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Von Wahrheit und Wissenschaft
Wahrheit ist eine Idee, die selbst in der größten Unwahrheit immer noch durchschimmert. Das heißt, sie ist nach Platon etwas Überzeitlich-Göttliches, ein Attribut Gottes. Ohne Wahrheit keine Lüge, keine Wahrscheinlichkeit. Und dennoch zerfällt auch das Abbild der Wahrheit, also der Begriff, den wir von ihr besitzen und für sie einsetzen, um uns darüber zu verständigen, immer wieder in seine Isosthenie.
Am Beispiel von Wahrheit kann man zeigen, dass die Ursache einer Isosthenie immer im erkennenden Subjekt zu finden ist und ganz auch im Sinne Kants, dass wir mit jeweils anderen Brillen die Welt betrachten, in den Begriff bringen und beherrschen wollen.
Das Problem des Sprechen-Könnens und Sprechen-Wollens habe ich schon angesprochen. Nach Wittgenstein und seiner Schule (“Philosophische Untersuchungen“) bewegt sich jeder Mensch in seiner eigenen Welt mit eigener Sprache, Verhaltensweisen, Interessen etc. Wittgenstein nennt dies das Sprachspiel, die Franzosen sagen Diskurs dazu. Etwas erweitert nennt es der Wiener Philosoph Lebensform.
Wer mich jetzt liest, versucht demnach mein “Sprachspiel” , das manchmal recht schwer zu verstehen oder sogar unverständlich sein mag, mit zu spielen. Wenn man mich hingegen versteht, sogar leicht versteht, teilt man auch ein wenig meine Lebensform. Zumindest muss man einen Computer besitzen und vielleicht sogar eine Schwäche für die neue Blog-Kommunikationsform besitzen.
Ich sage aber nur “ein wenig”, denn dieses Blog-Schreiben macht nur einen Teil meiner Lebensform aus. Als Mensch neben dir und dir bin ich ganz gewiss wieder ein Anderer, vielleicht sogar ein ganz Anderer. Man ist immer mehr als man ist, mehr als man scheint. Alles ist von diesem metaphysischen “Mehr” umgeben, das es immer wieder neu zu entdecken, zu entwickeln, zu entschlüsseln, zu finden oder zu erfinden gilt. Von Nicht-Wissen und Geheimnis sind wir also permanent umgeben – unser Nicht-Wissen bleibt immer um ein Vielfaches größer als unser Wissen. Und alles ist spannend und geheimnisvoll – das Ich und das Andere, das es zu entdecken gilt. Wo, was, wer ist dieses Andere, das mich so geheimnisvoll-verführerisch in seiner Gewalt hat? – Jabès schreibt, die Totalität stellt die Fragen, doch jedes Mal kann nur das Fragment antworten.
Wenn jeder immer wieder ein Anderer ist, also auch eine andere Sprache spricht, dann müssen wir viele Fremdsprachen im Laufe unseres Lebens lernen. Was für eine Aufgabe kommt auf uns zu! – Sprich fremde Sprachen im eigenen Land. Das war ein provozierender Slogan der deutschen Pop-Gruppe DAF, die paradoxerweise die Fremdheit unter uns und untereinander wohl noch verstärken wollte. Warum nicht – paradoxe Intervention ist sogar manchmal in der Pädagogik nützlich. Ich sage “nützlich“, ein kleines “nützliches” Wörtchen, um dem Geheimnis von Wahrheit als Idee vielleicht doch näher kommen zu können.
Denn in den USA hat sich um 1900 der sogenannte pragmatische Wahrheitsbegriff gebildet – wahr ist das, was nützt, was einer Sache dienlich ist. Mittlerweile und im Jahr 2014 muss man wohl einschränken: wahr ist das, was der Wirtschaft und nicht mehr der Moral nützlich ist (um 1900 waren die Amerikaner noch starke Moralisten). Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe, Schönheit – alles ist käuflich auf dem neuen Sklavenmarkt. Habt ihr euch auch schon euren neuen Liebhaber mit seiner Gold-Kreditkarte geangelt? – Entschuldigung, das war wohl wieder zu viel, auch wenn es mehrdeutig formuliert scheint.
Ich habe eine Zeit lang geglaubt, dass die körperliche Begegnung mit einem liebenden Menschen dieses metaphysische “Mehr”, welches erst Fremdheit ausmacht, überwinden könnte, dass auf diese Art Nähe erzeugt werden und Wahrhaftigkeit aufgebaut werden könne. Aber das Gegenteil ist der Fall. Im sinnlichen Rausch der Sexualität, auch der Zärtlichkeit und Leidenschaft vergisst man alles, kommt sich gerade nicht näher, sondern bleibt nur dem selbstgewissen Ich, der Spur des Egoismus, der Lust, der körperlichen Befriedigung verbunden, zumindest als Mann.
