161 Seneca und Nero (Römische Lektüre VII)
Seneca als Erzieher (Tacitus 3)
Wir sind im Herzen der Finsternis angekommen, im Zeitalter Neros. Auch hier gilt, worüber ich immer wieder geschrieben habe, was die Ungewissheit und Unsicherheit historischen Tatsachen gegenüber betrifft: Dass der Blick der Geschichtsschreiber, seien sie römisch-hellenisch, seien sie christlich, marxistisch, anarchistisch, plurivers oder wie auch immer unsere Sicht auf die historischen “Tatsachen” geprägt hat.
Deshalb lohnt es sich, die Beziehung von Seneca und Nero noch einmal etwas genauer anhand der Quellen und Zeitzeugen anzusehen. Manchmal ist es dabei sehr nützlich, gerade Nebensächlichkeiten zu durchleuchten, zumal unser allgemeines Wissen, unser Blick durch die Brille der Geschichtsschreiber und Lehrbücher eher das Heroische und besonders Auffallende für überlieferungswert hält als alles andere.
Dabei ist mir sogar der Begriff „Volk“, wie ihn die antiken Schriftsteller verwenden, durchaus unklar. Im Gegensatz zum heutigen Denken gehörten im antiken Rom gerade nicht die Kinder, wohl noch nicht einmal die Frauen, ganz zu schweigen die Sklaven dazu. „Volksabstimmungen“ waren eine reine Männersache. Man muss sie sich eher vorstellen wie in einer arabischen Wüsten-Monarchie ganz ohne Frauen, die nur im Hinterhaus geduldet und „benötigt“ werden.
Nero war ein Kind seiner Zeit und davon gezeichnet. Sein ganzes Leben war historisch vorbelastet und von einer panischen Angst vor Verschwörung geprägt. Er war vier Jahre alt, als er die Verschwörung und den Mord am Bruder seiner Mutter, dem Kaiser Caligula, mit erleben musste, der seine eigene Schwester, Neros Mutter, in die Verbannung geschickt hatte. Mit neun Jahren gewann der junge Knabe sein erstes großes Wagenrennen in Rom, was seine Liebe für spätere Wagenrennen begründete, auch wenn die gesamte römische Oberschicht es als unschicklich fand, sich für Wagenrennen, ein Vergnügen des gemeinen Volkes, zu interessieren.
Nero war zwölf Jahre alt, als der Philosoph und Politiker Seneca von Neros Mutter Agrippina aus der Verbannung zurückgerufen und Neros Lehrer wurde. Angeblich hatte Seneca ein unzulässiges Verhältnis mit der Nichte des Kaisers Claudius, der ihn in die achtjährige Verbannung nach Korsika geschickt hatte.
Mit 14 Jahren legte Nero die Männertoga an und wurde Senator und Prokonsul. Mit 16 Jahren wurde er mit seiner dreizehnjährigen Stiefschwester Oktavia, der Tochter seines Stiefvaters Kaiser Claudius, verheiratet, die er später verbannte und ermorden ließ (er war jetzt 25). Mit 17 Jahren wurde er nach der Ermordung von Claudius durch dessen Ehefrau Agrippina Kaiser. Seine Herrschaft reichte bis zum 31.Lebensjahr, dann wurde er selber zum Freitod gezwungen.
Seneca steht in den Erinnerungsbüchern unserer Geistesgeschichte weit vorne, zählt er doch zu den Hauptvertretern der stoischen Schule. Das ganze Mittelalter über war er ein wichtiger Erzieher der Jugend in Fragen von Ethik und Moral.
Dabei ist sein Einfluss auf Nero nur indirekt aus seinen Schriften nachweisbar. Vielleicht lassen sich sogar Neros spätere Auswüchse, selbst seine Gewaltherrschaft als eine bewusste Auflehnung bis hin zu Rache und Mord an seiner übermächtigen Mutter, dem gestrengen Erzieher und der ganzen verhassten Hofgesellschaft gegenüber deuten. Seneca stand vierzehn Jahre lang an der Seite seines Zöglings. Zuerst als Erzieher, dann quasi als Coach nicht nur in Staatsgeschäften. Die ersten fünf Jahre von Neros Regierungszeit sind als eines der besten Jahrfünfte des römischen Reiches in die Annalen eingegangen. Fast unter Tränen unterschrieb der erst siebzehnjährige Kaiser sein erstes Todesurteil, so verhasst scheint ihm die Todesstrafe gewesen zu sein.
