185 Über Gottesdienste (Antwort)
Lieber SG,
Sie haben mich gebeten, mir einige Gedanken über die Zukunft von Kirche und Gottesdienst zu machen. Insbesondere bezogen auf die “Hauskirche” Sankt Maria, die sich in einer existentiellen Krise zu befinden scheint. Hier das Ergebnis.
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Kirchen und Tempel sind mächtige Gebete der Menschheit, die über sich selbst hinaus wachsen will. Die ihre Grenzen erkennt und demütig wird. Es sind deshalb oft große, wunderschöne, übermenschliche Gebäude, die überall in der Welt errichtet werden für diesen oder einen unbekannten Gott.
Es sind keine Konsumtempel, in die man geht, um mit materiellen Gütern froh gelaunt wieder heraus zu kommen. Im Gegenteil: Mit nichts als einem rein geistigen und nicht mit Händen greifbaren Anliegen geht man hinein und geht damit auch wieder heraus.
Das Geistige steht also in diesem Fall geradezu konträr zum Materiellen, das gegenwärtig doch so überaus dominierend in seiner ökonomistischen Form unsere Welt und Gesellschaft beherrscht, vielleicht sogar terrorisiert.
Eigentlich seltsam: Dass in diesen riesigen Gebäuden für viele Zeitgenossen quasi ein Nichts angebetet, verherrlicht wird, zu dem gesprochen, dem geopfert wird, Gelübde werden vorgetragen, Selbst-Kasteiungen angeboten. Ein materiell gesehenes Nichts, das nicht greifbar ist, das man nicht hört oder sieht, das sich meist nur mit zu interpretierenden Worten, mit Büchern, Geschichten, Märchen und Zeichen oder Symbolen dem Menschen vermittelt und kenntlich gemacht hat.
Kirchen oder Tempel, sobald sie sich als solche klar und deutlich machen, werden dennoch überall und von fast jedem Menschen, selbst wenn man noch so unreligiös, ungläubig oder atheistisch eingestellt ist, geschätzt, bewundert, respektiert. Sie sind richtige Schlösser des Geistes ohne sichtbare Herrscher. Man besucht sie gerne, um Ruhe dort zu finden, dem unbekannten Fremden und manchmal auch Neuen zu begegnen, einer anderen Welt.
Jedes Gotteshaus spricht seine eigene Sprache. Es spricht die Sprache seiner Zeit, in welcher es gebaut worden ist. Es spricht aber auch die Sprache der Gegenwart, in welcher es leben – ja man muss schon mittlerweile sagen: in welcher es überleben will.
Auch die Stuttgarter Marienkirche ist ein solche Kirche. Sie zeigt sich sofort dem Außenstehenden gleich welcher Religionszugehörigkeit als ein Gotteshaus. Ein großes, nicht zu übersehendes, zu überhörendes Gotteshaus, das mit Ehrfurcht, mit Andacht, mit Staunen betreten werden will. Wie traurig sind leer stehende oder sogar umfunktionierte Gotteshäuser, die es auch immer wieder gibt. Sogar Kirchen als Museum kann ich mir nicht recht vorstellen, geschweige denn Kirchen oder mehr noch Kapellen, die in ein Gasthaus, in eine Kneipe umgewandelt worden sind.
Auch die Stuttgarter Marienkirche ist ein solches Gotteshaus, das ums Überleben kämpfen muss. Die Besucherzahlen gehen zurück wie überall in unserer säkularisierten westlichen Diaspora, die mittlerweile immer mehr Missionare aus dem Ausland benötigt. Denn ohne Wehmut oder Nostalgie muss man zugeben, dass der westliche Kulturkreis immer mehr zu einer Diaspora der Religion, des religiösen Bewusstseins geworden ist und eine ganz neue Art von Missionierung braucht, die jedoch noch nicht einmal ansatzweise existiert. Und wenn ja, dann kommt sie immer noch in ausgetreten veralteten Schuhen daher. Sie ist kontraproduktiv und erreicht vor allem nicht mehr die Jugend.
