178 Über sexuelle Verfügbarkeit
Über Popmusik (5)
Ja, ihr habt richtig gelesen. Nicht mit hr, sondern mit g geschrieben. Also nicht vom Verführen, sondern vom Verfügen wird hier gesprochen werden.
Dass man alle Zeit bereit sein soll, als Mann, als Frau. Wozu, das wisst ihr mittlerweile. Dass dies die größte Freude im Leben, der größte Sinn und Zweck unseres Daseins zu sein hat, das haben schon die römischen Hedonisten propagiert und sich den Zorn einer neuen Untergrundbewegung der Christianer im ersten Jahrhundert nach Christus zugezogen. Mittlerweile redet man, immer auf dem neuesten Stand von Bildung und Wissen, nicht wahr, von freier Wahl der Geschlechtspartner, Polyamorie, Swinger-Partys, Fortpflanzung der Art, Lebensabschnittsgefährten, von Selbsterhaltung, genitalem Charakter, Lustprinzip, Gesundheit und was auch immer…
Verfügbarkeit. Was für ein Wort! Selbst bei WhatsApp kann man es verwenden: ich bin bereit, kann benützt, kann befragt, bearbeitet, befriedigt(?) werden wie ein Ding, wie eine Maschine. Ich bin nicht abgeschaltet, sondern im WartsApp-Modus(richtig gelesen!).
Doch darum geht es mir nicht heute, auch wenn es allmählich an der Zeit ist, dass ich nach den vielen blutrünstigen Aufsätzen über Rom, Liebe und Lust, Schlachtengetümmel, Sterben, Lebensglück und Sex mit wem auch immer die Tonart wechsele. Es ist ein wunderbar heißer Sommer dieses Jahr in der Stadt gewesen und die Menschen sind schön. Sie warten doch nur alle auf uns an den Straßenecken, nicht wahr, dass wir zusammen miteinander etwas anfangen möchten oder auch nicht.
Rückblende ins Jahr 1970, um endlich zum Thema zu kommen. Amerika steht im Rückzugsgefecht trotz heftigstem Flugzeug-Bombardement und Chemiewaffen mit den asiatischen Truppen. Es ist dabei, zu verlieren. Wer hätte das gedacht! Diese große Weltmacht mit all ihren Möglichkeiten, ein Verlierer!
Ein Lied erobert die Hitparaden der Zeit. Es hat sich bis heute als Standardsong gehalten, die Gruppe Free hat es geschrieben. Wir haben mit gesungen, Männer wie Frauen, gegrölt, es dauernd wiederholt und dennoch nicht richtig, also wieder einmal miss-verstanden.
Ein Wörtchen steht im Mittelpunkt: a l l r i g h t . Da steckt das englische Wort right drin, richtig. Im Deutschen sagen wir eher gut, einverstanden, ok., ja, so soll es sein. Nicht: es ist richtig so, gut, vollkommen gut im Sinne einer Ordnung, einer Regel, die eingehalten wird. In beiden Sprachen bedeutet es gleichwohl: Ich bin einverstanden.
Einverstanden wozu? Oder sagt man besser wofür? Im Text des Popsongs geht es ganz lapidar und wirklich revolutionär nur um die sexuelle Verfügbarkeit. Da steht eine Frau an der Straße. Sie ist hübsch, nett, lächelt uns an. Sie ist bereit. Wir brauchen nicht weiter zu fragen wozu. Vielleicht ist sie eine Prostituierte. Oder auch nicht.
Das Neue daran ist gleichwohl die Unbekümmertheit, mit der im doch sonst so prüden England-Amerika jetzt plötzlich mit Sex umgegangen wird. Wo man die Bierflaschen in Milchtüten verstecken musste, damit man nicht als ein Trinker, ein Alkoholiker, als ein vom Teufel Besessener angesehen wird. Geschweige denn die Sache mit dem Sex!
Im Lied spricht er sie an. Sie lächelt zurück: Ja doch. Im trauten Heim des Mannes bringt sie es auf den Punkt: Du willst mich wohl zum Sex rum kriegen. Ich soll mich blamieren( shame).
Nein, heuchelt er, Liebe ist im Spiel, Baby, nur reine Liebe. Wir wissen, was er damit meint.
Und dann kommt dieses oben zitierte Wörtchen ins Spiel, das machomäßig natürlich nur er sagen kann, denn der Feminismus mit all seinen Wahrheiten wird sich erst zehn Jahre später in der westlichen Kultur bemerkbar machen.
Was für eine Einladung, für eine Befreiung vor allem für die Frauen! Immer bereit sein! Ja doch, wir Männer sind immer bereit oder? Und die Frauen? Natürlich, sagt das Männergewissen, gerade die!