Eine gleich große Schnittmenge im Bereich unserer Kommunikation und Interaktion zu finden, das dürfte schwierig sein. Also begegnen wir uns immer wieder nur als Fremde, selbst wenn wir die gleiche Sprache sprechen und uns zu verstehen scheinen, uns verständigen können. Doch wie weit sind wir voneinander entfernt!? – Ich kann mit Empathie, Sensibilität, Lerneifer fremde Sprachen zu sprechen versuchen, sie lernen. Aber die Schnittmenge mit meinem Gegenüber bleibt immer noch gering. Ich kann das Gegenüber spüren, fühlen – vielleicht wäre das eine tragfähige Basis, ähnlich gehen wohl auch die Tiere vor, wenn sie sich kennen lernen wollen (zur Begattung). Aber was ist, wenn man nicht fühlen kann wie viele – Entschuldigung ich übertreibe – Männer, die ein Problem mit ihrem Emotionshaushalt haben oder auch nicht?
Besonders problematisch scheint mir das Verstehen der geschriebenen Sprache zu sein, die immer wieder interpretiert werden muss. Die Dekonstruktivisten legen die Wahrheit einer Aussage ganz nur in die Hand der Interpreten und ihres “Blicks”. Sie bekämpfen die Ansicht, dass ein Autor bestimme, was seine Worte bedeuten. Vielmehr zeige der verborgene Sinn eines dekonstruierten Textes, dass der oberflächliche Sinn nicht der eigentliche sei. Wahrheit ist nur, was der Interpret da hinein verlegt, seine Sicht der Dinge, und jede beliebige Interpretation scheint so gut wie jede andere zu sein. Im Interpretieren enthüllt der Interpret auch manchmal mehr von sich selbst als von dem zu Interpretierenden.
Lyotard findet gerade deshalb moderne Kunst gut, vor allem, wenn sie fordernd oder gar unverständlich ist. Was ist mit dir, fragt diese Kunst uns nämlich, dass du mich nicht verstehst, vielleicht sogar nicht verstehen willst? – Du sollst keine Auskunft über mich erwarten, sondern nur über dich wirst du eine Antwort erhalten. Moderne Kunst wirft uns also immer wieder auf uns selbst und die Selbstreflexion zurück. Im Paris von 1985 hat Lyotard, dieser Vordenker und Namensgeber der Postmoderne, eine große Ausstellung kuratiert mit dem Titel “Die Immaterialien”, die genau diesen Effekt hatte – Rätsel, Ratlosigkeit und Geheimnis, überbordend und überall.
Und was ist mit den vielen Fakes, die uns mittlerweile überschwemmen? Woher wisst ihr, dass ich jetzt die Wahrheit sage oder schreibe? Im naturwissenschaftlichen Denken gibt es immerhin den Beweis durch das Experiment, überzeugend nachzulesen in Karl Poppers Theorien über Verifikation und Falsifikation. Doch wie ist es in den Geisteswissenschaften? Dort stützt man sich manchmal auf Belege und Zitate von “Autoritäten” oder streitet über starke und schwache Argumente und versucht eine naturwissenschaftliche Kommunikationstheorie geisteswissenschaftlich zu begründen, als wenn es Hans-Georg Gadamer nie gegeben hätte.
Derrida beruft sich selten auf andere Autoren, seine Texte sind nicht überfüllt mit Anmerkungen, Verweisen und “Bezugsquellen”, die mir sehr oft fast schon lächerlich vorkommen. Vielleicht vertraut er der Plausibilität seiner Vorgehensweise. Ich spreche schon gar nicht mehr von Argumentation, weil dieses Wort von den Sprachpuristen, auch der einschlägig vorgebildeten Sprach-Polizei Anglo-sächsischer Art sehr eingeschränkt, eingeengt, ja sogar kastriert worden ist.
Für Lyotard ist alles, was die Wissenschaften gleich welcher Art geistig (nicht technisch) produzieren, nur noch Erzählung, Geschichte (Märchen nennt er es gleichwohl nicht) – bessere Begriffe fallen mir in der deutschen Übersetzung auch nicht ein. Alles ist von Fall zu Fall gleich gut wie schlecht, manchmal zutreffend, nützlich, manchmal überflüssig. Selbst die argumentative Sprache kann nicht in jedem Fall angewendet werden (siehe mein Gespräch mit ihm im Blog vom 13. März). Denn alles geht, alles ist Interpretation und Streit um die richtige Auslegung selbst einer mathematischen Formel. Dies mag für Mathematiker nun wieder sehr unkorrekt von mir gesagt worden sein, aber ihr versteht vielleicht, was ich damit meine.
