188 Wolfgang Rihm (3)
Offene Stellen – Abbiegen ins Andere
Interview (2)
Rihms Offenheit und sein Begreifen wie Mitspielen meines Sprachspiels hatte mich überrascht und fasziniert. Also ging ich den im ersten Interview in Baden-Baden eingeschlagenen Weg bei unserer zweiten Begegnung in seiner Karlsruhe Wohnung offensiv weiter. Wie bei keinem Gesprächspartner später hatten wir eine Sprachebene gefunden, auf der wir uns selbst ohne Nachfragen verständigen konnten. Diese Sprache kann durchaus als “irrational” bezeichnet werden. Doch es war kein surreales oder gar surrealistisches Sprechen, wie es zuweilen bei französischen Autoren vor dem zweiten Weltkrieg anzutreffen ist. Es war eine Ebene von Bildhaftigkeit, mit der wir beide auf Anhieb klar kamen und auch kommunizieren konnten.
Was in der TAZ mit solchen Formulierungen begann wie
“Ich glaube eher, dass die Mauern früher größer waren, wo man noch um erkennbare Gestalten kämpfen, wo man sich abzeichnen musste” (Rihm), endete in der Buchveröffentlichung mit dem Kunstwerk als “weißer Ruine”, in die man hinein geht, mit fast schon Mallarméschen Überlegungen über das Weiße, das Beschreibbare, das Beschrieben-werden-Können und Offene oder auch das “Andere“: “Ich mache gern diese Biegung”, sagt der Komponist,” eine kleine Biegung ins Andere hinein”. Was für ein schöner Satz, was für eine gute Aussage in vieler Hinsicht!
Die unten abgedruckte Interview-Ausschnitte aus der Buchveröffentlichung sind deshalb auch kein kunstvoll gestelltes oder wie das Gespräch mit Jean Pierre Dubost ein konstruiertes Interview. Zwar wanderte der Text einige Male hin und her zwischen uns beiden, was das Redigieren und Korrigieren betrifft. Rihms Sprache ist manchmal kurz und knapp, seine Interpunktion bewusst hart und “sprechend”. Wir haben in seiner Karlsruher Wohnung jedoch tatsächlich so gesprochen, uns auf dieser Ebene verständlich machen können. Und ganz gewiss waren keine Drogen oder Alkohol im Spiel.
Da diese Ebene sehr sprachartistisch, das heißt ästhetisch und auch sinnlich war, kam indirekt auch Emotionalität mit ins Spiel und es baute sich tatsächlich, wie in einer englischen Abhandlung über dieses Interview festgestellt, eine freundschaftliche Atmosphäre auf.
Der gesamte und daran anschließend erweiterte Interview-Text war schnell fertig. Zusammen mit anderen Gesprächen, die ich mit Rihm im Laufe der Zeit immer wieder führte, wurde daraus eine Buchveröffentlichung. Sie kam ohne größere Korrekturen oder Einwendungen Rihms auf den Markt.
Das heißt die Stuttgarter Verlegerin Patricia Schwarz, eine Französin aus dem universitären Postmodernismus-Zirkel um Jean Pierre Dubost und aus der Kunstgalerie Kubinski, war gerade dabei, Lyotard- und Nancy-Veröffentlichungen in ihrem Verlag vorzubereiten. Das Buch gefiel ihr und sie druckte es ohne weitere Kommentare oder Rückfragen ab. Diese Sprache, diese Sprachartistik und eine solche Art Literatur war sie schon aus französischen Veröffentlichungen gewohnt; selbst Tageszeitungen waren dort davon bereits infiziert.
Das Buch mit dem Titel “Offene Stellen – Abbiegen ins Andere” (1) setzte sich aus zwei Teilen zusammen: Eine wie auch immer “delirierende” Einführung von mir in die Musik Wolfgang Rihms als einem ersten Teil, der sich sprachlich sehr an französischen Vorbildern orientierte, und dem sich daran anschließenden Interview-Text. Diese Textgestalt ist auch auch für nachfolgende Wieder-Veröffentlichungen in anderen Büchern bei behalten worden.
Ich verbinde mit diesem Text und dieser Begegnung jedenfalls eine Phase der Jugend, wie sie vielleicht typisch ist. Es war der Beginn meiner Tätigkeit als Journalist, als Interviewer. Der Beginn meiner Suche nach interessanten Menschen und Begegnungen. Und auch der Beginn meiner Gespräche mit Zeitgenossen, die etwas zu sagen hatten. Wolfgang Rihm war jedenfalls einer von ihnen. Er gehörte dazu.
