189 Über Zärtlichkeit
Brief an Lucilius 6
Du fragst mich, ob die Sehnsucht vor oder nach der Zärtlichkeit steht. Ich verstehe diesen Satz nicht ganz. Oder meinst du: ob die Zärtlichkeit vor oder nach der Sehnsucht steht?
Auch diesen Satz verstehe ich nicht ganz. Denn Zärtlichkeit kann nicht “stehen”, sie ist eine Tätigkeit, eine Handlung, eine Bewegung. Und auch eine Sprache des Körpers.
Oder sprichst du vielleicht ein Problem beim Komponieren meiner neuen Lieder an: Tatsächlich ist es eine Frage, in welcher Reihenfolge die beiden eben fertig gestellten und dir vorgespielten Lieder mit dem Titel “Sehnsucht” und “Zärtlichkeit” in einer Aufführung stehen sollen(schon wieder dieses Wort). Auch im Sinne eines Abschiedsliedes, dass die Sehnsucht nach dem Abschied bleibt oder auch nicht.
Doch du sagst, Sehnsucht sei für dich ein Laster. Das heißt: du kannst mit Sehnsucht nichts anfangen, sie scheint bei dir eher eine negative Bedeutung zu besitzen. Doch Sehnsucht ist für mich eine Kraft, die einen lebendig hält, lebendig macht. Es ist eine Ableitung von Traum, Begehren, Liebe und sogar vielleicht von Glück.
Die Gender-Thematik hat mittlerweile alles jedoch in die Verwirrung gebracht, auch unsere Sehnsucht. Allein schon der Begriff “Gender” ist eine fragwürdige NeuPrägung, die von dem behavioristischen Weltbild ausgeht. Auch eine Dogmatisierung, mit der einseitig Mann oder Frau in ihren Geschlechtsrollen neu definiert, festgelegt und vermischt werden sollen.
In dem Maße, in dem Frauen ihr männliches Potenzial entwickeln, dürfen sie jetzt Mann-Frauen sein. Umgekehrt sind Männer, die ihre weiblichen Seiten entwickeln und zeigen, Frauen-Männer. Nicht schwul, schon gar nicht Transvestit, eben anders, “neu”.
Tatsächlich: Junge Männer, meist südländischer Art, tragen bereits MiniRöcke wie die Frauen: schwarze Strumpfhosen, ein langes Tunika Obergewand (T-Shirt), darüber eine Jacke. Wenn die Gesichter nicht zu sehen sind, kann man fast nicht mehr das Geschlecht unterscheiden. Zumal manche Frauen mittlerweile einem rigiden Schlankheitswahn verfallen sind.
Als Musiker habe ich bei den langsamen und getragenen Sätzen immer an Weiblichkeit denken müssen, während es in der Musiksprache eindeutig auch männliche Konnotationen gibt. Das schließt ein, dass Musikerinnen auch mit einem männlichen Gestus spielen können und müssen. Eine Untersuchung der Universität Budapest stellte bei den Musikern gegenüber dem Durchschnitt der Bevölkerung erhöhte ÖstrogenWerte und umgekehrt einen erhöhten TestosteronSpiegel im Blut fest. So sind sie eben, die Musici! (man beachte meine Pluralbildung, um nicht in der Gender-Falle zu landen).
Ich glaube dennoch nicht an eine totale Geschlechterangleichung oder gar Verschmelzung. An unserem Sohn habe ich sehr früh und ohne dass ich es hätte fördern oder verhindern wollen, “männliche Klischees” entdecken können. Er hat sich nie für Puppen interessiert und dies trotz der angestrengten Bemühungen mancher Kindergärtnerinnen. Warum sollen die Frauen zu Männern und die Männer zu Frauen konditioniert werden? Was habe ich davon, wenn ich im Mann jetzt auch eine Frau finden kann? Und umgekehrt?
Doch ich will als umfassend gebildeter (ich bin quasi “wikipediert”) und im InformationsZeitalter aufgewachsener Berichterstatter, nicht wahr, nicht in Vorurteile fallen oder die Entwicklung bremsen, wie sie sich abzeichnet. Denn das neue elektronische MaschinenZeitalter braucht eigentlich nur noch geschlechtslose Wesen, damit es funktioniert. Es züchtet sie bereits heran. Etliche sind schon unter uns, vor allem, weil diese beklagenswerten Wesen (ich finde kein besseres Wort) zu viel arbeiten müssen und das Denken verlernt haben. Aber das will ja gerade das neue Zeitalter.
Ähnlich wie früher in den sozialistischen Diktaturen, wo manche Frauen fast schon zu martialischen Männern geworden sind (etwa im Militär) – mit welcher Art von Mann haben diese Frauen zusammen leben wollen? Welche Art Mann war an ihnen interessiert zum zärtlichen ZusammenSein? Auch die Amazonen sind mittlerweile wieder unter uns, ja sie kämpfen sogar einen erbitterten Kampf gegen ihresgleichen, wenn frau aus dem Kampfanzug springt und zum devoten Hausmütterchen zurück kehren will.
Zurück zur Zärtlichkeit. Dass Männer zärtlicher als Frauen gegenwärtig sein sollten, das habe ich bereits in einem Beitrag im Blog Nummer 78 erläutert. Dass Frauen aber auch zärtlicher als Männer sein sollten – das ist wohl eine überzeitliche Vorstellung, die von Männern wie Frauen und einschließlich mir doch immer noch so sehr gewünscht wird. Warum auch nicht. – Ist Zärtlichkeit also eine platonische Idee?
Demnächst: Über Anarchismus
Wie kann ich über Zärtlichkeit, Liebe und Lust so sorglos fabulieren, herum plappern und manche Menschen “verunklaren”, wie SG in einer NeuPrägung mir vorgeworfen hat, wenn draußen vor der Stadt die Assassinen unterwegs sind, wenn fast schon vor meiner Haustüre die Autobomben platzen und unsere Umgebung bereits in meiner unmittelbaren Nähe voll ist von arabischen Flüchtlingen, die nicht wissen wohin und woher? Die voll Staunen und Bewunderung in unseren KonsumTempeln stehen und die vielfältigsten Warenauslagen betrachten, die für uns samt den neuen Gottesdiensten(Aldi, Armani, Amazon…) selbstverständlich geworden sind?
Wie kann ich, doch sonst ein so politisch denkender Mensch, mich derart verlieren in den kleinen Dingen des täglichen Alltags, des Körpers und seiner Befindlichkeiten? – Warum und weshalb? Quo vadis RU?
Doch um den Aufsatz über Anarchismus fertig zu stellen, muss ich zuerst noch einmal bei Dostojewski nachlesen.
Vgl. auch meinen BlogBeitrag Nr.127 über Charlie Hebdo.