187 Wolfgang Rihm (2)
Die Schönheit im Korsett der Vernunft
Ein Bericht über das Boulez-Geburtstagsfestival, ein Gespräch mit dem Komponisten Wolfgang Rihm und einige Randbemerkungen zu teuren Menüs, feinen Manieren und Öl-Scheichs in Baden-Baden
Nachts strahlen in Baden-Baden die feudalen Hotelpaläste noch fürstlicher. Hier verbringt der Adel seine Frühlingstage, überlege ich mir, das Geld zirkuliert, die feinen Manieren. Öl-Scheichs sind die lange Strecke mit der Kutsche angereist. Der Kongress tanzt, dampft im Friedrichs-Bad oder spielt im Casino Roulette. Doctores mit weiten Tüten, die Frau Gattin mit Pelz und Hund, unauffällig funkeln Geist und Esprit, nicht wahr, die Bel Etage des SWF etwas außerhalb, die besondere Klasse für besondere…
Ich stehe vor dem Parkhotel, schmucke Kellner in Livrée flitzen durch die hohen Räume hin und her, das Menü zu 65 Mark, Stuck, Seide, Marmor-Büsten überall, man serviert Hasenkeule mit Maultaschen in Madeira-Sauce auf Trüffeln und Rosskastanien (würg! d. Säzz.); Horten hält sich in der Fußgängerzone hinter Gründerzeit-Fassaden verschämt versteckt, selbst der Wienerwald hat in dieser Stadt das gewisse Etwas, zumal die Küche im Badischen die beste des ganzen Reiches sein soll, abgesehen von Straßburg gleich nebenan.
Alle sind sie gekommen: Freunde und Bewunderer, Epigonen und Lakaien, Mitstreiter eines langen und glanzvollen Weges für die Kunst, Koryphäen der Musik und der Medien, um den international anerkannten Dirigenten und Komponisten zu feiern. Peter Etvös hat ein verliebtes “Pierre-Idyll” komponiert, Nono aus Venedig hält es in seinem Geburtstags-Beitrag weiterhin mit der Stille. Ligeti ist mit seinen Klavierstücken für Herbert Henck nicht fertig geworden, er ist mir der sympathischste von allen, die wieder vier Tage lang als veritable Größe der Geschichte durch die Hallen des Kursaales wandeln. Stockhausen hat mit seinem Horn-Solo (“In Freundschaft”) wieder eine Narrenposse losgelassen, und selbst Wolfgang Rihm als Vertreter der jungen Generation hat sich angepasst und etwas Spröd-Glanzvolles in Töne gesetzt (leider).
Frage: Welche Bedeutung hat Boulez für dich?
Wolfgang Rihm: Boulez ist für mich wichtig, weil er zeigt, wie einer sein künstlerisches Leben meistert, wie er darin, von eigenen Prämissen ausgehend, zu einer optimalen Verwirklichung gelangt. Er schreibt eine typisch französische Musik, der Klang spielt bei ihm eine große Rolle, während man bei Stockhausen mehr das Holzschnittartige erkennen kann, eine noch vom Expressionismus her kommende Artikulationsweise, und bei Nono stehen die italienischen Vokalformen jetzt ganz im Vordergrund.
Boulez ist ein Mensch, den jeder nur sehr distanziert erlebt, auch ich, das ist seine persönliche Disposition. Bei ihm ist vieles ganz im Dunkeln beheimatet, was aus einer dunklen Welt hervor steigt, das habe ich mit meinem Stück “Fusée”(Raketen, Lichtblitze, Leuchtraketen) gestern versucht anzudeuten; deswegen war es so hart, deswegen hat es diese Schläge gehabt.
Das Problem, das er mit der gegenwärtig komponierten neuen Musik hat, ist das Einsetzen bestimmter alter Mittel, so dass dann auch die Gefühle im Alten bleiben.
Frage: Sind Gefühle nicht immer und zu allen Zeiten gleich?
Er meint wohl nicht diese Gefühle, sondern die künstlerische Darstellung der Gefühle, die zu Gefühlsformen führt, welche sich ändern können. Ich glaube nicht, dass sich die Liebe heute, bei gleich bleibender Qualität, immer noch der gleiche Formen bedient wie im 18. Jahrhundert. Wir sind zwar nicht geprägt, aber doch geformt. Die Erziehung der Gefühle, glaube ich, ist zu jeder Zeit eine andere.
Für mich waren die Veranstaltungen des Festivals, welches der Südwestfunk anlässlich des 60. Geburtstag von Pierre Boulez organisiert hat, häufig eine Reise in ein fremd-befremdliches Land, wo ich gleichwohl interessante Bekanntschaft habe machen können mit dem facettenreichen Bild eines Künstlers, der die Musikgeschichte unseres Jahrhunderts wesentlich mitbestimmt hat.
(…) Es folgt eine Aufzählung von Boulez-Werken, die aufgeführt worden sind.