Dann jedoch begann seine Phase der Abnabelung, der “Emanzipation“, des antiautoritären Aufbegehrens: Gegen seine alles beherrschende grausame Mutter – sie hatte ihren eigenen Mann sowie schließlich auch dessen Sohn getötet –, die er tatsächlich ermorden ließ; gegen seinen Lehrer Seneca, gegen den engen Berater in Sachen Stil und Kunst Petronius und noch viele andere seiner nächsten Umgebung am Hof. Alle wurden von ihm, ob berechtigt oder nicht, wegen einer Verschwörung in den Freitod getrieben.
Nirgendwo in den Aufzeichnungen des Tacitus gibt es so viele Dokumentationen von Menschen, die von einem Kaiser hingerichtet oder in den Freitod getrieben worden sind wie zu Zeiten Neros. Seiten füllen sich mit der üblichen Formulierung: „wurde gezwungen, sich die Pulsadern zu öffnen“. Entweder ließ man sich dabei im Stil Epikurs, damit das Blut besser floss, ins warme Bad bringen und trank noch einen Becher Gift dazu. Oder – die stoische Variante – man ließ sich wechselweise die Wunden verbinden und wieder öffnen um zu dokumentieren, dass man sich „über das Unabänderliche keine Gedanken machen“ solle (vgl. meinen nachfolgenden Beitrag im Blog über „Senecas Tod“).
Im folgenden Gespräch geht es um ein Problem, das sich für Seneca auf der Höhe seiner Macht stellte(er war 61, Nero 25 Jahre alt). Seine Neider innerhalb von Senat und Curie warfen ihm seinen zu großen Reichtum vor, den er mit Hilfe Neros tatsächlich erworben hatte. Auch Tacitus hat sich sehr ambivalent, wenn nicht sogar ablehnend gegenüber Seneca geäußert. Als ein Philosoph und Anhänger, ja Sprachrohr der stoischen Schule konnte man einfach nicht so reich, so mächtig, so letztlich doch der Lust und dem Wohlleben verfallen sein.
Seneca verteidigt sich und bittet den Kaiser um Rücknahme dieser Reichtümer. Nero verweigert sich mit einer gestellten Liebenswürdigkeit, die Tacitus als eine geheuchelte Maskerade beschreibt. Wie so oft im Leben dieses Gewaltherrschers, der nach vollzogenen Hinrichtungen sogar heuchlerisch geklagt haben soll, warum man nicht seine Begnadigung abgewartet hätte.
Es folgen jetzt zwei kunstvoll-zeremoniell gestaltete Reden im “erhabenen Stil” der Zeit. Seit Cicero können solche Reden mit stenografiert und auch veröffentlicht werden. Sie wurden dann im Staatsarchiv gesammelt und standen nachfolgenden Generationen von Geschichtsschreibern zur Verfügung.
Man weiß jedoch immer noch nicht genau, ob diese Reden nicht doch eher rezitiert, also auch gesungen worden sind zum genauen Zuhören des Publikums wie in einem Konzert. Das Zuhören ist in der ganzen Antike noch nicht vom Lesen, geschweige denn von flimmernden Bildern abgelöst worden. Im Gegenteil: es war lange Jahrhunderte, selbst noch im Mittelalter die am weitesten verbreitete Kommunikations-Form überhaupt.
*
Seneca: „Es ist das vierzehnte Jahr, Kaiser, seitdem ich deiner hoffnungsvollen Jugend zur Seite gestellt wurde, das achte, dass du die Herrschaft hast. Im Laufe dieser Zeit hast du so viel an Ehren und Reichtum auf mich gehäuft, dass nichts zu meinem Glück fehlt, als Maß hierin.
Ich will dafür bedeutende Beispiele anführen, nicht meines, sondern deines Standes. Dein Urgroßvater Augustus gestattete dem Marcus Agrippa Zurückgezogenheit auf Mytilene, dem Gaius Maecenas in Rom selbst gleichsam die Muße des Auslandes.
Von ihnen hatte der eine als Gefährte in seinen Kriegen, der andere zu Rom mit vielerlei Geschäften geplagt, zwar ansehnliche, aber doch die größten Verdienste vergeltende Belohnungen empfangen.
Was konnte ich deiner Freigiebigkeit anderes entgegen bringen, als Studien, die, um mich so auszudrücken, im Schatten aufgezogen worden waren und nur dadurch zu Ruhm gelangten, weil ich zur ersten Bildung deiner Jugend mitgewirkt zu haben scheine; dafür ein sehr großer Lohn.
Du dagegen hast mich mit überschwänglicher Gunst und unzählbarem Gelde überschüttet, so dass mir recht oft die Gedanken durch die Seele gehen: wie? Ich, im Ritterstande und in der Provinz geboren, werde den Großen des Staates zu gezählt?
