194 Wieder gelesen: Vorhut, Vorhaut, Vor-was?
Zwischenbilanz
Am 13. Januar jährt sich zum zweiten Mal dieses mein neues Abenteuer des Blog-Schreibens. Statt mich mit Büchern oder Zeitungsartikeln zu befassen hat mich Alexey Chibakov überredet, einmal dieses Blog-Schreiben zu starten. Nach meinen TwitLonger-Aufsätzen hatte er das Gefühl, dass ich mehr schreiben wollte und müsste und er hat mir diese für mich ganz neue Kommunikationsform eingerichtet. Danke Alexey! Ich war neugierig und beeindruckt von dieser Form und Technik der Kommunikation, dieser neuen Art von Artikel-Schreiben.
Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis. Ich bin auch überrascht, mit welcher Energie, mit welchem Elan und mit welcher Leichtigkeit ich diese Texte zu Stande gebracht habe und dass mir immer wieder neue Ideen eingefallen sind. Nicht zuletzt gehen sie meist auf Anregungen, Bemerkungen oder kritische Einwände von Freunden in meiner nächsten Umgebung zurück.
Ich spiele zwar gelegentlich auch pseudo-biografisch mit einem fingierten Du (etwa in den Seneca nachempfundenen Lucilius-Briefen), das man in meiner näheren Umgebung nicht finden wird. Doch die Anregungen und Ideen stammen alle aus meiner Lebenswirklichkeit. Auch wenn ich es durchaus nicht immer bin, der beschrieben wird oder sich äußert. Wenn ich den diskursiven Rahmen verlasse, wenn Kunst oder literarische Fiktion ins Spiel kommen, bin ich manchmal ein Anderer. Also aufpassen mit eurem Urteil über mich und meine Befindlichkeiten!
Überraschender Weise ist jetzt einer meiner ersten Aufsätze überhaupt: “Vorhut, Vorhaut, Vor-was” (im Blog die Nr.9), wieder angeklickt worden. Ich lese ihn mit Interesse noch einmal durch und stelle fest, dass sich gewisse Grundsätze meines Denkens, Maximen meiner Lebensform und philosophischen Überzeugung als konstant erwiesen haben bis in die Gegenwart hinein.
Abgesehen von dem manchmal fast übermütigen Schwung des Beginns, den man in den frühen Aufsätzen leicht finden wird, haben sich folgende Punkte als konstant erwiesen:
1 Sprachphilosophische, auch auf Wittgenstein zurūck gehende sprachskeptische Gedanken, die sich bis in die Kommunikationstheorie hinein auswirken. Das bezieht sich auf die vielen neuen Smartphone-Komplikationen, die mich an der Kommunikabilität mancher Zeitgenossen zweifeln lassen. Der Neurologe Joachim Bauer aus Freiburg spricht mittlerweile sogar schon von einer dadurch hervorgerufenen neuen Seuche, d. h. von einer sehr verbreiteten und tief gehenden Krankheit, die er auch als klinischer Psychologe immer wieder diagnostizieren muss.
Es geht um das Verstehen und um die Verständigung. Es geht um reduziertes (verkürztes, verkümmertes) Denken, Schreiben, Sprechen auch mithilfe der neuen Kommunikationsgeräte und ihrer Reizüberflutung. Verkümmert die Sprache, dann verkümmert das Denken; es verkümmert der Mensch (ich wiederhole mich).
Es geht um die Sprachlosigkeit und um die existentielle Fremdheit der Menschen untereinander, die sich nicht mehr begegnen können, geschweige denn zu einer Beziehung, zu einer verantwortungsbereiten Liebe jenseits des Begehrens fähig sind. Die schließlich sogar tot in ihren Apartments liegen und niemand nimmt sie wahr.
Und dies alles trotz der heftigen kommunikationstherapeutischen Wellen in den Siebziger Jahren, die mit ihrer Gefühlsintensität doch das Gegenteil anstrebten und sogar erreichen konnten.
Es werden dabei in meinem Aufsatz direkt angesprochen junge Freunde einer anderen Generation, die ich bis heute noch kenne und kontaktiere, und es geht auch um meine Kommunikations-Probleme mit diesen jungen Leuten, die ich voller Neid und auch Sorge so unbeschwert dahin leben sehe.