Natürlich brauchen Gotteshäuser Identitäten. Sie brauchen einen Gott. Wenn es keinen Gott mehr gibt, braucht man auch keine Gottes-Häuser. Man braucht auch Menschen, die diese Häuser mit welchem Gottesglauben auch immer (selbst Atheisten haben ihren Gott) besuchen und hegen und pflegen. Die solche Zeichen einer immer wieder auch anderen Zeit wachsen, blühen und gedeihen lassen. Wie ein Musikstück kann auch eine Kirche in ihrem Gottesdienst erklingen und lebendig werden. Man fand diese helfenden Hände der Menschen früher in den so genannten Kirchengemeinden, in den Pfarreien. Manche wissen heute schon gar nicht mehr, was diese Worte überhaupt bedeuten.
Eine solche Identität stiftende Pfarreien-Gemeinschaft gibt es auch im Falle der Stuttgarter Marienkirche nicht mehr. Die Besucher dieser Kirche sind bunt zusammengewürfelt aus vielen Ländern, Nationen und Erdteilen so wie die ganze Innenstadt selbst oder wie Stuttgart und andere Industrie-Städte allgemein.
Das bedeutet: An eine feste Gemeinde Gleichgesinnter braucht in dieser Kirche niemand mehr zu glauben. Sie ist meines Erachtens auch gar nicht notwendig. Und man müsste deshalb die Kirche auch aus diesem der organisatorischen Not entsprungenen Dreierpack von Kaltental, Heslach und Mitte/Süd wieder herausnehmen. Heslach und Kaltental sind vielleicht noch einigermaßen intakte Gemeinden, die einen Gemeindegottesdienst tragen und bilden können. Während Sankt Maria als City-Solitär gerade keinen Gemeinde-Gottesdienst mehr braucht.
Doch wie soll es weitergehen mit dieser Kirche und ihrer Identität? Das fragen Sie mich, das fragen wir uns alle.
Ich habe diesen Sommer die Besucherzahl genauer beobachten können. Im Durchschnitt war sie gering, auch wenn dann und wann immer wieder neue und andere Menschen zu sehen waren. In den wenigsten Fällen haben sich jedoch die Besucher, wie gewünscht, im ChorRaum versammeln wollen. Und dennoch gab es immer wieder Besucher. Es ist ein Auf und Ab, ja mittlerweile werden es sogar wieder deutlich mehr in der Kirche.
Diese Gläubigen oder auch nur Neugierigen nun im Sinne einer Gemeindetheologie in den Chorraum zu Gebet oder Gottesdienst zwingen zu wollen, geht am Sinn dieser Kirche voll und ganz vorbei. Es mag in unserem Stadtteil noch einige wenige schwäbische Einheimische geben, die sich mit ihrer häuslichen Umgebung einer Pfarrei, einer Gemeinde weiterhin verpflichtet fühlen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass in Sankt Maria fast nur noch Individualisten zu finden sind. Individualisten mit vielen unterschiedlichen Sprachen, Lebensgeschichten, Zukünften. Auch aus unterschiedlichen Stadtteilen.
Was könnte nun der “Sinn” einer solchen Kirche wie der Marienkirche sein? Ich sage “Sinn” und meine damit Aufgabe, Funktion, Identität.
Immer wieder erinnere ich mich an das englische Modell, wie es etwa in London praktiziert wird. Kirchen sind dort oft Zielgruppenkirchen. D.h. mit einer eigenen Identität, mit einem eigenen Programm, zugeschnitten auf eine ganz bestimmte und ausgewählte Besucher-Zahl, die von überall her in der Stadt anreisen. Im Fall der katholischen Marienkirche könnte ich mir dieses Gotteshaus sehr gut als eine Kirche der Kontemplation, der Meditation, der Stille und des Gebetes vorstellen. Nicht jedoch wie angedeutet oder bereits angedacht als eine Kirche der Gräber, eine wirkliche Grabeskirche, sondern eher als eine Innenstadt-Kirche der Ruhe, Stille und Besinnung. Den ernsten Charakter einer vom Krieg beschädigten Kirche, die mittlerweile fast schon “franziskanisch”-puristisch wirkt, sollte man ihr ebenfalls lassen.
Und sie sollte auch wieder eine Kirche des Gebetes werden. Warum können keine Rosenkranzandachten noch einmal versucht und organisiert werden, wie es früher fast jeden Tag geschehen ist? Es braucht schon eine gewisse Anlaufzeit.
