176 Über Träume
Brief an Lucilius 5
Du hast mich erstaunt nach meinen Träumen gefragt. Anscheinend ist es für dich nicht selbstverständlich, in meinem Alter noch Träume zu haben. Ebenso wie du dich auch über meine Sexualität und meine Vorstellungen von Liebe gewundert hast. Das Leben will Art-Erhaltung, sagt mein Hausarzt. Es lockt uns deswegen mit Lust, sage ich. Und jede Lust will Ewigkeit, schreibt Nietzsche, tiefe, tiefe Ewigkeit. Zumindest beim Mann, füge ich hinzu.
Doch es sind keine wirklichen Träume, die sich meine Fantasie einbilden lässt, sondern es sind Anti-Träume. Träume, die nicht realisierbar, vielleicht auch nur nicht mehr realisierbar sind.
Das bedeutet nicht, dass sie vom Leben und der unerbittlich ablaufenden Zeit zerstört worden wären. Nein, es ist die Wahrheit, die Wirklichkeit, die das Leben zu irgendeinem Zeitpunkt jedem Menschen immer wieder zeigen wird, zeigen muss. Manche Menschen erreicht diese Botschaft früher, manche später. Manche vielleicht auch überhaupt nicht. Leider.
Mein Hauptwunsch, ich denke der Hauptwunsch eines jeden Menschen wäre, dass das Älterwerden, das Altern aufhört, dass man ihm eine Grenze setzen könnte. Was aber nicht möglich ist. D.h. auch: ein Leben ohne Altwerden und Sterben kann es nicht geben. Forever young heißt es so schön naiv und unbedarft in der Popmusik. Leerer Schein.
Ein zweiter Traum wäre: Die Last der Verpflichtungen, der Pflichten ab werfen zu können. Vor allem die Verpflichtung, die Sorge dem Nachwuchs und vielleicht sogar der menschlichen Gesellschaft gegenüber. Doch diese Sorge bleibt immer, denn im Allgemeinen überleben die Kinder ihre Eltern. Es ist also eine lebenslange Sorge und Pflicht. Nicht über sie zu wachen, sondern sie wohlwollend zu begleiten.
Eng damit verwandt ist auch die Verpflichtung der Ehe gegenüber. Man kennt sich gut, man hat viele, viele Jahre miteinander zusammen gelebt, miteinander gelitten, geliebt, gekämpft. Man hat sich sehr aneinander gewöhnt, so dass man auch nicht mehr voneinander lassen kann, voneinander lassen will. Quasi wie ein Körperorgan, von dem man sich auch nicht einfach so trennen kann.
Aber auch die Alltagsnöte möchte ich im Traum aufgeben, wenn ich könnte, die Nöte des Berufs, Probleme mit dem Chef, mit der Putzfrau, dem täglichen Tagesablauf wie kochen, schlafen und essen. Nöte, die man jedoch nicht aufgeben kann, ohne asozial zu werden.
Oder man entscheidet sich für ein Leben alleine, ein Solitär zu werden, ein Solipsist, ein Nomade, eine Monade zu bleiben oder zu sein – du kannst selber auswählen, was dir am besten von all diesen illustren Begriffen gefallen würde.
Aber die Entscheidung für das Alleinsein ist auch eine Entscheidung für die Einsamkeit. Ich habe mich früh dagegen entschieden, weil ich sie auch habe kennen lernen müssen. In Phasen ohne feste Partnerschaft habe ich sie sehr intensiv “genießen” dürfen, aushalten müssen. Es war nicht meine bevorzugte Lebensform, und ich bereue nicht, dass ich mich für das quirlige, temperamentvolle und intensive Leben in der Gruppe, das Leben in der Gemeinschaft und in einer Familie entschieden habe.
Und dennoch kann es auch einen positiven Wunsch noch in diesen vielfältigen Isosthenien, was das Leben betrifft, geben: Dass alle diese Hauptwünsche, die so negativ daher kommen, doch auch im Positiven bestehen, eine positive Seite entwickeln können.
Denn so ganz negativ ist das Alter nicht. Es kennt die Ausgewogenheit der Gefühle, der Erfahrungen, des Urteils. Es lässt sich nicht mehr so schnell blenden und verführen. Es bleibt in kritischer Distanz zu den Dingen und Menschen des Tages. Und es bleibt oft nur noch in der Gegenwart: die manche Zeit verläuft erfreulicherweise wieder etwas langsamer.
Es lehrt, Kleinigkeiten und Überraschungen ganz neu Wert zu schätzen. Es liebt die Wahrheit und den Humor. Es ist weniger ehrgeizig oder fanatisch. Es weiß um die Kürze und Schnelligkeit des Tagesgeschehens, es beobachtet und begleitet fast ohne Wertung und mit einem lächelnden Wohlwollen die Experimente der nach wachsenden Jugend. Denn ihr nur gehört die Zukunft, und das Alter hat – anders als Sokrates glaubte – viel mehr Verständnis für sie.
Selbst die Nöte des Tages, seines alltäglich gleichförmigen Ablaufs, werden geringer und weniger wichtig, wenn es um so existenzielle Dinge wie Gesundheit oder Krankheit, Wohlleben und Freude oder Unglück und Leid geht.
Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges schreibt zum Thema:
Noch einmal leben
„Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte,
im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren,
würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr Bergsteigen,
mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben;
nur aus Augenblicken;
vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich von Frühlingsbeginn an
bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt
Und weiß, dass ich bald sterben werde.”
Montaigne schreibt in seinen Essays: Philosophieren heißt sterben lernen. – Und das machen wir auch gerade. Das machen wir jeden Tag, jede Stunde – mit oder ohne Wissen, mit oder ohne Bewusstheit. Dieses Ende schon in früher Jugend zu bedenken, das lehrt immer wieder die Philosophie, das lehren alle Weisheitsbücher der Welt-Kulturen.
Dies als Antwort auf deine Frage nach meinen Träumen, meiner Fähigkeit zum Träumen.