186 Wolfgang Rihm (1)
Meine Bekanntschaft mit Wolfgang Rihm reicht bis zum Beginn meiner Tätigkeit als Journalist zurück. Sie begann in den achtziger Jahren, blieb dann einige Jahre konstant und ebbte schließlich ab.
Ich lernte den damals in den Dreißigern stehenden Komponisten auf einem Festival anlässlich des 60.Geburtstages von Pierre Boulez in Baden-Baden kennen. Der französische Musiker hatte den Höhepunkt seines Erfolges (oder soll ich sagen seines Ruhmes?) erreicht. Anlässlich der Festtage hatten sich wichtige Mitstreiter (Luigi Nono, György Ligeti, Karlheinz Stockhausen) und jüngere Vertreter der neuen Musik (Peter Eötvös, Wolfgang Rihm) versammelt, um ihrem zumindest intellektuellen Führer und Spiritus rector eine würdige Feier zu bereiten.
Mit der für einen Berufsanfänger nötigen Unerschrockenheit und Distanz war ich nach Baden-Baden gereist, einen Rezensions-Auftrag der Berliner tageszeitung (TAZ) in der Tasche, die damals noch sehr jung, experimentierfreudig und auch despektierlich war, muss ich wohl sagen. Was einschloss, dass man Autoritäten nur nach eingehender Prüfung als Autorität anzuerkennen bereit war.
Dies war auch meine Devise, und entsprechend unerschrocken – oder auch unvorbelastet – ging ich an die Aufgabe heran. Die TAZ war außerdem bekannt dafür, dass sie ihre Redakteure und die gesamte Zeitungsführung wie ein Handtuch wechselte, dass sie chronische Finanzsorgen hatte und immer kurz vor dem Zusammenbruch stand (1). Aber sie war jung, innovativ, klug, und es gab viel zu lachen beim Lesen.
Pierre Boulez stand im Zenit seines Lebens, weil er den Sprung in das bürgerliche Lager und damit auch in die Aufmerksamkeit der Medien geschafft hatte. Weniger als Komponist – dafür war seine Musik immer noch zu extravagant und “unverständlich”. Aber als Dirigent auch klassischer Werke hatte er sich einen bedeutenden Namen gemacht und er war allgemein anerkannt in der ganzen Welt. In Frankreich war er zusammen mit seinem Ensemble InterContemporain im Pariser Centre Pompidou ein Star. Auch seine neueren Musikkompositionen vermieden die heftigen expressionistischen Ausbrüche, wodurch sich die Avantgarde der fünfziger und teilweise sechziger Jahre, das Zeitalter von serieller Musik und Musikmathematik, allgemein auszeichnete. Sie bewegten sich – obwohl Boulez einer der Väter des Serialismus war – eher im klangsinnlichen, subtilen und fast impressionistischen Bereich und sie waren von daher ansprechend und auch “leichter” zu hören(2).
Wolfgang Rihm interessierte mich, weil einige Signale von ihm ausgegangen waren, dass er sich nicht dem seriellen und auch postseriellen (aleatorischen) Mainstream in der Kompositionslehre anschließen wollte. In seinen Streichquartetten, seiner Oper “Lenz“, auch im so populär gewordenen “Ländler” für Klavier, glaubte ich neue und “postmoderne” Ausbruchsversuche aus dem strengen Korsett der Musikakademien entdecken zu können.
Man diskutierte damals im Zuge einer von der Philosophie François Lyotards oder (im literarischen Bereich) Umberto Ecos ausgehenden Bewegung kontroverse Alternativen zur Avantgarde auch in der zeitgenössischen Musik. Ist die sogenannte Avantgarde tatsächlich nur noch die Arrièregarde der Zeit? Wie aus dem Getto von Nachtsendungen und Elfenbeintürmen herausfinden? Sogar von Neo-Romantik und Neotonalität war in Donaueschingen, dem Mekka der Festivals mit neuer Musik, bei der Aufführung eines Werkes von Reinhard Febel in den achtziger Jahren wieder die Rede.
Ausdruckskunst mit dem traditionellen Vokabular und im Sinne des traditionellen Hörverhaltens war zumindest kurzfristig wieder eine diskussionswürdige Option (3). Auch Rihms Jugendoper “Lenz” hatte mich sehr beeindruckt und ich war gespannt auf diese erste Begegnung mit dem Komponisten in Baden-Baden.
