwort
Herzlichen Glückwunsch!
Wozu?
Wir haben die 1000er Marke im Blog überschritten.
Das bedeutet?
Eintausend Mal wurde in ihrem Blog gelesen, gesucht, herum gestöbert. Nicht wie bei Twitter mal kurz rein schauen und schöne Bilder betrachten. Man ist hängen geblieben bei gezielten Themen aus dem Inhaltsverzeichnis, hat sich damit beschäftigt. Vor allem: Man hat eine Seite in der Suchfunktion direkt angeklickt. Nur das zählt, wird statistisch berücksichtigt. Wo und was dann weiter gelesen wird, wird anders als bei Twitter nicht registriert.
Das freut mich sehr. Denn die Themen sind vielfältig und bunt und anspruchsvoll. Fast wie das Leben.
Wenn ich mir die WordPress-Statistiken der direkt und ganz speziell angeklickten Beiträge ansehe, so stehen die philosophischen Aufsätze weiterhin vorne. Aber die Texte über das antike Leben in Rom und über die Musik finden ebenfalls ihre Leser. Sogar ganz frühe Beiträge werden wieder angeklickt, die ich schon fast vergessen habe. Ich lese sie dann gerne noch einmal und verbessere eventuell.
Also werden Sie weiter machen mit dem Blog-Schreiben?
Ich glaube schon.
Im Aufsatz Nr.156 habe ich auf meine neu entstandenen Probleme mit dem traditionellen Schreiben hingewiesen. Dass mich das Bloggen fast schon verdirbt. Klaus Mann, der Sohn von Thomas Mann, hat sich in den 20er Jahren sehr und trotz seiner Armut gegen das Zeitungsschreiben gewehrt. Es würde jeden Schriftsteller verderben. Das Schreiben im Blog reduziert mich ebenfalls auf ein bestimmtes Format, auf eine bestimmte Textgröße, vielleicht sogar auf einen Stil. Trotzdem werde ich dran bleiben müssen. Es fällt mir leichter als das übliche Zeitungs-oder Buchschreiben.
Werden Sie die Liebe-und-Lust-Thematik weiter verfolgen?
Ich denke schon. Das Thema ist aktuell. Auf die Zukunft bezogen: wohin mit Liebe und Lust, wenn zukünftig manche Menschen künstlich hergestellt, designt, geklont werden können.
Wenn die Familien zerbrechen, nicht mehr bestehen können und nur noch solipsistische Monaden existieren, die immer nur sich selbst als Ziel und Endzweck sehen. Und mit Apparaten kommunizieren bis hin zum Sex. Wohin dann mit der Liebe? Wohin mit der menschlichen Begegnung? Welche Paare werden sich finden, warum und wozu? – Oder wird man nur noch als Einzeller dahin vegetieren wollen oder müssen?
Es werden neue Menschen sein, die auch nicht mehr denken können oder wollen in unserer Sprache, mit unserem, auch mit diesem meinen Vokabular. Für die Begriffe wie Wahrheit, Schönheit, Gerechtigkeit, Gott Fremdwörter geworden sind.
Die sich auch für die alten Weisheitsbücher der Religionen oder Philosophien, wie man leben soll, gar nicht mehr interessieren. Solche Menschen gibt es bereits, und es sind gar nicht mal so wenige. Auch ohne dass sie Klone bereits wären. Oder vielleicht doch schon sind.
Warum benützen sie so häufig Begriffe und Beispiele aus der Antike?
Ich versuche sie zu reaktivieren. Ja. Sie sind immer noch nützlich. Unterschwellig vorhanden zum Beispiel im Gesetzeswesen, in der Moral, in der Religion sind sie immer noch da. Selbst der Begriff der Demokratie ist uralt und wurde sehr kontrovers diskutiert, etwa auch von Aristoteles. Andere Leitbegriffe aus der Welt des Marxismus, des szientistischen Denkens, der Esoterik, die sind hingegen mittlerweile in die Jahre gekommen, das heißt abgegriffen, missbraucht worden. Man will sie vergessen.
Dergestalt ist auch für manche Zeitgenossen insbesondere in Russland und China, aber auch in fundamentalistischen Kreisen der USA das ganze westliche Denken, also das Denken der Moderne, das ist das Denken und Vokabular der Aufklärung, fragwürdig geworden. Dieses Denken, diese Worte haben sich vielleicht tatsächlich zu sehr mit großem Unglück und Unheil verbunden, wurden missbraucht, vergewaltigt zum Beispiel von den Nazis oder anderen fanatisierten Gewaltherrschern. Auch und gerade von Mao oder Stalin und Ihresgleichen.
Sie verteidigen das postmoderne Denken in der gegenwärtigen Auseinandersetzung?