2 Nahe liegend ist natürlich dann für dieser Zielgruppe die Sinn-Frage: Wie heutzutage leben? Wie eine und vor allem welche Lebensspur spuren? Finden?
Als nächster Schritt, ebenfalls sehr nahe liegend, folgt die Frage nach einer Begegnung, Beziehung, nach Liebe. Was ist Liebe? Welche Form, welche Aufgabe haben in einer Beziehung, in einer Partnerschaft Liebe und Lust?
Diese Thematik, anfänglich noch von mir als Buchveröffentlichung im Konkursbuch-Verlag gedacht, habe ich dann im Blog immer wieder aufgegriffen, insbesondere die Kommunikationsfähigkeit, die Liebes- (Un)Fähigkeit der Männer untereinander thematisiert in Abgrenzung zum sexuellen Begehren, zu geistiger Liebe und Lust.
Diese Fragestellung scheint mir mittlerweile in meinen Untersuchungen und Forschungen an einem Ende angelangt zu sein mit folgendem Ergebnis :
Ich bin zu der Überzeugung gelangt (und ich schließe mich damit auch immer mehr der Ethik der Stoa an), dass man ein Leben nicht ausschließlich nur auf Lust, Vergnügen, Spaß und Ablenkung gründen kann.
Im Gegenteil: Dass das Soziale, die Menschen um einen herum, das Nest mit seiner voll umfänglichen Verantwortung allem gegenüber bedeutend wichtiger und nachhaltiger wird für den Lebensweg als nur kurze und flüchtige Vergnügungen; zum Beispiel der Austausch von Körperflüssigkeiten, wie ich gelegentlich den Geschlechtsverkehr ironisch benannt habe. Selbst Wilhelm Reich, der Ur-Vater einer Lust-und Orgasmus-Therapie, nennt den Orgasmus “Liebende Umarmung”. Sex ist auch bei ihm, allen Missverständnissen zum Trotz, mehr als nur eine Begegnung, eine Kopulation der Körper.
3 Geblieben ist in meinen Texten dennoch das Spiel mit sexuellen Reizworten, um die Leute bei Laune oder bei der Stange zu halten (Entschuldigung). Dazu gehört auch eine gute Portion Humor und Ironie, auch Persiflage, wie ich sie nicht zuletzt in der Berliner “Tageszeitung” angewandt habe. Immerhin war damals der Leitspruch parallel zur französischen “Liberation”: Wenigstens einmal beim Lesen einer Zeitung sollte der Leser lachen können.
4 Antikes Denken: Das intensive Suchen in der Vergangenheit nach Antworten auf Probleme und Fragen, die in der Gegenwart neu und wieder gestellt werden und die auch in der Vergangenheit schon gestellt worden sind. Ich nenne dies das anamnetische Vorgehen, und allen denjenigen, die meine Rückwärtsgewandtheit kritisieren und fragen, warum ich mich mit schon 2000 Jahre alten Problemen herumschlage, sei geantwortet (hallo AH!): Selbst wir suchen in der Vergangenheit unseres Körpers, der Erziehung, der Lebensgeschichte nach Ursachen für unser jetziges Verhalten und finden diese oft in unserer frühkindlichen Vergangenheit. Das Gleiche gilt auch für den sozialen Körper, einen Staat, eine Gesellschaft, der sich im Laufe seiner Entwicklung bildet, aufbaut, stützt auf Erfahrungen der Vergangenheit, seiner Kindheit, auf Erlebnisse, Kriege, Schocks und Wunder, Weisheiten der Propheten, der Götter, Bücher, Denker oder Künstler.