*
Reinhold Urmetzer: Reden wir von der „weißen Ruine“. Meist denkt man nur an schwarze Ruinen, an Düsternis, Abgrund, das Abdriften wer weiß wohin; manche Zeitgenossen glauben ja tatsächlich wieder an Geister und Gespenster. Vielleicht sollte man in der weißen Ruine auch eine Chance sehen – das positive Gegenstück zur schwarzen Ruine mit ihren Zeichen von Vergänglichkeit und Tod.
Wolfgang Rihm: Es gibt bei Flaubert angesichts der weißen Steine der Akropolis eine Äußerung, wo er über das Weiß, welches er an dieser Ruine wahrnahm, zu fast schon Mallarméschen Überlegungen über das Weiße, das Beschreibbare, das Beschrieben-werden-Können und Offene angeregt wird.
Wodurch unterscheiden sich die offenen von den dunklen Stellen in den Ruinen?
Die offene Stelle kann durchaus auch eine dunkle Stelle sein. Es kommt immer drauf an, was dahinter steht. Wenn sich dahinter ein langer Gang befindet, ein lichtloser Gang, dann ist die offene Stelle ja auch eine dunkle Stelle.
Wie gehst Du mit den dunklen Stellen um?
Die offenen laden ein. Die dunklen…?
Manche haben Angst, sogar in die „helle offene Stelle“ hinein zu gehen.
Die Angstüberwindung, durch die offenen hellen und dunklen Stellen des Kunstwerkes hindurchzugehen, ist immer da. Die offene Stelle, auch wenn sie hell ist, muß noch lange nicht einladender sein als die dunkle. Diese kann ja im Moment, wo ich hindurchgehe, sich schließen und mich abschneiden.
Inwiefern bildest, entdeckst oder löst Du ein Geheimnis in der Musik?
Zunächst suche ich das Geheimnis im Komponieren.
Da ich ein Komponist bin, der nicht aus einer Sprachkenntnis, sondern aus einer Sprachsuche heraus spricht, weiß ich nicht, was das Komponieren als Ergebnis zum Vorschein bringen wird. Ich kann nur immer wieder neu ansetzen und mir etwas vornehmen. Von daher ist schon der Charakter eines Geheimnisses da. Seine Verfolgung mündet aber nicht in eine Lüftung des Geheimnisses.
Wenn ich am Ende einer Komposition bin, ist es keineswegs das Geheimnis, das gelüftet ist. Es wird lediglich ein anderes Geheimnis, das neue Stück nämlich, sichtbar und hörbar. Fortzeugung von „Geheimnis“. Die Hervorbringung selbst kennt verschiedene Grade der Helligkeit. Helle Momente, in denen ein Überblick blitzartig eintritt.
Über Dich selbst?
Über das, was ich tue. Technisch, ästhetisch. Über mich selbst nicht.
Suchst Du Gewißheit über Dich selbst?
Natürlich.
Warum machst Du keine Analyse?
Weil ich nicht krank bin.
Suchst Du auch im Menschen, im Gegenüber, ein Geheimnis?
Ja. Ich suche zumindest nicht eine geheimnislose Klarheit.
Es ist mir lieber, wenn ich jemandem gegenüber sitze, der mir Fragen aufgibt, als wenn ich mich gegenüber jemandem befinde, auf den ich nur Antworten habe.
Soll das Gegenüber eine Ergänzung oder eine Spiegelung sein?
Es gibt viele Dus. Es gibt mit jedem Menschen eine andere Art von Du. Es gibt zu jedem Menschen eine andere Art Beziehung, eine andere Beziehungsmöglichkeit, und so gibt es auch Dus, die nur Spiegel sind – was heißt „nur“: die Spiegel sind, und es gibt Dus, die wirkliche Ergänzung sind. Und es gibt auch Dus, denen ich nur Spiegel bin.
Wie gehst Du dabei mit dem Zerstörerischen um?
Ich vereinnahme es.
Und gibst es dann in der Musik wieder?
Kann sein. Ich weiß es nicht genau. Es ist nicht so, daß ich mir das ständig überlege. Ich merke manchmal schon beim Artikulieren eines Weges, daß es mir darum geht, eine Plastik auszuformen, welche eben nicht konziliant ist.
Und wie hast Du dieses Problem in Deinem Cello-Konzert „Monodram“ gelöst?