Anders als die Eberhards-Kirche, die so ganz modernistisch daher kommt und zu der ich ehrlich gesagt gar keinen Zugang finde (einschließlich ihrer fast schon ideologischen Orgelmusik), spricht die Marienkirche trotz ihrer historistischen Ästhetik eine sehr schöne alte und traditionelle Sprache. Es ist die Ursprache aller christlichen Kirchen, wie sie in früheren Jahrhunderten als Zeichen von Glauben, Kraft und Energie der Menschen in schwerer Zeit gesprochen worden ist. Es ist die Begegnung mit und das Wiederfinden der Gotik. Dass mittlerweile in der Architektur immer mehr – dies wieder nebenbei bemerkt – wie im Historismus des späten 19. Jahrhunderts zitiert, nachgeahmt, wiederholt wird, ist m.E. kein Sakrileg, wie manche Dogmatiker glauben, sondern eine Notwendigkeit in einer Zeit und Kultur, die der Moderne mit ihren Errungenschaften und “Erfolgen” immer kritischer gegenüber steht.
Zielgruppen-Kirchen können natürlich weiterhin auch die Gemeinde-Kirchen oder Gemeinde-Pfarreien sein, wie sie auf dem Lande noch vielerorts funktionieren, vor allem im Süden Deutschlands und Europas. Zielgruppen-Kirche kann aber auch eine Jugendkirche sein, die von jungen Leuten für junge Leute gemacht wird. D.h. im Sinne auch der Gospel-Kirchen mit Tanz und Musik, wie sie im Protestantismus großen Zulauf finden. Zielgruppen-Kirchen können Heilungskirchen sein im Sinne von Pilgerkirchen der Wallfahrtsorte, die mit Wunderheilungen und anderem Unerwarteten umgehen können. Sie können sich der Taizé-Bewegung anschließen oder eher sich an den streng orthodoxen, d.h. traditionalistischen Kirchen orientieren.
Es kann im Gegensatz dazu aber auch eine ökumenische Kirche sein, die sich sehr dem Protestantismus annähert. Ich habe diese Art Kirche immer wieder bei Wortgottesdiensten kennen gelernt. Es gibt noch viele weitere Möglichkeiten, unsere Kirchen von Fall zu Fall und jeweils dem Ort wie den Besuchern angepasst mit Leben zu füllen.
In der Marienkirche im Sinne einer Kirche der Stille und Besinnung stelle ich mir vor, dass eine leise Hintergrundmusik läuft, sei es aus der Gregorianik, sei es aus dem Chorgesang der Renaissance der Engländer oder der Italiener. Auch wenn jetzt viele entsetzt aufblicken werden – einen Tod muss man sterben, Kompromisse mit dem Zeitgeist von Verlockung und Verführung müssen geschlossen werden. Außerdem sollte wieder eine Fatima-Madonna in dieser Kirche aufgestellt werden. Der Kerzenschmuck in der SeitenKapelle hat viele Leute, selbst wenn sie nicht gläubig waren, angesprochen und auch fasziniert, auch außerhalb der Gottesdienstzeiten. In Portugal stehen gelegentlich sogar zwei Madonnen in einer Kirche.
Warum sollte man auch nicht in dieser Kirche in den Haupt-Gottesdiensten dann und wann Latein sprechen? Ich selbst habe immer wieder zum Beispiel im Markus-Dom in Venedig oder auch in Mailand die sehr positive Erfahrung machen können, dass gewisse Standardformeln, Standardfloskeln in Latein, dieser so wunderbar internationalen Welt-Sprache, gesprochen werden quasi als ein festes Band von weltweiter Verbundenheit und Einheit. Warum sollten die Gottesdienste in der Marienkirche nicht auch dem Äußeren entsprechend eine eher traditionelle, feierliche, wenn nicht sogar betont ästhetische Form aufweisen? Schlimmer als in Venedig bei einem Gottesdienst mit dem Patriarchen kann es wohl nicht kommen!