5 Stil: Schon in diesem frühen Blogbeitrag Nr.9 spiele ich wie auch in meinen Büchern, ganz zu schweigen von meiner Musik mit heterogenen Elementen, mit Brüchen, Kreuz-und-quer-Denken(es gibt auch das Kreuz-und-quer-Leben!), mit inhaltlicher Zerrissenheit, ästhetischen Einschüben, Metaphern, Paradoxien oder abrupten Brüchen. Mit Monster- und Schachtelsätzen, deren Komprimiertheit und Komplexität das stockende Lesen und gerade nicht das leichte (Über-)Lesen provozieren will. Selbst auf die Gefahr hin von Einsamkeit und “Unverständlichkeit”. Die Bildhaftigkeit meiner Sprache ist ebenfalls manchen Leuten ein Problem, sie verstehen die Sprache der Wüste nicht, selbst wenn sie sich darin befinden…
6 Freudo-Marxismus. Man wird immer wieder feststellen können, dass ich mich als argumentative “Letzt-Begründung” (auch das gibt es) doch sehr oft auf Sigmund Freud berufe. Selbst wenn auch Freuds Theorie nur eine “Theorie”, ein „Narrativ“ im Sinne von Lyotards “Erzählungen” darstellt, so ist sie doch als Impulsgeber, wie man ein Leben leben sollte, nützlich und sie hat sich bewährt.
Die Frage taucht auf: warum gerade Freud? Ob ich gute Erfahrungen mit der Freudschen Psychoanalyse gemacht habe? –
Nein. Aber ich erinnere mich an drei Weg weisende Seminare und Vorlesungen zu Beginn meines Philosophie-Studiums bei Karl Otto Apel, einem Weggefährten und Mitstreiter der neuen Frankfurter Schule (Habermas): Apels “Ethik in der modernen Industriegesellschaft“, eine Vorlesung im voll besetzten Auditorium Maximum, beeindruckte mich, weil Studierende aus allen Wissenschaften anzutreffen waren. Dann das Seminar “Verstehen und Erklären” – die Naturwissenschaften erklären, die Geisteswissenschaftler verstehen (hermeneutisch). Schließlich das Seminar “Wahrheit in der Psychoanalyse” – die Methodenvielfalt und wissenschaftstheoretische Offenheit Freuds hatte mich ebenfalls gepackt.
Freud war ein Naturwissenschaftler, der mathematisch genau und fast schon biologistisch reduziert seelische Phänomene zu erklären versuchte.
Er war jedoch auch ein Geisteswissenschaftler, der mit einer verstehenden Analyse, mit Hinterfragen, Deuten und Interpretieren von lebensgeschichtlichen Zusammenhängen(Zeichen, Symbolen, Träumen) die Seele des Menschen zu ergründen suchte (Seele ist ein geisteswissenschaftlicher Begriff).
Schließlich war Freud auch noch ein Sozialwissenschaftler, der die Auswirkungen seiner Forschungen und Experimente auf Politik und Gesellschaft durchaus einzuschätzen wusste. Der die krank machenden Tendenzen durch das Wirtschaftssystem in seinen fast schon literarisch formulierten Betrachtungen ebenso berücksichtigte wie die allumfassenden Sexualstörungen einer Zeit, in welcher viele Frauen sogar noch ein Korsett tragen mussten. Nicht zuletzt hat er sich in den letzten Lebensjahren nicht gegen die Inversion, wie er es nennt, ausgesprochen.
Als Anregung zur Interpretation, zu Diskussion und Nachdenken sind Freuds Gedanken hilfreich, selbst wenn vielerorts Menschen zu ganz anderen Antworten oder Ergebnissen kommen. Aber selbst aus dieser Negation heraus habt ihr eure Position dann doch schließlich gefunden, die Spur eures Lebensweges, wie ich es immer wieder metaphorisch benenne. Auch wenn sie antithetisch zu meiner sein mag. Das ist o.k.
7 Vom Marxismus ist bei mir nur recht wenig übrig geblieben, vielleicht am ehesten noch die Entfremdungstheorie durch den all umfassenden und fast schon totalitären Ökonomismus unserer Zeit, der fast sämtliche menschlichen Werte zu eliminieren versteht mit Ausnahme des Geldverdienens, unserem neuen Gott für Welt, Kultur und Denken. Dem sich alles unterzuordnen hat. Selbst in Russland und China.