Da liegen die Probleme anders. Die Klang- und Gefühlsbewegung kommt von unten und geht nach oben. Am Schluß endet es ganz oben. Aber es gibt noch einen Nachsatz.
Bedeutet das Oben und das Unten, das Helle oder das Dunkle etwas Konkretes für Dich?
Eher so, dass das Unten ein Verwachsensein, durchaus mit einer chtonischen Energie, ein Sich-Bewegen im dunklen Grund bedeuten könnte, und das Oben ist dann die Höhenluft, dünn, letzter Faden, Vereinsamung.
Die Resignation?
Ich habe nicht resigniert mit diesem Schluß, es ist auch ein poetischer Schluß. Es ist kein Schluß, der einen Punkt setzen würde, es ist eher ein Doppelpunkt; es hebt ja wieder etwas an. Der Nachsatz.
Das Grollen, das Dunkle kommt zurück.
Fast ein Echo, aber kein gefaßtes, artikuliertes, eher das Echo von etwas, das nicht real erklungen ist, eine Abschattung.
Im surrealen Sinn?
Vielleicht. Ich setze gern etwas dagegen am Ende, etwas anderes.
Ich mache gern diese Biegung, eine kleine Biegung ins Andere hinein.
*
In Deiner Musik entdecke ich immer wieder einen deutlichen Einbruch von Vergangenem. Du gehst vielleicht unbewußt damit um – ein „Schimmer des Himmels der Vergangenheit“, als „Schatten des Himmels der Vergangenheit“?
Mehr ein Schatten. Nicht jedoch ein bedrohlicher Schatten, sondern ein Phänomen, das selber leuchten kann oder durch Beleuchtung Schatten wirft.
Wie wichtig ist Dir das Neue? Das Ende der Avantgarde bedeutet doch, daß sich die Suche nach dem Neuen um des Neuen willen erschöpft hat; die Konzept-Art beispielsweise als Endstufe und Aufhebung. Eine Idee, welche nicht mehr materialisiert oder realisiert zu werden braucht.
Mir wird das Neue z.B. dann besonders wichtig, wenn ich gelegentlich etwas komponiere, das scheinbar nach Altem aussieht, wohingegen ich das Neue immer schon darin aufscheinen sehe. Ich suche nicht eine Bestätigung oder die Herbeiführung eines Zustandes der Konsolidierung, sondern ich will den Grund der Erregung herausfinden, die ich bei dieser Suche und bei diesem Finden spüre. Es gibt kein Wiederholen.
Wie nützlich ist Dir dabei der Begriff Struktur?
Da alles Struktur besitzt, ist Struktur nicht ein Vordergrunds-, sondern ein Hintergrundsbegriff. Ein betont strukturalistisches Denken und die streng strukturalistische Arbeit sind mir jedoch nicht so vertraut. Es gibt zu wenig Bezug zu meinem Leben, wenn herausgelöst und geschieden wird.
Du hast den Begriff der “produktiven Deformierung“ geprägt, was ein Aufbrechen des strukturalistischen Ansatzes in der Musik, eine „Destrukturierung“ bedeuten könnte.
„Produktive Deformierung“ arbeitet wie ein Brennspiegel, der auf eine Fläche zielt, an welcher ich arbeite, bis der gespiegelte Punkt schließlich durch brennt. Es entsteht ein Loch als Ausblick oder auch als Unfall, ein Absturz. Auf jeden Fall entsteht Bewegung, Rückung, Weitung.
Gibt es in Deiner Musik solche Brenn- oder Kulminationspunkte, wo sich alles in einem Augenblick zusammenballt?
Ja. Es kann dann das Potential entweder abgehen, loskommen, blühen oder scheitern. Das erlebe ich oft. Gott sei Dank beides.
Welche Bedeutung hat das Spiel für Dich?
Das Spiel bringt mir Funde. Denn Spiel ist immer mit Suche verbunden.
Führt das auch zur Auflösung von Strukturen?
Ja. Zu neuen Strukturen.
Kann man neue Strukturen auch auf einem anderen Weg erzeugen?
Durch Auflösung von alten oder ex nihilo, sie also sukzessiv aus dem Nullpunkt heraus aufbauen.
Man kann sie auch aus vorhandenen oder bereits in Bau befindlichen Strukturen und durch deren Unterbrechung gewinnen. Mutationen.
Werktitel wie „Magma“ suggerieren eine Auseinandersetztzung mit der Erstarrung – Fetzen, Splitter, Eruptionen.
