167 Von Wahrheit und Wissenschaft (3)
Der Behaviorismus
Ich will ein einfaches, triviales Beispiel anführen, damit man die gegenwärtig führende Wissenschafts-Philosophie und ihren Wahrheitsanspruch versteht.
Es geht um die Wetter-Berichterstattung. In letzter Zeit, d.h. in den letzten Jahren, hat man sich daran gewöhnt, dass die Wetterberichte nur noch kurz und knapp ausfallen: Heute wird das Wetter regnerisch, schön, mit 24° und und so weiter.
Früher gab es lange Hintergrund-Analysen, die die meisten Menschen ermüdeten. Woher und wohin: Dass ein Hoch bei den Azoren, ein Tiefdruckgebiet über Island im Anzug sei, dass sich auf dem Atlantik ein neues Schlechtwettergebiet zusammen braue, dass der Ascheregen des Vulkans dort und dort zu Beeinträchtigungen im Flugverkehr führen würde etc.
Man sieht: Man sendet heute meist nur noch eine kurze Beschreibung der Oberfläche ohne Hintergründe. Oberfläche – das ist der zentrale Begriff.
Ähnlich gehen auch die Zeitungsredaktionen oder die einflussreichen Fernsehanstalten vor. Sogar mit Lust, Spaß und Emotion muss alles präsentiert werden (Infotainment). Dort hat sich ebenfalls alles nur noch auf Oberflächlichkeit, Ablenkung und Spannung trivialisiert. Längere Konzentrationsfähigkeit wird nicht mehr erwartet. Mit heftigen Kollateralschäden, die in der Mittel-und Unterschicht in den USA bereits zu studieren sind. Und nicht nur dort.
Für eine Planung, für eine einigermaßen gesicherte Hintergrundanalyse, für eine halbwegs glaubwürdige Zukunftsbetrachtung ist m.E. jedoch die Anamnese, die auch historische, kulturhistorische oder sogar psychologische Faktoren einschließt und vor allem miteinander vernetzen kann, notwendig.
Sie nutzt, um die Zukunft zu gestalten. Sonst wären wir ganz dem Zufall, der Willkür einiger mächtiger, auch dilettantischer Amateure selbst in der Politik überlassen. Indem wir mit dem Vergangenen vergleichen, können wir lernen, Fehler zu vermeiden. Davon bin ich überzeugt.
Doch warum diese Ablehnung von Geschichte sei es der Gesellschaft, der Tradition, sei es der menschlichen Psyche, durch den Behaviorismus? Warum beschränken sich diese Wissenschaftler nur darauf, den Ist-Zustand zu untersuchen, zu dokumentieren?Vor allem die Frage des Woher ist eine in den Augen vieler dieser Wissenschaftler sinnlose, rein geisteswissenschaftlich orientierte Fragestellung, die der empirischen Nachprüfbarkeit keine Möglichkeit lässt. Die Frage des Woher wird sogar auch von manchen Medizinern oder Psychologie-Schulen als unwissenschaftlich, als überflüssige Zeitverschwendung oder als sinnlos empfunden. Wichtiger sei die Symptombekämpfung, ohne zu fragen nach dem Woher oder Wohin.
Die Frage des Woher und Wohin ist tatsächlich eine Frage der Geschichte, des geschichtlichen Denkens und der Zukunftsplanung, der Prognose. Geschichtliches Denken ist im Sinne mancher Naturwissenschaftler unwissenschaftlich, da empirisch nicht beweisbar. Prognosen sind jedoch eminent wichtig z.B. für den Staat und sein Wirtschaftsleben. Also ist man in einem Widerstreit.
Auch die Philosophie des Lebens ist in den Augen der gestrengen Naturwissenschaftler reine Literatur. Das heißt nicht, dass sie reine Zeitverschwendung wäre. Sie ist aber doch immer wieder mehrdeutig, also auch anders deut- und interpretierbar. Mithin genau das Gegenteil von Exaktheit und Falsifizierbarkeit.
Sie existiert außerdem schon länger als 150 Jahre und ist als Antithese zum mechanistischen Denken des Maschinen-Zeitalters entstanden.
Hauptvertreter dieser Mitte bis Ende des 19.Jahrhunderts entstandenen Lebensphilosophie waren Henri Bergson, Friedrich Nietzsche und Wilhelm Dilthey. Sie versuchten noch antithetisch den “Geist” und das “Leben” der “Materie”, den “Fakten” gegenüber zu stellen, Begriffe, die mit Ausnahme des letzten mittlerweile in manchen Zweigen der Wissenschaft nur noch eine “literarische” Funktion besitzen.
Um mich nicht missverständlich auszudrücken: Ich sehe die technische Welt, die Welt der Zahlen und Experimente selbst im Sinne einer allmächtigen Manipulations-Technokratie als wesentliche und auch oft nützlich-faszinierende Ergänzung zu der geistigen und künstlerischen Welt an. Dass ohne Technik heute vieles unmöglich wäre, auf das ich nicht mehr verzichten kann. Dass aber Leben und Lieben, vielleicht sogar Lust mehr sein können als statistische Wahrheiten, mehr sein können als ein erhöhter Testosteron-Spiegel.
Selbst wenn Technik, vielleicht sogar eine Technokratie das allgemeine Wohlleben und auch Weiterleben im Sinne einer Erhöhung des Lebens-Standards gewährleisten kann, gilt andererseits doch immer wieder auch der Satz des Stoikers und Soldaten-Kaisers Marc Aurel: Bedenke dass, um glücklich zu sein, es nur weniger Dinge bedarf. Und dass sogar eine Verhinderung des Sterbens im Sinne einer Verlängerung des Lebens in manchen Kulturen und Religionen, etwa dem Christentum, abgelehnt wird als ein unzulässiger Eingriff des Menschen und seiner Technik in das vorgegebene Schicksal.
Ich denke, die Behavioristen würden sogar am liebsten den Wahrheitsbegriff als “unwissenschaftlich” aus ihrem Wortschatz eliminieren wollen. Die Wahrheit der Statistik richtet sich nach den Auftraggebern und dem finanziellen Gewinn, behaupte ich jetzt einmal provokativ. Es reicht, wenn man nur gut genug bezahlt wird. Auch der gegenwärtig alles dominierende Ökonomismus, der eine Konsum-Verfallenheit einschließt, nicht zuletzt evoziert, ist größtenteils eine Phantasmagorie. Was ist daran wissenschaftlich?
Was ist daran wissenschaftlich, immer nur das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts als wichtigste Maxime von Glück und Wohlleben zu dokumentieren? Dass die Autos jetzt rund statt eckig zu sein haben? Dass man jetzt auch eine Pille für die Lust der Frau und voll automatische Bomben für die Stadtzentren entwickelt hat? Kaufen und Verkaufen, Konsum, Lust und Befriedigung über alle anderen menschlichen Werte wie Nachhaltigkeit, Verzicht, Hilfe, Verantwortlichkeit oder Gerechtigkeit zu stellen?