Die Herbeiführung eines Kontaktes erfolgte leicht und ohne Schwierigkeiten über den Südwestfunk. Eine Begegnung in Donaueschingen mit dem SWF-Redakteur für neue Musik, Friedrich Hommel, hatte mir biografische Hintergründe aus Rihms Leben und über seinen Einstieg im Südwest-Rundfunk Baden-Baden vermittelt. Das Gespräch und Tonband-Interview mit Rihm war angenehm, freundlich, fast freundschaftlich. Ich führte es etwas vorschnell auf unsere “südwestdeutsche Sprachliebe” (Gerhard Koch, FAZ) oder auch “Sprach-Besessenheit” zurück. Später wurde mir klar, dass die konziliante Art im Umgang mit Menschen dem Komponisten selbst ein Problem war, was er auch im Gespräch einräumte. Der freundliche Umgangston war jedoch auch Rihms großer Trumpf. Selbst Gegner, die es in späteren Jahren zahlreich genug gab, konnte er durch diese Umarmungs-und Einbindungs-Taktik unschädlich machen, “befrieden”, was nicht negativ zu sehen ist.
Wie überhaupt Rihm sich auch bei der Interpretation seiner Werke äußerst umgänglich zeigte. Weder Regisseure noch Interpreten mussten sich einem harschen Diktat von Vorstellungen oder Imperativen fügen. Der Komponist ließ ihnen fast absolut freie Hand, was sich zudem als sehr positiv auch auf die Darstellung und Vermittlung seiner Werke auswirkte.
Ganz im Gegensatz etwa zu dem Verhalten von Karlheinz Stockhausen, dessen autoritärer Umgang mit den Interpreten gefürchtet war und dessen Regiekünste oft in einer seinen Werken erheblichen Schaden zu fügenden Sackgasse endete. Auch Igor Strawinsky soll, was das Interpretieren seiner Werke angeht, ein ebensolcher Despot gewesen sein. Rihm war jedenfalls, erfreulicherweise, muss man wohl hinzufügen, genau das Gegenteil.
Teile des in einem Baden-Badener Hotel durchgeführten Tonbandinterviews baute ich tags darauf unter Pseudonym schon in meine provokative und gewollt neuartige Boulez-Rezension ein, die in der TAZ ohne wenn und aber problemlos gedruckt wurde. Der ganzseitige Aufmacher-Text, fast eine manchmal schon gelegentlich das Poetisch-Surreale streifende Parodie oder Persiflage, beginnt mit den Sätzen:
“Nachts strahlen in Baden-Baden die feudalen Hotelpaläste noch fürstlicher. Hier verbringt der Adel seine Frühlingstage, überlege ich mir, das Geld zirkuliert, die feinen Manieren. Öl-Scheichs sind die lange Strecke mit der Kutsche angereist. Der Kongress tanzt, dampft im Friedrichs-Bad oder spielt im Casino Roulette. Doctores mit weiten Tüten, die Frau Gattin mit Pelz und Hund, unauffällig funkeln Geist und Esprit, nicht wahr, die Bel Etage des SWF etwas außerhalb, die besondere Klasse für besondere…”
(An dieser Stelle bricht der Text bewusst ab, wie wenn ich Angst hätte, weiter zu delirien).
Der durchaus provokante Artikel enthält auch noch, wie damals in der TAZ üblich, witzig eingebaute kurze Kommentare des Text-Setzers, er wird darüber hinaus immer wieder unterbrochen oder auch durchsetzt von dem Rihm-Gespräch. Schon in meiner Anfangszeit bei dieser Zeitung waren in einigen meiner Rezensionen etliche gewollt “obskure”, “unverständliche” oder “mystagogische” Formulierungen zu finden – ein Stil-Manierismus, den ich dann in den nachfolgenden Veröffentlichungen und in der sich bald daran anschließenden Buchausgabe des Interviews mit Rihm weiter entwickelte und ausbreitete und dies sehr zum Amüsement auch mancher TAZ-Leser in den nächsten Jahren.
Vorabdruck aus : Reinhold Urmetzer, “Gespräche mit Zeitgenossen” (Jean François Lyotard, Niklas Luhmann, Helmut Lachenmann, Olivier Messiaen, Wolfgang Rihm, Jean Pierre Dubost)
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1 Vgl. ūber Entwicklung und Innenleben der TAZ meine Blog Beiträge Nummer 173, 7 und 6)
2 Ähnlich auch die Entwicklung bei Luigi Nono (1924-1990), dessen spätere Kompositionen sich immer mehr im feinsinnig-sensiblen Bereich und fast schon an der Schwelle zum Verstummen bewegten.
3 Der sich in den USA daraus abspaltende und ein eigenwilliges Eigenleben führende Zweig der so genannten Minimal Music um Steve Reich oder Philip Glass sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt. Er hat sich aber im Laufe der Zeit zu einer deutlich ernst zu nehmenden Konkurrenz entwickelt.
Teil 2: Es folgt der Abdruck der TAZ-Rezension “Die Schönheit im Korsett der Vernunft – Ein Bericht über das Boulez-Geburtstagsfestival, ein Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm und einige Randbemerkungen zu teuren Menüs, feinen Manieren und Ölscheichs in Baden-Baden” (TAZ Nummer 1587 vom 17. 4.1985).