Es bricht tatsächlich etwas ein, noch weiter nach hinten, und es hat mit Verfestigung, Verfall, Erstarrung zu tun – Begriffe, über die ich viel nachdenke. Das Positive an Verfestigung hingegen könnte sein, da die Dinge immer ambivalent sind, daß sich dabei etwas formt oder kristallisiert, daß eine Gestalt entsteht. Im Fluß liegt das Abfließen, in der Verfestigung die Kristallisation und Zementierung.
Ich wünsche mir – utopisch – Gestalt im Fluß.
Ein Fluß wohin?
Das kann ich nicht wissen. Es gibt Gefälle… Ich will es nicht überallhin verfolgen, es sezieren oder analysieren müssen. Ich weiß nur: Jetzt ist es verschwunden. Oder: Jetzt kommt‘s.
Besitzt der Begriff Schönheit eine Bedeutung für Dich?
Ich glaube ja. Früher hätte ich nein gesagt, aus Angst, wieder „Neoromantiker“ geschimpft zu werden, aber mittlerweile bin ich mutiger geworden. Meine Position wird sicher auch klarer gesehen heute, es ist deutlich, was unterscheidet.
In dem Orchesterstück „Unbenannt“ gibt es für mich viele Schönheiten – ein plötzliches Aufkeimen von Unverhofftem beispielsweise, oder die Schönheit einer Klanggestalt, die hereinbricht und sich dann wieder zusammenzieht, das hat alles mit Schönheit, einer nicht genormten, nicht vorgekauten, zu tun.
War es eine gestaltete Schönheit oder ein emotionaler Ausbruch?
Es war sicher eine gestaltete Schönheit. Zwar nicht mit „Schönheit“ als Ziel, sondern mit dem Ziel Gestaltung; wenn sich diese nun als Schönheit zeigt, umso besser.
Mißbrauchte Schönheit – kann es eine entfremdete Musik geben?
Es gibt Musik, die von demjenigen, der sie spielt oder einsetzt, entfremdet wird; doch wenn die Musik stark ist, wird es ihr nicht schaden. Das Adagietto aus der Fünften Mahler in Viscontis Film – es war schön, aber auf die Dauer kitschig; schließlich fand ich die Musik nur noch unangemessen.
Lieber dann schon eine richtige Film-Musik, etwa zu einem Hitchcock-Film von Bernhard Hermann. Sie ist immer noch besser als ein aus seinem Kontext gerissener symphonischer Satz, der bei jeder Gelegenheit erklingen muß, wenn die Totale über den Lido schwenkt.
Die Entfremdung lag nicht in der Verwendung von Musik, nicht dass, sondern wie sie eingesetzt wurde. Nicht ihren eigenen Gesetzen entsprechend, sondern dem Gesamtgeschehen aufgesetzt und eingeklebt. Man hätte sie vielleicht besser einem Antlitz unterlegen sollen. Das unsichtbar bleibt… oder nur zuhört… was soll‘s…
„Monogramm“ – ist die Musik dort ein Kreisen um sich selbst, das nie an ein Ende kommt, eine Spirale um das Offene, Dunkle, vielleicht auch um die Leere?
Es ist ein Sprechen aus sich selber, eine Einzelaktion, eine auf sich bezogene Einzelfigur, die spricht. In ein Kollektives hinein.
Bedeutet das eine Befreiung?
Um Befreiung geht es hier nicht. Es geht um Artikulation. Und zwar in einer spezifischen Situation, in der ich mich befinde. Aber es geht nicht um mich. Es ist nicht so, daß da etwas verändert würde. Es ist eher ein Weg, der zurückgelegt wird, ein Raum, der durchmessen wird.
Wie sieht dieser Raum aus?
Gestaltreich auf jeden Fall.
Und in diesem Raum fühlst Du Dich wohl?
Ja.
Auch wenn er die Einsamkeit bedeutet?
Ja. Ich bin gerne allein.
Und der Doppelpunkt, wie bringt er Dich weiter?
Ins nächste Stück (Lachen).
*
Wie hängt Deine Musik mit dem Abgrund zusammen?
Als eine Vertiefung der Zeit, indem sie eine Perspektive in die Zeit stellt.
Hängt das auch mit Katastrophe zusammen?
Kann es.
Wie drückst Du es in der Musik aus?
So wie man sich anschickt, es auszudrücken, „misslingt“ es, weil es in kunstgewerbliche Gefilde mündet.