Wir sind nämlich wieder in der Antike, dieses Mal bei den Sophisten, die Lyotard sehr geschätzt hat. Auch für Protagoras geht alles nur vom Menschen und seiner Sichtweise aus, alles bleibt gleichermaßen subjektiv auf den Einzelnen bezogen, sein Wissen, seine Interessen, seine Ziele. Eine für alle gültige, also verallgemeinerbare Wahrheit gibt es seiner Meinung nach nicht.
Und gerade diese seine Haltung hat Platon auf die Bühne gerufen. Er behauptet genau das Gegenteil: Es gäbe überzeitliche Werte und Wahrheiten, aber sie sind nur den denkenden Menschen zugänglich, den Philosophen und anderen Wahr-Sagern. Während die gemeine Masse dumpf in ihrer Höhle schmachtet mit kleinem Glück und verkümmerten Gehirnen oder Verstandeskräften und dem täglichen … (selber einsetzen, ihr wisst was ich meine).
Eben haben wir den anarchistischen Wahrheitsbegriff kennengelernt – Wahrheit gibt es nur von Fall zu Fall -, denn Paul Feyerabend, auf den er zurück geht, war ein anarchistischer Wissenschaftstheoretiker. Aus den USA stammt der pragmatische Wahrheitsbegriff, der gegenwärtig wohl am meisten akzeptiert wird. Es gibt auch noch den dogmatischen Wahrheitsbegriff, den zum Beispiel die kommunistische Partei lange Jahre zu ihrem Gunsten propagiert, ich sage besser indoktriniert hat. Es gibt auch noch die logische, die theologische, sogar die streng mathematisierte formallogische Wahrheit und so fort. Es gibt auch mittlerweile Lügendetektoren und dergleichen, die das Wahrheitsproblem auf eine ganz neue und technische Art zu lösen versuchen – immer noch vergeblich, wie ich meine.
Für die Künstler richtet sich die Wahrheit wohl nach Stimmigkeit, Schönheit und Zukunftsfähigkeit eines Kunstwerks, die Moralisten sehen den Zusammenhalt der menschlichen Gesellschaft in Frieden und Freiheit im Vordergrund und die Dadaisten verstehen unter Wahrheit nur ein Wort mit sieben Buchstaben (Achtung Falle!). Und so fort.
Und was ist, wenn wir die Wahrheit endlich haben, besitzen, beweisen können, und niemand kümmert sich darum? Wenn gut und überzeugend informationstheoretisch bewiesen worden ist, dieses Kunstwerk lohnt nicht den Kaufpreis und dennoch wird es massenhaft gekauft? Wir stimmen doch zu, dass überkomplexe Musik große Kunst ist, aber niemand will sie hören? Die Friedensforschung beweist sehr überzeugend, dass Kriege Atavismen, Rückfälle in vorgeschichtliche, also auch tierische Zustände sind und dennoch startet fast tagtäglich wieder eine neue blutige Auseinandersetzung?
Wahrheit gibt es also immer nur von Fall zu Fall, manchmal mehr, manchmal weniger. Nur eine Wahrheit ist jedoch absolut gewiss: der Tod. Und dieser Tod sollte verhindert werden, wie ich schon geschrieben habe. Wir sind also wieder bei den Existenzialisten. Über den Tod lässt sich nicht streiten. Und nützlich ist es auch, dann und wann dem Tod oder seinen Vorboten ins Auge zu schauen. Ich habe nur einmal in meinem Leben eine heftige Schlägerei mit ansehen müssen. Seitdem sind alle theatralischen Schlägereien im Film für mich unglaubwürdige Fakes, auf die ich gerne verzichten kann.
Die Idee der Wahrheit hält sich jedoch trotz allem hinter ihren schwachen oder verlogenen Abbildern in dieser Welt und in unseren Hirnzellen weiterhin versteckt. Auch jetzt lächelt sie uns vielleicht wieder an in diesem unserem Ameisenhaufen. Wie klein, wie erbärmlich wir doch sind angesichts des Alls und seiner Unendlichkeit, wie Pascal sagt, das keine Wahrheiten und Berechnungen von Fall zu Fall braucht und unendlich (unendlich?) weiter selbstbezüglich um sich kreist wie eine riesige irrationale und niemals ganz erkennbare Tautologie.
Selbst wenn wir etliche Tausende von Kilometern bereits in diese fremde Welten vorgedrungen sind. Auch mit Hilfe einer Wahrheit, die E = m · c² lautet.
für Albrecht Fendrich