Woher kommt dieser plötzliche Gesinnungswandel, was die sexuelle Freiheit betrifft, in einem so prüden und erz-protestantischen Land?
Wer oder was hat die ganze amerikanische und später auch westliche Kultur so infiziert, so beeinflusst, revolutioniert? Waren es die Hippies und die vorher gehende antiautoritäre Bewegung, die aus dem Europa der Frankfurter Schule und des Freudo-Marxismus nun nach Kalifornien übergeschwappt ist? Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment…
Es war ein deutsch Sprechender, ein k.u.k.Österreicher, ein Schüler von Sigmund Freud. Sogar kurzzeitig dessen Lieblingsschüler. Bis er sc hließlich 1935 aus der psychoanalytischen Vereinigung von Freud und ebenso 1934 aus der kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen wurde. Er war ein Jude, geboren in der zu Österreich gehörenden Süd-Ukraine, studierte und lebte in den 20er Jahren in Wien, dann in Berlin, in Norwegen, schließlich in den USA – immer auf der Flucht vor den Nazis.
Er hieß Wilhelm Reich und er hat eine neue Psychotherapie begründet, die sich auf die Befreiung der Sexualität stützt. Die Kommunisten, er gehörte dazu, wollten die Befreiung des Arbeiters von entfremdeter Arbeit. Reich als ein Freudo-Marxist, auch das gab’s bis in die späten siebziger Jahre hinein, propagierte die Befreiung von neurotischen Störungen im Sinne Freuds durch eine radikale Befreiung der Sexualität. Genauer: durch eine Befreiung hin zum Orgasmus.
… Nur ihr wisst nichts mehr davon! Weil man doch so über-informiert ist, nicht mehr historisch anamnetisch vorgeht und man sich nichts desto trotz nur noch um das Eine kümmert. Weil es, das Eine, zeitgeistig ist und Mode wie Medien es quasi vorschreiben, wenn man noch mithalten will oder kann. Entschuldigung, aber es stimmt. Die Zeiten sind vergangen, doch die Ideen Freuds und Reichs haben unterschwellig überdauert, haben sich verbreitet wie eine Epidemie. Trotz aller Anfeindungen und Irrtümer. Und trotz oder gerade wegen der überhand nehmenden Pornographie.
Ihr geht doch auch in die Muckibuden, Massagestudios mit und ohne (…), treibt wie die antiken Griechen und Römer Sport jeden Tag und Muskel-Entspannung, weil ihr so verspannt in euren Büros und an euren Schreibtischen sitzt, dass ihr schon in jungen Jahren mit Rückenschmerzen aller Art geplagt und gepeinigt seid. Seufz.
Wie hängen die Muckibuden nun mit Freud und Reichs Orgasmus-Theorie zusammen? Nach Wilhelm Reich zeigen sich alle neurotischen Krankheiten in Muskelverspannungen und in einer fehlenden Orgasmus-Fähigkeit. Diese Muskelverspannungen zeigen eine Lebensgeschichte auf, nämlich die der frühkindlichen Verletzungen, Wunden, Traumata. Indem ich die verkrampften Muskeln mit Hilfe eines Psychotherapeuten lockere, mein Unterbewusstsein zum Sprechen bringe, heile ich auch meine frühkindlichen Schocks, komme also meinen Neurosen auf die Spur.
Der wichtigste Schritt ist jedoch die unverkrampfte Fähigkeit zu einem befriedigenden Orgasmus. Freud distanzierte sich in diesem Punkt sehr schnell und stark von Reich, ja schloss ihn schließlich aus seinem Umfeld, seiner psychoanalytischen Vereinigung ganz aus. Sein ehemaliger Lieblings-Schüler wurde zum Gegner, zum Feind. Reich ging ihm entschieden zu weit. Wie nebenbei bemerkt auch C.G.Jung, Alfred Adler und etliche andere, mit denen Freud nicht mehr klar kam und die dennoch ihren psychotherapeutischen Weg erfolgreich weitergegangen sind.
Dennoch spukte seitdem vor allem in den USA, wo Reich seit 1939 forschte, lehrte und praktizierte, die Idee der befreiten Sexualität, d.h. auch einer dadurch hervor gerufenen seelischen Gesundheit, in vielen Köpfen herum. Sie inspirierte nicht zuletzt und bis auf den heutigen Tag einflussreiche neue psychotherapeutische Schulen, etwa Lowens “Bioenergie”-Konzept, die Gestalttherapie von Fritz Perls oder auch Intellektuelle wie Paul Goodman und Schriftsteller wie William Burroughs oder Norman Mailer.