Sobald man versucht, Katastrophen oder zumindest „Katastrophisches“ auszudrücken, entstehen Gartenzwerge. Katastrophale Gartenzwerge.
Wie stehst Du zu den Begriffen „Ende“, „Leere“, „Erschöpfung“, die in so vielen Theorien gegenwärtig herum spuken?
Es sind Begriffe, die mein Denken sicher auch mitdenkt. Aber sobald diese Begriffe gedacht werden, sind sie bereits nicht mehr Endpunkte, die konstatiert werden können. Ich muß nicht dabei stehenbleiben und mit herumspuken.
Ich glaube, daß Musik als Kunstform am meisten mit dem in Verbindung gesetzt werden kann, was wir vom Leben als Bild besitzen.
Als etwas, das sich in der Zeit abspielt, eine systolische Bewegung als Grundbewegung, das Zusammenziehen und wieder Entspannen, die Atmung, etwas, das Kurven unterliegt, Spannungskurven, Werden, Vergehen, Kommen und Gehen, Dauer, Gestalt. Ebenso sehr auch Sprunghaftigkeit, Stürze und Verletzungen.
Das sind ganz musikalische Kategorien, die man alle vom Lebensbegriff ableiten kann. Gerade weil Musik keine begriffliche Kunst ist, hat sie etwas von diesem Naturhaften und Fluiden.
Versuchen wir, den Riss in der Musik zu denken.
Der Riss ist die festeste Verbindung – gerade in der Musik – zwischen bestimmten Feldern, bestimmten Zuständen. Dazwischen ist der Riss die stärkste, die heftendste Verbindung. Und zwar mehr, als wenn der sogenannte kleinste Übergang erfolgen würde. Wenn ich die Dinge nebeneinander stelle, dann haben sie keinen Riss. Reiße ich etwas auseinander, gehört es sich immer.
Wann hat die Sprache einen Riss?
Die Sprache hat einen Riss, wenn die Ebene verrutscht, wenn Du auf einer anderen Ebene sprichst als ich. Und die Sprache, die dazwischen läuft, muß diese Ebenen überwinden. Gleichgültig, wo sie sich jetzt befindet – die Sprache muß einen Knick machen, und dann bricht sie an dieser Stelle.
Hängt damit die Unverständlichkeit und das Nichtverstehen zusammen?
Die Unverständlichkeit hängt mit der Deckung der Systeme zusammen.
Wenn Du mit einer Antenne, die etwas ganz anderes aufnehmen kann, in einen Bereich gehst, der zwar etwas Bestimmtes, aber doch etwas ganz anderes Gestaltetes als die Antenne aufnehmen könnte, aussendet, dann wirst Du nichts wahrnehmen.
Die Unverständlichkeit wird eigentlich von einem Apparat erzeugt, der nicht auf das zielt, dem er sich gegenüber sieht.
Er bezieht sich “daneben“.
Versuchen wir, den Riss in der Leere zu beschreiben. Was ist
der Riss in der Leere?
Der Riss in der Leere ist eine Denkfigur. Wenn die Leere besteht, dann hat sie keinen Riss. Sie ist kompakt, komplett.
Vielleicht wackelt und bricht die Leere an manchen Stellen?
Ja, als Denkfigur. Der Riss in der Leere wäre dann nicht eine Leere in der Leere, sondern eine spezielle Füllungsart, die rissförmig durch die Leere führt. Die Leere wäre aufgehoben.
Wenn die Leere gefüllt ist, so oder so, dann quillt vielleicht durch den Riss die Leere nach außen. Ich glaube nicht, daß sie sich ins Nichts verläuft. Vielleicht in eine andere Schale, in eine andere Auffangform. Wahrscheinlich in etwas ganz Triviales…
Die Leere verläuft sich im Nichts und lässt eine Leere von sich selbst zurück.
Die Leere der Leere.(Lachen)
Aber ernsthaft – das ist faszinierend, diese Leere der Leere zu empfinden und zu durchdenken. Und ganz ohne ? ? ?
*
Sätze, die wir sprechen – sind sie nur reine Abstraktion und Fiktion, ein Spiel mit Worten, mit Gefühlen, das Ausdimensionieren der Leere? Ein Ästhetizismus von Sprache und Denken, welches vorbei geht und vielleicht ganz daneben liegt?
Dazu haben wir uns hingesetzt und auf dieses Spiel eingelassen. Dazu waren wir bereit von Anfang an.