Goethe hat die junge Generation, die anders sein wollte als er, immer abgelehnt. Für ihn war sie krank, undiszipliniert und wild; selbst Beethoven war ihm unheimlich in seiner Gefühlshaftigkeit beim Klavierspielen. Heine hat er abblitzen lassen, ganz zu schweigen von Heinrich von Kleist, und Achim von Arnim hat schließlich, obwohl er doch in Clemens Brentano verliebt war, dessen Schwester Bettina geheiratet, die den Meister in Weimar so sehr verehrt hat. Hölderlin als Punk im Turm, Lenz wahnsinnig, Jean Paul ein Popper in Bayreuth… Krokusblütenflächen überall, bunt und einheitlich. Gesprächsfetzen im Park… “Die Wirtschaft… der Computer… das…“. Abgeklärtheit, Festigkeit, das Ausgebranntsein, ein Flair von Vernunft und Klassizität liegt in der Luft; Wurzeln schlagen in den abgehobenen klaren Formen (“Kunst”), im Akademismus, den atonalen Klischees und durch strukturierten Parametern unter besonderer Berücksichtigung der Klangfarbe; Zahlenspiele mit IRCAM-Apparaten in Paris…
Wolfgang Rihm: Ich bin nicht so weit zu sagen, ich bin für Chaotik, dann bin ich überall draußen. Ich bin für die Chaotik, um aus dem Chaos heraus etwas hervor zu bringen und Chaos dann doch wieder zu erzeugen, eigentlich ein anarchischer Ansatz, und ich sehe das nirgends so gut verwirklichbar wie in der bürgerlichen Kunst-Musik.
Deshalb hast du ja auch eine so erfolgreiche Oper geschrieben…
… Schon als Kind war ich beseelt von der Idee, mich ab zu arbeiten, mich durch ständiges Hervorbringen aufzulösen, das mag sado-masochistisch klingen.
Die Zersplitterung ist doch eher ein Unglück…
…es gibt in vielen Stücken bei mir Momente, wo alles schwankt, und wenn ich das Stück dann höre, kommt es als Wunsch zurück, dann weiß ich, dass es Wunsch gewesen war.
Das Unglück?
Nein. Wunsch.
Und wann ist der Wunsch befriedigt?
Er befriedigt sich gottseidank nicht, denn die Selbst-Auflösung schreitet nicht fort, sondern die Gestaltung, die Selbst-Gestaltung wird durch stetigen Strukturzuwachs verwirklicht.
Sind das nicht noch dickere Mauern um einen herum?
Nein, man wird viel gestalter, man wächst. Ich glaube eher, dass die Mauern früher größer waren, wo man noch um erkennbare Gestalten kämpfen, wo man sich abzeichnen musste.
Aber Komplexität, Denken, Bildung hindern einen vielleicht doch daran, einfach oder unentfremdet zu leben.
Mich nicht. Je mehr ich erfahre, je mehr ich an Grundstoff habe, umso größer wird meine Sprengkraft und Kreativität. Ich kann aus meiner Arbeitserfahrung heraus sagen, dass Komplexität für mich Glück bedeutet, dass dann meine Durchblutung am besten funktioniert, wenn ich mich an den Schreibtisch setze, mich hinein zu wühlen beginne in das Unabsehbare, das Fremde, dass ich mich dann immer besonders gut fühle.
Das ist doch die typisch amerikanische Situation, die auch eine Not bedeutet: Wenn man mit Komplexität nicht fertig wird, muss man sie bannen, indem man sie diffamiert und umgekehrt.
Die Wahrheit liegt in den einzelnen Körpern: den Kulturkreis, aus dem man stammt, auch zu verkörpern.
(…) Es folgt jetzt die weitere Beschreibung von Boulez-Werken, die vorgestellt worden sind.
Entschieden und mit der ihn als Dogmatiker auszeichnenden apodiktischen Schärfe lehnt Boulez die neueren Trends der jungen Komponisten, insbesondere die Genuss-Haltung (“Relaxation”) der Minimalisten ab. Fortschritt ist für ihn immer noch Weiterentwicklung von musikalischem Material, gestützt auf theoretische Überlegungen und wissenschaftliche Forschung – das Korsett der Vernunft, welches erst Schönheit an sich ermögliche.
Auch Stockhausen möchte die jungen Leute der Minimal-Richtung lieber zum “Field Research” nach Mozambique beordern, eine höchst überflüssige Kunst, lassen beide verlauten, ganz zu schweigen wohl von David Bowie, Brian Ferry, Peter Gabriel, den Sex Pistols oder Alphaville, die keiner Rede wert sind.
“Aber Boulez hat doch gerade erst in Paris Kammermusik von Zappa uraufgeführt”, wende ich ein.
“Es ging um viel Geld”, erläutert Wolfgang Rihm, auch für sein Ensemble InterContemporain. Es klang wie abgestandener Muckefuck, der typische Highschool-Professor hat mal was von Varèse gehört, dass man eine Trompete auch in der hohen Lage spielen kann. Die vielen Fans sind alle mit bleichen und enttäuschten Mienen wieder abgereist”.