Unter dem Adel, der mit langer Ahnenehre prangt, erhob sich mein jüngst gewonnener Glanz? Wo ist jener mit Mäßigem zufriedene Sinn? Solche Gärten legte er an; durch diese Villen in der Umgebung wandelt er dahin; schwelgt auf so ausgedehnten Ländereien, durch so reichen Zins im Überfluss?
Nur eine Verteidigung bietet sich mir dar, dass ich nämlich deinen Geschenken nicht widerstreben durfte. Aber beide haben wir das Maß erfüllt, du in dem, wie viel ein Kaiser dem Freunde geben, ich in dem, wie viel ein Freund vom Kaiser annehmen konnte. Was darüber geht, vermehrt nur den Neid, der zwar, wie alles Sterbliche, unter deiner Größe liegt, aber mich belastet; mir muss geholfen werden.
Wie ich im Kriegsdienste oder auf einer Reise, ermattet, mir eine Stütze erbitten würde, so bitte ich auf dieser Lebensreise, ein Greis und auch den leichtesten Sorgen nicht gewachsen, da ich meinen Reichtum nicht ferner tragen kann, um Beistand. Lass ihn durch deine Prokuratoren verwalten, zu deinem Vermögen schlagen.
Ich will mich nicht selbst in Armut stürzen, sondern nur das ausliefern, dessen Glanz mich blendet, und die Zeit, die der Besorgung der Gärten und Villen bestimmt ist, wieder dem Geiste zuwenden. Du selbst in voller Manneskraft, und auf so viele Jahre schon stützt sich die Macht deiner Regierung.
So können wir, deine schon betagteren Freunde, uns ganz der Ruhe überlassen. Auch das wird zu deinem Ruhme gereichen, solche zum höchsten Gipfel erhoben zu haben, die auch mit Wenigem sich begnügten.”
*
Nero antwortet etwa so: „Dass ich deiner wohl ausgearbeiteten Rede auf der Stelle entgegnen kann, gleich das besitze ich als ein Geschenk von dir, der du mich nicht nur Vorhergesehenes, sondern auch plötzlich sich Darbietendes zu behandeln gelehrt hast.
Mein Urgroßvater Augustus vergönnte dem Agrippa und Maecenas, nach ihren Anstrengungen der Muße zu pflegen. Aber das tat er erst in einem Alter, dessen Ansehen rechtfertigen konnte, was und wie beschaffen das war, was er ihnen gewährte.
Und doch beraubte er keinen von beiden der von ihm verliehenen Belohnungen. Im Kriege und in Gefahren hatten sie sich verdient gemacht, denn in diesen bewegte sich des Augustus Jugendzeit. Auch mir würde, hätte ich mit Waffen zu tun, dein Schwert und dein Arm nicht gefehlt haben.
Aber du bist, wie es die gegenwärtigen Verhältnisse erforderten, durch Überlegung, Rat und Lehre meiner Kindheit, dann meines Jünglingsalters Stütze gewesen: deine mir verliehenen Gaben werden, solange mein Leben währt, unvergänglich sein.
Was du von mir hast, Gärten, Alterssicherungen und Landhäuser, ist dem Zufall unterworfen. Mag es auch bedeutend scheinen, so viele, die sich keineswegs mit deinen Eigenschaften messen können, haben mehr erhalten.
Ich schäme mich, Freigelassene zu nennen, die man reicher sieht, weshalb ich sogar erröten muss, dass du, der mir vor allen teuer ist, noch nicht alle an Glück übertriffst.
Jedoch du selbst stehst ja noch in kräftigem, für die Geschäfte und deren Lohn ganz geeignetem Alter, und ich befinde mich noch in den ersten Stadien der Herrscherlaufbahn.
Du müsstest dich sonst geringer einschätzen als Vitellius, der dreimal Konsul gewesen ist, oder mich unter Claudius stellen wollen. Und was dem Volusius lange Sparsamkeit erwarb, das sollte meine Freigebigkeit bei dir nicht leisten können?
Bist du es nicht, der meine verführbare Jugend, wenn sie sich auf irgendeine Seite verirrt hat, zurück ruft, und lässt du es dir nicht umso angelegener sein, die durch deine Beihilfe veredelte Kraft zu lenken?
Nicht deine Mäßigkeit, wenn du dein Vermögen zurück gibst, nicht deine Ruhe, wenn du den Kaiser verlässt, sondern meine Habsucht und die Furcht vor meiner Grausamkeit wird in aller Munde sein.