Mit dem Telefonklingeln von eben ist der Alltag eingedrungen in unser Gespräch, mit seinen Banalitäten, seinen Notwendigkeiten.
Ich fand, er war nie draußen. Dieses Gespräch, das wir jetzt hier führen, ist genauso Bestandteil eines Alltagslebens wie Termine machen oder anderes.
Mir gefällt es, wenn auch das Einfache, Banale oder Triviale in die elitären Systeme einbrechen kann, wenn es uns aufweckt, vielleicht auch stört in diesem doch so exklusiven Kreis von Sprache, Gefühl und Verhalten.
Diese Worte, Kunst, Musik, Politik – fremd kreisen sie immer mehr aneinander vorbei, haben sich nichts zu sagen, können sich oft nicht verstehen oder sich zueinander in Beziehung setzen. Ebenso die Menschen. Wir akzeptieren die Widersprüche, alles geht, und damit auch die Wirkungslosigkeit.
Warum suchst Du dann das Gespräch?
Ich sehe mich manchmal als Dolmetscher und Übersetzer. Weniger jetzt. Jetzt ist es für mich eher ein Spiel. Es macht mir Spaß, mit Dir zu reden.
Das Antworten hat für mich auch viel mit Spiel zu tun. Ich kann das nur bestätigen.
Für mich hat der Versuch, etwas, das gar nicht fassbar ist, dennoch präzise zu umreißen, nichts Intellektuell-Artistisches an sich. Es ist für mich etwas Sinnliches. Das Umgehen mit Worten und Gedanken ist für mich kein Intellektualismus.
Wenn ich versuche, einen Text zu schreiben, dann ist das immer auf eine andere Art auch Musik. Es hat sehr viel zu tun mit Spiel, mit Formung, mit etwas Vor-Künstlerischem auch im positiven Sinn. Es dient dazu, anzureizen, anzuregen und später bei der Arbeit: fließen zu lassen. Obwohl das nicht so einfach vor sich geht, wie es hier sich anhört. Da gibt es produktive Widerstände. Würden sie fehlen, wäre die Sprache an ihre Übereinkünfte gekettet.
Für mich ist gerade dies ein Problem. Daß ich die Trennung von Körper und Begriff wahrnehme, daß ich merke, wie mir die körperlichen Dinge wichtiger werden als die intellektuellen, gerade weil ich der Sprache und dem Reden wie Denken gegenüber so skeptisch geworden bin.
Du trennst zu sehr.
Wir können uns nicht mehr nach den Worten und Sätzen beurteilen, sondern nur noch nach den Handlungen. Deshalb erfahren wir auch durch Sprache so wenig nur voneinander.
Unsere Worte jetzt haben sich verselbständigt und sind eigene Wege gegangen, schöne, dunkle, offene, denen wir gerne gefolgt sind, diese weißen und schwarzen Ruinen, abseits von politischer Verantwortung und Verständigungsbereitschaft…
Mein Arbeiten ist ein ständiges Wandeln, ein ständiges Entwickeln. Es wickelt sich etwas aus – das Auswickeln ist selbst schon substantiell.
Was zeigt sich dann am Ende?
Der Tod. Er bezeichnet das, was vorher war, als die Substanz.
Ich sehe Entwicklung mehr als ein dauerndes Wachsen, ein
Reicherwerden, und der Tod ist dann, wenn es gelingt, die Erfüllung, das Gefülltsein zu „seiner Zeit“ oder „wenn es an der Zeit ist“.
Dein Bild erinnert mich eher an die Leere, an die Erschöpfung.
Ich habe damit nicht gemeint, daß immer weniger da sein wird, sondern es wird immer mehr offenbar. Am Schluß des Entwickelns ist kein Gegenstand, kein Fund vorhanden, etwas, das man wegnehmen oder losgelöst forttragen könnte, sondern dadurch, daß es endet, wird es überhaupt erst als dieser Prozess erkennbar.
Wenn ich mich in diesem Prozess befinde, kann ich ihn nur ahnen. Wenn ich ende als dieser Prozess, dann ist mir das Ahnen nicht mehr möglich, auch das Erkennen nicht mehr, das müssen dann andere leisten; müssen nicht, sondern können.
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1 Reinhold Urmetzer, “Wolfgang Rihm” (Edition Patricia Schwarz 1988). Wieder abgedruckt in: Reinhold Urmetzer, “Gespräche mit Zeitgenossen” (erscheint demnächst)
Teil 4: Auszüge aus dem neuen Interview vom 7.Oktober 2015