170 Über Handlungstheorie
Es bedarf eigentlich nur weniger Worte, dass wir so erfolgreich immer wieder gesteuert werden können. Ein einfaches Beispiel ist die lapidare Handlungsanweisung des Arztes: Sie sollten mehr Sport treiben.
Wann kommen wir schon zu freien und einfachen ja oder nein Entscheidungen? Manche denken lange darüber nach, andere fällen ihre Entscheidung schnell, spontan und aus dem Gefühl heraus. Für beide Vorgehensweisen gibt es gute Gründe, gute Theorien, die diese Entscheidungsfindung jeweils unterstützen.
Ich denke, dass es in jedem Fall mit Worten zu tun hat. Mit einigen wenigen Worten, die in unserem Gedächtnis bleiben. Diese Worte sind oft Allgemeinbegriffe. Über die Wahrheit der Allgemeinbegriffe habe ich schon öfter diskutiert. Manche sprechen ihnen jede Wahrheit ab, andere glauben an ihre Überzeitlichkeit. Auch jetzt befinden wir uns in dieser überzeitlichen Welt der allgemeinen Begriffe, die Platon Ideen genannt hat.
“Ideen” aber in einem anderen Sinn, als es unser Wortschatz bereit hält. Ideen sind nach Platon geistige Gebilde, die in unserem Kopf, im Denken, Wissen existieren. Besser und mit Platons Worten gesagt, die mit unserem Verstand, unserem Geist am überzeitlichen Himmel der Ideen gefunden, entdeckt, wieder entdeckt werden können. Sie existieren ewig, sind quasi genetisch einprogrammiert in unsere Strukturen des Gehirns. Dies wäre eine Theorie der Linguisten, die von Noam Chomsky z.B. aufgestellt worden ist.
Überzeitliche Ideen haben also nichts mit spontanen Einfällen zu tun, was man gemeinhin unter “Idee” im normalen Sprachgebrauch versteht.
Daraus folgt: Wir brauchen, um richtig und glücklich und gut zu handeln, nicht tausende von Büchern, von Wikipedien zu studieren, sondern es genügt, sich auf einige wenige Begriffe fest zu legen und diese im Unterbewusstsein zu speichern.
Bei existenziellen und (wichtig!) emotionalen Erlebnissen, insbesondere in unserer Kindheit und Jugend, seien sie nun positiver, seien sie auch negativer Art, werden solche Begriffe, die wie Handlungsanweisungen funktionieren, automatisch im Unterbewusstsein, der Erinnerungs-Festplatte unserer Seele, gespeichert. Fortan steuern sie eher emotional unsere Handlungen, meist ohne dass wir es wissen. Irgend wann einmal wird man sie sogar genau in unserem Gehirn lokalisieren und manipulieren können.
Ein solcher Begriff wäre zum Beispiel Liebe. Was verstehe ich, das heißt mein Körper, mein Geist, unter Liebe, wie soll Liebe sein, Liebe und Lust, was ist der Unterschied. Ein weiterer Begriff wäre Gott, wer lenkt mein Handeln, meine Entscheidungen, ich selbst oder ein anderer, oder werde ich durch diesen anderen, durch dieses andere gelenkt? Ich bin davon überzeugt. Ebenso wie ich davon überzeugt bin, dass wir nur sehr selten Herren unseres Handelns sein können, sein dürfen.
Ein dritter überzeitlicher Begriff wäre auch der Begriff von Glück, Glückseligkeit, Ziel meines Lebens; welche Ziele habe ich, um glücklich zu sein?
Ziele ergeben sich meistens aus den Umständen direkt, sie verlangen Handlungsanweisungen und sie sind oft schon längere Zeit vorgegeben. Doch wer gibt mir (und wem genau in mir?) diese Handlungsanweisungen? Freudianisch gesprochen: unser Ich, unser Es, unser Über-Ich? Oder, wie die Theoretiker der Transaktionsanalyse, die ich sehr schätze, sagen, unser Kindheits-Ich, unser Erwachsenen-Ich, unser Eltern-Ich?
Es gibt in den Sozialwissenschaften tatsächlich einen Forschungszweig, der unsere Handlungen, der selbst die Entscheidungsfindung zu unseren Handlungen digitalisieren, d.h. auch vorausberechenbar, prognostizierbar, steuerbar machen kann. Das heißt sie auch den Computern und dieser ganzen Welt von Steuerung (“Systemsteuerung”), Indoktrination und Anonymität ausliefert.
Wie immer bei so eminent wichtigen und neuen Forschungsergebnissen gibt es bereits ein Manifest der Warnung von Wissenschaftlern. Ebenso wie man vor der Atombombe gewarnt hat, wie man vor der Biotechnologie und dem Klonen gewarnt hat, so warnen jetzt führende Wissenschaftler und Nobelpreisträger der Welt vor einer Total-Digitalisierung, vor allem vor einer Roboterisierung am Beispiel der militärischen Kriegsführung (ganz aktuell jetzt der Einsatz von vollautomatischen und sich selbst steuernden Drohnen).