Als Resultat entsteht daraus ein kalter Solipsismus, über den ich auch immer wieder geschrieben habe. Als Gegenpol zu dieser menschenfeindlichen Vereinzelung (“Entfremdung”), die das ununterbrochene Schuften ums Geldverdienen im Hamsterrad eines blindwütigen und scheinbar unbeherrschbar-entfesselten Systems bewirkt, bin ich immer mehr der Überzeugung, dass das Soziale wichtiger ist als alles andere: die Mischung aus Groß und Klein, Jung und Alt, Mann und Frau, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, möglichst in einem intensiven Austausch miteinander verbunden sowohl der Gefühle als auch der sozialen Spannungen und Verpflichtungen auch dem Körper gegenüber (Puh! Was wieder für ein langer Satz! Ich entschuldige mich jedoch nicht!).
Dazu gehören wesentlich Werte wie Solidarität, Hilfe, Empathie und Liebe. Liebe weniger im Sinne von Sex und Eros als im Sinne der antiken Agape verstanden.
Alles andere würde die totale Vereinzelung bedeuten, das Abhängigsein von Maschinen und schließlich auch das Maschinen-Menschen-Dasein zusammen mit gezüchteten, geklonten und maschinell hergestellten Wesen. Wir werden mit Robotern uns vergnügen müssen und werden dabei selbst zu Roboter-Maschinen.
Wir werden uns von unseren Smartphones ablenken lassen, werden selber zu einem hektischen und jederzeit bereit sein müssenden Gerät, das programmiert, weiter entwickelt und gesteuert werden wird. Von wem? – Das bleibt die drängende Frage, die mich bis heute beschäftigt. Wir werden alle Augenblicke auf den kleinen Bildschirm unserer Geräte zu blicken gezwungen sein fast schon wie in einer Sucht, bis schliesslich der Akku ausgeht. Doch wer lädt unseren Akku auf, wenn wir einmal überfordert sind von dieser neuen und allumfassenden Macht?
*
Mittlerweile habe ich fast zweihundert Aufsätze im Blog geschrieben, die in Buchform veröffentlicht werden sollen, denn für mein Empfinden und meine Generation liest sich ein Buch leichter, schöner und angenehmer, als wenn ich alles auf dem Bildschirm studieren müsste. Auch wenn der Bildschirm hilfreich ist zum schnellen Nachschlagen von Fachbegriffen, zum schnell gegoogelten Wissen. Ob dieses Wissen dann aber auch zur schnellen und Nutzen bringenden Weisheit führen kann, wage ich zu bezweifeln.
In diesem Sinne wünsche ich allen meinen Blog-Lesern und -Leserinnen ein gutes neues Jahr voll Muße, Spannung, Neugierde, positiven Überraschungen, Chaos und Durcheinander, was nicht zuletzt auch ein Aufbrechen, ein Offenwerden einschließt. Intensive Gefühle und neue Erfahrungen sollten dabei nicht fehlen.
Oder seid ihr doch mehr für die antike Ataraxie, die Gemütsruhe, welche sowohl die Skeptiker als auch die Epikureer ebenso wie die Anhänger der Stoa als Lebensziel propagiert haben? Einverstanden, auch gut. Nur die Hedonisten waren für ein intensives Leben in Leidenschaft und Lust. In der so kriegerischen und Not leidenden Antike hatten sie jedenfalls relativ wenige Anhänger und wohl nur unter den Begüterten und Reichen.
Bleibt also dran! Ich danke euch für eure Treue, Beharrlichkeit und Neugier beim Lesen und Mitdenken. Auch für Rückmeldungen im persönlichen Gespräch. Verzagt bei Verstehensproblemen nicht zu schnell, ich verstehe von vielen Texten um mich herum (um mich herum?) auch manchmal nur 50 %. Das reicht trotzdem und ist effizient. Vielleicht traut ihr euch auch immer mehr, die Kommentarspalten im Blog zu benutzen wie gelegentlich schon geschehen. Einige frühere Kommentare sind leider wegen einem technischen Problem verloren gegangen.
Ihr seht – geändert habe ich mich noch nicht sehr seit meinem Beginn vor zwei Jahren! Auch wenn doch Vieles anders geworden ist in unserer so umbrüchigen Zeit und in unserem Leben.
Valete – Lasst es euch dennoch gut gehen und lebt wohl!
P. S. Das Buch, das alle meine Blog-Artikel sammeln wird, heißt voraussichtlich: Über Verführung – Eine Kulturgeschichte der Zeit.
Gesamtinhaltsverzeichnis Nr.91