Und wird auch deine Enthaltsamkeit hoch gepriesen, so möchte es doch nicht ehrenvoll für einen Weisen sein, daraus für sich Ruhm zu ernten, womit er dem Freunde üble Nachrede bereitet“. –
Hiermit umarmte und küsste er ihn, von Natur dazu geschaffen und durch Gewohnheit geübt, seinen Hass durch trügerische Schmeicheleien zu bemänteln. Seneca sagte ihm – wie alle Unterredungen mit einem Gebietenden enden – Dank, veränderte aber die Gewohnheiten seiner bisherigen Macht, wies die Versammlungen der ihn Begrüßenden von sich, vermied Gefolge, und ließ sich selten in Rom blicken, als würde er durch Übelbefinden oder philosophische Studien abgehalten.*
*
Nach diesem Gespräch zieht sich Seneca ganz aus dem politischen Leben Roms zurück und widmete sich nur noch seinen philosophischen Studien. Ihm blieben drei Jahre, bis er in Zusammenhang mit der Pisonischen Verschwörung, die zahlreiche Todesopfer gefordert hat, von Nero ebenfalls in den Freitod getrieben wird.
Nach den Angaben von Tacitus soll Seneca in seiner Todesstunde gesagt haben: „Wem ist Neros Grausamkeit unbekannt gewesen? Und etwas anderes bleibt ihm ja nach der Ermordung seiner Mutter und seines Bruders nicht mehr übrig, als die Hinrichtung seines Erziehers und Lehrers noch hinzu zu fügen“. Auch Petronius Arbiter, ein Berater des Kaisers in ästhetischen Fragen von Stil und Geschmack und selbst Schriftsteller (vgl. meine „Satyricon“-Rezension im Blog Nr. 25), wurde in diesem Zusammenhang zum Selbstmord getrieben.
Von Seneca hat Nero gleichwohl das künstlerische, nicht jedoch das philosophisch-politische Schreiben übernommen. Seneca schrieb neben seinen politischen und philosophischen Texten, die oft in Briefform veröffentlicht worden sind, auch Tragödien (selbst Caesar oder Platon haben sich in Tragödien versucht).
Nero war jedoch das Gegenteil eines Intellektuellen, ja sah sich überwiegend eher als Künstler und nicht als Politiker. Er schrieb Gedichte, vertonte diese und trug sie sogar live mit eigener Lyrabegleitung vor. Sehr wieder zum Entsetzen der aristokratischen Oberschicht, die sich ein solches Verhalten bei einem Kaiser nicht hat vorstellen können.
Nero suchte im Gegenteil jedoch den Beifall des einfachen Volkes, scheute sich nicht, später in großen Arenen aufzutreten, insbesondere in seiner damals überwiegend griechisch sprechenden Lieblingsstadt Neapel, die der Kunst aufgeschlossener gegenüber stand als die in Etikette, Machtintrigen und Zeremonien erstarrte Hauptstadt des Weltreiches.
Nero unternahm sogar eine einjährige Tournee durch Griechenland, wurde dort als Künstler gefeiert und weidete sich am Erfolg bei den Massen. Nach Berichten von Zeitzeugen soll er ganz gut gesungen haben. In Theaterstücken hat er auch öfter Frauenrollen gespielt (Frauen durften nicht im Theater auftreten). Als es in Rom schließlich wegen der permanenten Abwesenheit des Kaisers Unruhen gab, musste er seine so erfolgreiche Tournee abbrechen und nach Rom zurück kehren.
Sein ganzes junges Leben am Hof unter und nach der Ägide seiner gestrengen Mutter schien ihm verhasst gewesen zu sein, sonst hätte er sich nicht derart provokativ mit sexuellen Abenteuern zur Schau gestellt, sich auf sie eingelassen, von denen Sueton berichtet. In einer pompösen Zeremonie heiratete er offiziell seinen Freigelassenen und Kastraten Sporus, von seinem Freigelassenen Pythagoras ließ er sich später vergewaltigen. Als Ehebrecher war er gleichwohl ebenfalls berüchtigt (er war dreimal verheiratet).
Man hat ihn deshalb, vor allem auch wegen seiner blindwütigen Grausamkeit in den letzten Jahren, für geisteskrank erklärt. Doch auch darüber gibt es in der Forschung unterschiedliche Theorien. Selbst wenn Hitler im medizinischen Sinne tatsächlich geisteskrank gewesen ist, auch er sah sich zeitweilig als ein Künstler, ein Maler, was hilft es zur Sache? – Die Psychiatrisierung der Politik oder einzelner Politiker führt m.E. keinen Schritt weiter, um solche Zustände in Zukunft verhindern zu helfen.
* Tacitus a.a.O. S. 585f
Teil 2 Senecas Tod