Auch wenn alles schon wieder zu spät ist. Was helfen diese Proklamationen, Manifeste, gut gemeinten Ratschläge, wenn mittlerweile diese Technologie bereits in Händen von Manipulateuren, von autoritären Herrschern, Geldmachern oder Halb-Kriminellen gelangt ist. Wie schon bei der Atombombe und der Biotechnologie hätte man sofort mit der Forschung in diesem Bereich aufhören, alle diese neuen Waffen verbieten müssen, aber – zu spät!
Also bewegt sich unser so labiler Ameisenhaufen, in dem wir uns befinden, nur immer wieder von Katastrophe zu Katastrophe, pendelt und taumelt und fällt hin und her.
Und jetzt? Wo stehen wir jetzt? Ich gehöre einer der wenigen deutschsprachigen Generationen an, die keine Waffe in die Hand nehmen, keinen Krieg hat überstehen müssen. Im Gegensatz zu meinen Eltern und Vorfahren. Meine Mutter hat im 2.Weltkrieg zwei Brüder verloren, mein Vater Mutter und Bruder. Mein Großvater kämpfte noch in den Schützengräben von Verdun und Reims. Jetzt sind wir mitten in einer spannenden und schönen Phase von Veränderung, Aufbruch und Fortschritt. An den Türen klopfen jedoch bereits wieder die Vorboten einer neuen Katastrophe in heftigen Fluchtwellen an.
Wie kam das antike Denken mit solchen Isosthenien zurecht? Dass auf das Gute das Schlechte folgen muss, sich bereits im Guten das Schlechte bildet und immer wieder umgekehrt und so fort? Und dass beides inkompatibel miteinander ist, unvereinbar nebeneinander bestehen bleibt?
Die Kunst des antiken Griechenlands antwortete darauf mit reichlich desillusionierenden Theateraufführungen: Resignation und Kapitulation. Anerkenne in deinem Leben deine Schwäche und Begrenztheit! Ertrage stoisch das Schicksal, das dir die allmächtigen Götter auferlegt haben. Du bist nie Herr deiner selbst. Das Ich, das später die Renaissance erst entwickelt hat, ist eine Fiktion.
Die Politik jedoch erprobte im Jahrhunderte langen Zeitalter vor allem der römischen Militärdiktatur mit wechselndem Erfolg den Widerstand, setzte sich zur Wehr in Form einer lange Zeit erfolgreichen Eroberungspolitik, die nicht zuletzt bevölkerungspolitisch immer auch ein Aderlass war. Bis hin sogar zu der Tatsache, dass Sparta und später auch Rom wegen mangelnder Nachkommenschaft vom Aussterben bedroht waren.
Aber das antike griechische Theater mit seinen Tragödien hat doch sehr schön immer auch die Ohnmacht des Menschen dargestellt, seine Zerrissenheit zwischen Können und Versagen, Schuld und Unschuld, Leben und Tod. Und damit der Zuschauer nicht zu deprimiert nach Hause ging, musste zum Abschluss eines langen Theatertages nach zwei gezeigten Tragödien immer auch eine Komödie folgen.
Liebe, geschweige denn Lust spielten in den antiken Tragödien bekannter Maßen nur eine eher untergeordnete Rolle. Mit einer Ausnahme: Die große Dionysos-Tragödie des Euripides (“Die Bakchen”), in dem der frevelhafte Umgang mit Lust, einer tödlichen Lust, die zum Wahnsinn führt, machtvoll mahnend im Mittelpunkt steht. Ein wunderbares Theaterstück und als ein zu interpretierender Mythos, eine “Erzählung” würde Lyotard sagen, wirksam wie eine Lektion der Bibel. Selbst heute noch, die wir doch alle so sehr dem Gott Dionysos opfern wollen, müssen. Seufz.
Im weniger gebildeten Römerreich beschränkte man sich neben den militärischen Tugenden und Fertigkeiten mehr auf Ablenkung durch Essen und Trinken, Sex und sinnliches Wohlleben, Vergnügen, Sportereignisse, blutrünstige Zirkusspiele – Brot und Spiele, panem et circenses, das reichte zur Ablenkung, um nicht auf schlechte Gedanken zu kommen. Einer kleinen Gruppe nur blieb, wie heute auch, die Intellektualität, das Denken, der Geist, die Entscheidungsfindung – nicht die politische Entscheidungskraft, was ein großer Unterschied ist – vorbehalten.
Für das unmittelbare leibliche Wohl sorgten in jeder nur denkbaren Hinsicht und Abhängigkeit die überall in großer Anzahl vorhanden Sklaven, sofern man Geld hatte. Wie sehr diese zur Lebenserleichterung, zu Luxus, sexuellen Praktiken, Dekadenz und Wohlleben bei getragen haben, das kann man sich heute gar nicht mehr so richtig vorstellen.
S.91: Inhaltsverzeichnis 170-1
S.109: Bücher von Reinhold Urmetzer. Neu: “Abfahrende Schiffe” -Prosagedichte. Dazu gibt es auch eine CD mit Mao Zhao und Albertina Eunju Song. Vgl. Nr.63 und 64 im Blog.
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