190 Ostende (2)
Auf Twitter melde ich mich nicht aus einem übersteigerten Selbstdarstellungs-Gehabe heraus, sondern weil es etliche Menschen gibt, vor allem aus dem Bereich von Musik und Kunst, die mit verfolgen möchten, was ich gerade mache. Ob ich etwas komponiere, das vielleicht geeignet für einen selber wäre (bitte mich ansprechen!), die mich kontaktieren wegen Konzerten, Ausstellungen oder auch anderen Fragen. Bei TwitLonger schreibe ich – früher mehr, jetzt wo es den Blog gibt weniger – längere Gedanken auf, die mir durch den Kopf gehen und die vielleicht auch solche TwitterFans interessieren könnten, die meine langen und Zeit aufwändigen Ausführungen im Blog nicht studieren möchten. Ich drucke deshalb an dieser Stelle jetzt zwei überarbeitete OstendeTexte aus TwitLonger ab. Sie scheinen mir wichtig zu sein und beziehen sich auch auf die aktuelle politische Situation.
P.S. Was Fremdwörter und Fachbegriffe betrifft – nicht unbedingt in diesen Texten, sondern allgemein und was man mir immer wieder auch vorhält – Ihr seid doch so umfassend wikipediert! Ich gehe davon aus, dass man sofort, wenn ein unbekannter Begriff in meinen Texten auftaucht, diesen in Wikipedia nach liest und sich informiert. Ganz einfach. Informations-Zeitalter (Achtung Ironie!).
Ostende, la Reine des Plages, 25.November 2015
Ostende war in der Jugendstil-Zeit um die Jahrhundertwende die “Königin der Seebäder”. Jetzt ist sogar, auch was die Seebad-Kultur betrifft, nichts mehr wie früher. Selbst die Frankophonie ist in den letzten Jahren des flämischen Separatismus verschwunden. Im Hotel und fast überall sonst vermeidet man das Französische, vielleicht auch sogar die französischen Gäste.
Man möchte von den Wallonen nichts mehr wissen, denen man so lange Reichtum und Wohlstand zu verdanken hatte. Während die flämischen Bauern mit ihren Milchkühen noch in den Breughelschen Himmel blickten.
Wie die Bayern, wie die Schwaben und etliche andere auch damals im großen deutschen Reich. Während die Ruhrgebietler, Westfalen, Saarländer, Schlesier etc.in den Bergwerken und Stahlhütten hart arbeiten mussten für den allgemeinen Wohlstand der Zeit.
Auch die Zweisprachigkeit ist überall verschwunden. Es scheint ein richtiger Rassismus sich zu entwickeln zwischen den Flamen und den Wallonen. Rimbaud war ein Wallone aus den Ardennen.
Sogar eine Spaltung des Staates wird gewünscht, wenn nicht Brüssel wäre, die große internationale Hauptstadt, der man einige Beachtung und Aufmerksamkeit verdankt. Andererseits winken sogar die protestantischen Niederländer dankend ab, wenn die katholischen belgischen Flamen sich ihnen staatlich anschließen wollen.
Man sollte als Tourist keine separatistischen Gebiete mehr besuchen, sage ich mir und halte mich trotzdem nicht daran. Sei es in Großbritannien, in Spanien, Italien, auf dem Balkan oder sonstwo. Mögen sie doch unter sich bleiben! Inzüchtig sich vermehren bis zum nächsten Krieg, der schon vor der Tür steht, wenn Europa dann wieder in egoistische Nationalismen und Eigenbrödlereien auseinander fällt.
Ich halte viel von Dezentralisierung. Auch von einem Europa der Regionen. Ich halte aber nichts von Abspaltungen im Namen von ethnischen Besonderheiten, die sich für etwas ethnisch Besseres halten (nachschlagen was ethnisch bedeutet!?).
28.11.2015
Schon 1975 bin ich in eine besetzte Stadt gereist, nach Stuttgart. Gesichert von zahlreichen Polizisten, auch zu Pferd, von Soldaten mit Maschinenpistolen, Straßenkontrollen – alles war für mich sehr neu und unwirklich, wie in einem Film. Doch es war damals keine allgemeine Angst zu spüren, denn die so genannte Rote Armee Fraktion (RAF) hatte sich für ihre Terroraktionen immer nur führende Politiker oder Wirtschaftsleute zum Ziel gesetzt. Der normale Bürger war scheinbar nicht in Gefahr.
Jetzt bin ich morgen wieder unterwegs in eine von Polizisten und vielleicht sogar Soldaten besetzte Stadt im Ausnahmezustand: Brüssel. Nur mit dem Unterschied, dass sich die Idee des Terrorismus gewandelt hat: Vom gezielten Terrorismus der Anti-Kapitalismus-Guerilla jetzt zum totalen Terrorismus, wie er schon vor 130 Jahren in Russland, am Ende des Zarenreiches, propagiert und praktiziert worden ist.