Schon. Das postmoderne Denken ist nicht gegen die Aufklärung gerichtet, sondern es will diese erweitern, ergänzen im komplementären Sinne mit Sprachspielen aus anderen Welten und Kulturen*. So kann das paradoxe Denken etwa der Zen-Buddhisten sehr wohl eine Bereicherung des abendländischen Bewusstseins und unserer Logik sein.
Ich vermute, im Denken der Allgemeinbegriffe sind wir nicht sehr viel weiter gekommen. Sie stehen in unserem Geist wie eherne Monolithe, vielleicht sogar von der Natur und der Evolution so gewollt. Unser Leben, unser Dasein wird immer noch wesentlich von Begriffen wie Liebe, Gesetz, Wahrheit, Gerechtigkeit, Gott, Schönheit etc. bestimmt. Auch in Russland, auch in China oder sogar im IS.
Auch wenn dies manche Sprachdogmatiker oder Sprachpolizisten der reinen naturwissenschaftlichen Lehre nicht wahr haben wollen. Ihre Theorie ist außerordentlich praxisfern.
Sie sprechen auch immer wieder die Sexualität an.
Ja, weil ich immer noch für die Befreiung der Sexualität jenseits eines blindwütigen Sexismus bin, wie er sich gegenwärtig auszubreiten versucht. Es gibt jetzt sogar schon die Lust-Pille für Frauen! Als wenn die Empfindung von Lust nicht wesentlich eine Frage der Beziehung, der Begegnung, der Kommunikation wäre. Muss ich eine Pille nehmen, damit mir diese Art von Hähnchenschnitzel überhaupt schmeckt? Das wäre doch ganz absurd!
Im Rahmen meines neuen Buches über Liebe und Lust habe ich einen jungen Mann kennen lernen dürfen, der mich in das weite Gebiet der Homosexualität eingeführt hat. Ich bin ihm sehr dankbar dafür**.
Über den ich auch mich selbst neu befragt und kennengelernt habe. Wie steht es mit mir? Wie beschränkt ist mein Kontakt mit Männern, mit Frauen? Was ist Homosexualität? Ein neuer Begriff, in den man eingesperrt wird, eine neue Dogmatik? Sind nicht gerade nach Freud die größten Gegner der Homosexualität homosexuell? Freud war nicht gegen „Inversion“, wie er es genannt hat. Hat sie aber auch nicht gefördert.
Ich wehre mich gegen Zwangs-Heterosexualität ebenso wie gegen Zwangs-Homosexualität. Jeder Homosexuelle ist mehr als homosexuell, jeder Hetero mehr als hetero. Wie kann man die Welt der Frau, die Welt des Mannes, auch die der Kinder aus seinem Umkreis und Leben und Lieben ausklammern wollen? Diese Dogmatik, diese Einseitigkeit verstehe ich nicht.
Nach Freud sind wir alles. Nur wird nicht alles real. Außerdem sind die Geschmäcker und Fähigkeiten zu Lust und zur Differenzierung von Lust so unterschiedlich ausgeprägt wie alles im Bereich der Sinne, der körperlichen Empfindungen. Manche Menschen leben asketisch wie die Eremiten und sind glücklich. Andere sind süchtig und gefesselt an ihre sexuelle Lust wie die Alkoholiker an ihre Flasche. Wenn sie damit kein Problem haben, warum sollte es uns oder den Gesetzgeber kümmern, wie sie ihre Lebensform gestalten?
Die Diskussionen gegenwärtig um die Homosexualität, um Ehe, Adoptionsmöglichkeiten dieser Menschen etc. kreist mir jedoch zu einseitig nur um das Thema Sexualität. Als wenn man einen Menschen auf sein Sexualverhalten festlegen könnte oder sollte.
Die modische “Alles-geht”- Haltung war auch in der Antike sehr verbreitet. Jedoch ging die Diskussion dort überhaupt nicht darum, wer mit wem Sex haben darf. Wie heute auch war in der Oberschicht alles möglich. Sondern ob die Lust so stark im Mittelpunkt des Lebenssinnes und der Lebenswirklichkeit stehen soll. Ob nicht doch eher Werte wie Familiensinn, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Kreativität etc. im Fokus stehen sollten. Dazu gehörten natürlich damals auch Verteidigung des Staates, seiner Grenzen, Eroberungen.
Die einen stellten auch in der antiken Diskussion unter Philosophenschulen die Lust in den Mittelpunkt ihres Lebens. Die anderen eher im Sinne Freuds die Sublimation, Kanalisierung und Weiterleitung dieser Energie in das weite Feld des Sozialen, der Familie, des allgemeinen Wohlergehens. Lustorientierung im sexuellen Bereich neigt zum Solipsismus, auch Egoismus. Da heißt auch zum schnellen Partnerwechsel, zur Abwechslung, zur Promiskuität.