Nicht zuletzt gehen auch die seelischen wie körperlichen Lockerungsübungen in Form von Sport, Massage, Muskel-Entspannung, Atem-Meditation oder Befreiung von einem Charakter-Panzer, der unsere Seele krank mache, zurück auf Reichs, auch Freuds These, dass nur der genitale Charakter ein gesunder Charakter sein kann.
Damit waren dem häufigen und promiskuitiven Geschlechtsverkehr Tür und Tor geöffnet. Zumindest eine gewisse Zeit lang: die Zeit der sechziger und frühen siebziger Jahre. Und ganz entgegen den Wünschen und Vorstellungen jedoch von Freud und Reich.
Doch wie hat sich die sexuelle Befreiung, die meiner Meinung nach ein Mythos und ein großes Missverstehen der Lehre von Freud und Reich darstellt, weiter entwickelt?
Noch einen Schritt vorwärts, in die achtziger Jahre. Jetzt erscheint ein Lied der Rolling Stones, das Furore machte, kurz verboten und daher um so erfolgreicher wurde, weil es die Pille als einzige und großartige Hilfe für die Frau propagierte. Auch die Befreiung der Frau schien ab sofort gesichert, sehr zum Wohle des Mannes. Jeden Tag musste ab sofort die Pille geschluckt und der Körper belogen werden.
Im Laufe der pessimistischen und fast schon apokalyptischen achtziger Jahre war schließlich alles wieder zu Ende: Chris Rea besingt nur noch verschlüsselt und in symbolischen Bildern seine Sehnsucht nach dem Sommer und einer vergangenen Liebe. Von Sex und “Machen wir’s gleich” (allright now) ist jetzt nicht mehr die Rede. Denn auch die Frauen sind aufgewacht und haben begonnen, sich zu wehren. Das machomäßige “Immer-bereit-Sein”-Gebaren vieler Männer ging ihnen entschieden zu weit.
Wohin sind wir also gekommen mit unserer Verfügbarkeit? Als Mann, als Frau? Nichts geht mehr. Alles ist wieder zu und verklemmt, zwanghaft, verkrampft. Der vom Feminismus definierte/ neu eingeführte/ okkupierte Begriff des “Sexismus” treibt alles noch mehr in die Verwirrung und hat zu einem implodierten Bild von Mann und Männlichkeit geführt. Als Workaholic wird sublimiert und kanalisiert. Selbst in der Populärkultur wird schon treuherzig-naiv geklagt: Wann ist denn Mann ein Mann?
Psychotherapeuten mit Körpertherapie im Sinne von Reich sind überlaufen und die Domina-Studios breiten sich weiter aus. Bist du ein Mann, machst du dich schuldig, wenn du eine Frau schön findest. Eine gerechte Strafe wartet auf dich. Liebe im Sinne einer Verantwortung auch für das Du wird zu schnellem Sex oder Sexismus im oben genannten Sinn. In Swingerclubs ist der Orgasmus schon lange keine” liebende Umarmung” mehr, wie es Reich verlangt hatte, sondern eher Kommunikation in der Brunftzeit der Kaninchen. Und bleibt eher doch immer nur “der kleine Tod”, wie die Franzosen sagen.
Putin propagiert mittlerweile in seinem imperialen Russland schon wieder eine neue sexuelle Verkrampfung, Verklemmung, die sogar die Benutzung von Kondomen reglementieren will unter dem Vorwand, die Geburtenrate zu erhöhen. Als wenn er selbst nicht geradezu ein Musterbeispiel für Promiskuität darstellen würde.
Und was mache ich da an meinem Schreibtisch? Ich suche und studiere (mit Rückenschmerzen?!)und studiere und suche in den vielen Büchern der Vergangenheit, ob sich nicht etwas wiederholt.
Ja doch, es wiederholt sich.
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Free, Allright now (1Single)
Rolling Stones, Mothers little Helper (1Single)
Chris Rea, Waiting for the Summer (1Single)
Lektüre: Myron Sharaf,”Wilhelm Reich – Der heilige Zorn des Lebendigen”(1983)
Eine sehr instruktive und leicht lesbare Biografie, geschrieben von Wilhelm Reichs Privat-Sekretär, dIe auch ausführlich auf Freud und die umbrechende Zeit in Wien von 1900-1933 zu sprechen kommt.
Im Kapitel 2 eines meiner beliebtesten Bücher (“Über die Sinnfrage“, 2011) setze ich mich – gleichwohl in einem anderen Kontext – mit der nicht unumstrittenen Sexualtheorie ebenfalls auseinander.