Nur mit einem Ziel: Angst und Schrecken zu verbreiten. Angst und Schrecken so stark in der Bevölkerung zu verbreiten, dass der Staat mitsamt seinen Institutionen (etwa die Bürokratie) ins Wanken geraten, vielleicht sogar zusammen brechen sollte. Dass dann ein Neubeginn, ein ganz neuer Aufbau beginnen könnte. Aber nichts dergleichen ist daraus geworden: Es bildete sich nur eine neue Gewaltherrschaft, ein neues Imperium mit neuen brutalen Herrschern. Auch das sowjetische Imperium ist schließlich zusammen gebrochen, wie alle Imperien vorher und später und überraschender Weise sogar ganz ohne Bombenterror und Blut vergießen ist es implodiert. Selbst das amerikanische Imperium ist nicht mehr das, was es einmal war.
Zwar glaube ich nicht, dass die gegenwärtigen Theokratie-Fanatiker einen westlichen Staat ins Wanken und zum Zusammenbrechen bringen könnten. Aber sie haben jedenfalls schon ein Ziel erreicht: Angst und Schrecken zu verursachen.
Ich denke, es gibt tatsächlich eine westliche Variante, eine vielleicht sogar typisch europäische Variante dieses neuen Religions-, auch Kultur-Krieges, wie er in Europa mit seiner Medienwelt, seinen ethnischen Spannungen, Diskriminierungen, seinen Unterdrückungsmechanismen und seiner Arroganz hat entstehen können.
Eine gegenseitige Bedingtheit, von der Baudrillard schon vor etlichen Jahren gesprochen hat: die Terroristen nähmen die Medien als Geisel in ihre Gewalt. Und die Medien machen mit. Sie setzen die Inszenierungen dieser jungen Leute wirkungsmächtig ins Bild. Auch negative und todessüchtige Gestalten sind Helden, Anti-Helden. Manche Medien machen Verbrecher und Verbrechen präsentabel, sind deren kostenloses Sprachrohr, schaukeln Auflage und Einschaltquoten hoch sogar mit einer manchmal panischen Hysterie, die sofort politisch ausgenutzt wird.
Doch andererseits: Wenn man gar nicht mehr darüber berichten würde? Wenn sich alles nur innerhalb der Geheimdienste und Geheimdiplomatie abspielen würde wie früher? Informations- und Desinformationskampagnen gibt es mittlerweile genug in dieser Welt!
Auch jetzt hat sich also wieder eine Isosthenie gebildet: Wie über diese Ereignisse berichten, ohne ihnen zu viel oder auch zu wenig Aufmerksamkeit zu schenken? Bis schließlich beide Seiten dann doch vernichtet sind. Denn in diesem gegenwärtigen Kampf der Berichterstattungen gibt es keine Gewinner, sondern eher nur Verlierer. Selbst wenn man als Märtyrer im Paradies aufwachen sollte.
Um solchen Kommunikations-Fallen, einer solchen De-oder Miss-Kommunikation zu entgehen, plädiere ich wieder einmal und weiterhin für das direkte Sprechen! Für Gespräche und eine Begegnung von Auge zu Auge, für Verhandlungen mit Menschen, die sich nicht voller Hass gegenüber sitzen und sich bekämpfen müssen, sondern so professionell vorzugehen im Stande sind, dass sie auch Gegensätze emotional aushalten können. Nur so kann Verständigung ins Spiel kommen, nur so können Sprachen und Verhaltensweisen verstanden werden, selbst wenn es nicht unbedingt ein Verstehen einschließt.
Also auf nach Brüssel und weiter dann nach Hause! Was mich nach all diesen Warnungen und dem Ausnahmezustand in der Hauptstadt, die Menschen sollen ihre Häuser nicht verlassen, die Metro fährt nicht mehr, Menschen-Ansammlungen in großen Plätzen und Bahnhöfen meiden, was mich wohl dort erwartet? Wo soll ich umsteigen,wo gibt es weniger Menschen-Massen, wo ist es weniger gefährlich? Im Zentrum der große und in seiner Internationalität richtig spektakulär-faszinierende Bahnhof Midi, der vielleicht doch besser geschützt sein wird? Oder eher im Nordbahnhof umsteigen, wie man es mir empfohlen hat? Schon ein schlechtes Gefühl, an einem Ort zu sein, wo jeden Augenblick schwer Bewaffnete einen als Geisel nehmen können.
Also en route! Ich melde mich, wenn ich angekommen bin.