Doch ich bin schon wieder zu sehr bei meiner Buch-Thematik.
Warum kümmert Sie das so sehr?
Weil das die Zukunft sein wird. Manche werden wohl als solitäre Einzeller dahin leben müssen zusammen mit ihren Maschinen, die das tägliche Leben sehr erleichtern werden, vielleicht sogar die Fortpflanzung der Art. Oder andere werden selbst zu Maschinen werden wollen, sind es vielleicht auch schon.
Manche Menschen kennen noch nicht einmal ihre Gefühle. Geschweige denn, dass sie einem Gespräch, einer Thematik wie jetzt folgen könnten.
Ich habe in letzter Zeit immer wieder über meine vielen und vielfältigen Beziehungen nachdenken müssen und entdeckt, dass letztlich die Beziehungsebene, das heißt Wertschätzung, Liebe im Sinne des Christentums, Verantwortlichkeit, Gefühl immer noch die wichtigsten Faktoren des Zusammenlebens, auch des Erfolges sind.
Heute spricht man lieber nüchtern von der Notwendigkeit einer Vernetzung, von Kommunikationsfähigkeit, „Kommunikabilität“ (was für ein Wort!). Aber es geht in die gleiche Richtung: Nähe, Liebe, Verantwortung, Begehren….
Was meinen Sie mit Begehren?
Begehren, le désir, ist die Vorstufe zur Lust. Erst die Befriedigung des Begehrens verspricht oder erzeugt in vielen, nicht allen Fällen Lust. Diese Befriedigung ist jedoch nicht immer notwendig. Eher das Gegenteil stimmt m.E., dass die Lust sublimiert werden sollte.
Was kommt noch auf uns zu in Ihrem Blog?
Ich weiß es nicht. Eine Idee fällt mir spontan ein und schon steht schnell und ohne große Mühe ein Aufsatz da. Das hektische Zeitungsschreiben, vor allem für die Deutsche Presse Agentur (dpa), war mir diesbezüglich eine gute Schule.
Das Suchen und Erforschen der Antike wird jedoch weiter gehen. Vor allem starte ich bald mit der Dekonstruktion des christlichen Denkens. Nicht des christlichen Glaubens, denn diese Unterscheidung hat Thomas von Aquin sehr genau untersucht und verständlich zu machen versucht.
Das Christentum muss man viel stärker noch als direkte Blaupause und Erbe des antiken Denkens und Lebens verstehen. Die Opferfeier an den Altären, die stoisch-asketische Lebensführung, unzählige Heilige im Olymp, Auferstehungen, Rituale, Gesetze, Gebote, Weissagungen, Wunder…Paulus alias Saulus wird mein erstes Forschungsziel sein. Lyotard nennt diese Art meines Vorgehens eine „anamnetische Arbeit“. Auch Kulturen, Sprachen und Lebensformen haben ihre Hintergründe, die fast schon pycholinguistisch interpretiert, aufgedeckt werden können.
Paulus war als Saulus ebenso wie Augustinus noch ein typischer Römer mit dem begehrten römischen Bürgerrecht: intellektuell, gebildet, durchsetzungsfähig, aggressiv. Sein Verhältnis zur Sexualität müsste einmal untersucht werden. Die kritische Einschätzung der Lust gegenüber im Christentum lässt sich sehr stark auf ihn und fast nur auf ihn und seine Briefe zurück führen. Er lehnt ein Leben für die Lust ab.
Als römischer Jude war er in die Auseinandersetzung um die Beschneidung verwickelt. Der Kampf für oder gegen die Beschneidung ist lange Zeit sein Thema gewesen. Als Jude musste er nicht wie Platon die Knabenliebe durchmachen, erleiden, durchstehen. Aber doch die Beschneidung, über deren Sinn und Zweck es gerade dieser Tage wieder eine große Auseinandersetzung unter Ärzten und Psychologen gibt. Kann der Schmerz der Beschneidung ein frühkindliches Trauma verursachen mit all seinen Konsequenzen?
Werden Ihre Blog-Texte als Buch erscheinen?
Schon. Aber gegenwärtig bin ich wieder so mit der Musik beschäftigt, dass ich mich nicht auch noch darum kümmern kann.
Vielen Dank für das Gespräch!
Ich bin es, der sich zu bedanken hat.
Das Gespräch führte Alexandre Herrmann
*Vgl. mein Gespräch in der taz mit Francois Lyotard: „Wie vernünftig ist die Vernunft“ (Blog Nr.19)
**Leider habe ich eine Gesprächspartnerin für die weibliche Homosexualität immer noch nicht finden können.