Die Popleute sind klassischen Musikern zu primitiv, zu banal, zu oberflächlich, stelle ich wieder fest – Kunstgewerbe wie die Menuett-oder Walzerkomponisten der letzten beiden Jahrhunderte. “Ich bin heute isoliert”, hat Boulez jüngst erst freimütig in einem Interview mit Peter Heyworth erklärt. Wie Schönberg im Berlin der Zwanzigerjahre zwischen Hindemith und Weill, so sieht er sich heute eingekeilt in neo-klassizistische und populär-volkstümliche Strömungen.
Wolfgang Rihm: Ich baue keine Strukturen auf dem Reißbrett. Ich stelle, wenn ich komponiert habe, fest, dass es strukturiert ist. Jede Sprache, auch die der Wildheit, ist konzis, wenn sie das ist, als was sie rüber kommt. Die laue Sprache, das Plappern, das musikalische Party-Geschwätz, um das kann es uns nicht gehen.
Um was sonst?
Die Musik der Zukunft wird so aussehen, dass viel Heterogenes zusammen trifft und die Formen, die entstehen werden, werden von dieser Heterogenität geprägt sein als Transformation oder Integration, und Dinge, die sich zunächst einmal säuberlich getrennt hielten, werden nun in Verbindung kommen.
Die Aufhebung der Grenzen wird jedoch zu einer noch stärkeren Forderung nach Charakteristik führen. Wenn jetzt ein Künstler aus dem Zustand der Heterogenität die Schlussfolgerung zieht, es genügt, Heterogenes zu mischen, dann irrt er sich – er ist jetzt nämlich viel stärker gefordert, unverwechselbare Gestalten zu erfinden.
Wie grenzt sich das gegen die beliebige Collage oder den Eklektizismus ab?
Der Eklektizismus ist eigentlich gestaltlos, er hat keine Physiognomie. Er hat Charaktere, aber keinen Charakter. Man sollte ganz aus sich selbst heraus, aus den Möglichkeiten, die man hat, eine Kunst schaffen, die sich nicht immer nur nach vorn oder hinten absichert, nach vorn, indem sie sich als Kunst der Zukunft prostituiert, nach hinten, indem sie sich als nicht mehr modern, postmodern, degradieren muss.
Eine musikhistorische Linie von Schönberg über Webern und Boulez bis zum “alles zersetzenden Anarchismus und amerikanischen Liberalismus Cages” zeichnete Clytus Gottwald in seiner Laudatio für Boulez im Weinbrenner-Saal nach. Er verteidigte die serielle Musik gegen Missverständnisse und epigonale Nachahmung und setzte die Leistungen von Boulez in Verbindung mit den Musik-“Mathematici” des 16. Jahrhunderts.
In seinen Ausführungen zur Gegenwart kritisierte er die “subjektivistische Schrankenlosigkeit einer rasenden Avantgarde” samt allgemeinem Konkurrenzkampf und der “Alles-geht”-Haltung, wogegen Boulez immer, indem er im Neuen auch das Alte bewahrt habe, ankomponiert habe.
Der französische Musiker wird so zu einer nützlichen konservativen Instanz – damit vielleicht auch zu einem Indiz für die Musik der Moderne an ihrem Ende. Komposition als eine kunstvolle Einheit, die dem Heterogenen und Banalen ein Ganzes als selbstständiges, geistig-ideales Gebilde entgegen stellt, scheint vielfach nur noch eine leere und anstrengende Abstraktion, ein den Zeitgenossen überforderndes Glasperlenspiel im Elfenbeinturm, neben welchem der Adler Thomas von Aquins und die Eulen der Minerva nicht zuletzt auch den horror vacui provozieren können.
Entscheidend bleibt wohl auch, ob in diesem Denken noch die Kraft für eine verallgemeinerbare Grenzüberschreitung liegt: des “Modells, des Blicks, der Flugbahn”, so bezeichnet es Pierre Boulez.
Vorbild bleibt ihm dabei immer, neben den ästhetischen Konzepten Mallarmés, die Musik. “Die Musik”, schreibt er, “schöpft Energie und Daseinsberechtigung aus der Erinnerung, die sie tilgt, aus dem Rausch, den sie mittels Labyrinth, Spirale und Spiegel schafft: mittels jener Konzepte also, welche die Realität der ihnen ausgesetzten Figur in Zweifel ziehen”.
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Boulez ist mittlerweile 90 Jahre alt und lebt in Baden Baden. Die Stadt hat ihn erst jüngst (2015) zu ihrem Ehrenbürger ernannt.
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Ich wählte für diesen so heterogenen TAZ-Artikel ein Pseudonym, weil mich der Musikredakteur der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Gerhard Koch, ebenfalls eingeladen hatte, für seine Zeitung zu schreiben. Damals glaubte ich noch nicht an die Kompatibilität beider Blätter und blieb bei der Berliner Konkurrentin.
Teil 3: Auszug aus dem im Buch veröffentlichten Gespräch “Offene Stellen – Abbiegen ins Andere”