Gewiss, es gibt Strömungen und Geistliche, die mit einer solchen Art von Tradition und Anpassung überhaupt nichts anfangen können. Die ihre seelsorgerische Qualität und Funktion an allererster und wichtigster Stelle sehen oder auch ihre theologische Aufgabe betonen, das Wort Gottes zu verkünden. Ich persönlich kann gerne auf manche selbst fabrizierte theologische Belehrungen oder Interpretationen in der Kirche verzichten. Ich bevorzuge und nütze mehr die Rituale, die Zeichen, die sinnlichen Erfahrungen. Fast sind mir deshalb die Gottesdienste im fremdsprachigen Ausland lieber, wenn ich nur wenig verstehe, als schlechte Predigten. Schlechte Predigten können mich tatsächlich aus dem Gotteshaus treiben.
Doch (fast)alles geht. In den Formen der Kirchenbauten wie in den offenen Formen der Gottesdienste. Man muss nur bereit sein zum Experiment, zum Test, zum Ausprobieren, ob es sich bewährt. Und man muss aktiv werden. Aktiv im Sinne von Kommunikation und Bekanntmachen.
Noch einmal: Ein Gotteshaus muss zeigen, dass es lebt. Es muss zeigen, dass es atmet, mit Menschen, mit Musik, mit Kunst, mit Ritualen und Zeichen. Und es kann zeigen, dass es auch lebt im geistigen Sinne des Wortes von Gott. Doch dies ist ein so heikles Thema, die Interpretation des Gottes-Wortes durch immer wieder notwendig schwache Menschen, dass ich an dieser Stelle nicht darauf eingehen will. Man wird jedoch bereits jetzt schon besser verstehen aus dem eben Geschriebenen, dass ich kein Anhänger Luthers und seiner so übermäßig starken Wortbezogenheit bin. Eher im Gegenteil.
Wie geht es nun weiter in der Kirche Sankt Maria? Warten wir ab. Ich habe den Eindruck, dass sich die Kirche wieder mehr füllt. Machen wir sie auch noch internationaler, lassen wir immer wieder andere Priester den Gottesdienst gestalten, Priester aus aller Welt. Machen wir also die Kirche zu einer internationalen! – Mit internationalen Priestern und einer Mehrsprachigkeit, worunter ich auch Latein verstehe. Insgesamt aber mit einer eher traditionellen Grundhaltung, die sich vom protestantischen Gottesdienst deutlich und vielleicht sogar provokativ abhebt. Auch im Protestantismus ist meinen Beobachtungen zu Folge eine Gegenbewegung hin zum Sinnlichen, zum Mystischen, Verinnerlichten und Meditativen zu beobachten. Auch dort wird eine Lücke immer schmerzlicher bewusst.
Vielleicht findet man auch eine Ordensgemeinschaft, die diese seltsame und so einzigartige Kirche (mit)verwaltet. Kirche einer Ordensgemeinschaft – das hört sich doch gut an. Aber auch Ordensgemeinschaften dürften mittlerweile hier in Deutschland schwer zu finden sein. Warum nicht eine Ordensgemeinschaft aus dem Ausland? Selbst wenn man dann vorläufig kein Deutsch kann. Warum nicht auch fremde Prediger einbinden, Persönlichkeiten, die etwas zu sagen haben und anziehend wirken? Diesen Weg gehen einige protestantische Kirchen selbst hier in Stuttgart mit großem Erfolg.
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Dies sind nun die ersten Gedanken, lieber SG, die mir zum Thema eingefallen sind. Hier, im portugiesischen Fatima, wo ich dies schreibe, scheint die religiöse Welt noch einigermaßen in Ordnung. Es existiert eine natürliche Frömmigkeit, auch Religiosität in der Bevölkerung, die sich sogar von einem bigotten Glaubens-Fanatismus abgrenzen kann, der Kehrseite jeder Religiosität.
Pater Kondor, Postulator von Fatima, hat immer wieder sogar junge Menschen in den Carmel führen können, eine so strenge und für preußisch-rationalistische Sichtweisen so unangemessen veraltete Ordensgemeinschaft.
Doch alles geht, und die Welt, das Denken, die Religion sind dann und wann immer wieder größer, kräftiger und mächtiger, als wir es für möglich gehalten hätten.
Es grüßt Sie sehr herzlich aus meinem fernen Refugium in Fatima
Ihr
Reinhold Urmetzer