196 Islamismus
Islamismus ist ein nur sehr unscharfer und mehrdeutiger Begriff, der unsere Zeit und Gegenwart in Atem hält. Wie alle anderen Ismen auch übertreibt er: der Optimismus als eine (zu) positive Lebenseinstellung, der Pessimismus als zu negativ, der Idealismus – er sieht überall nur leitende geistige Ideen, die unser Handeln steuern; der Objektivismus, der alles nur einseitig und übermäßig objektivieren, zu einem leicht steuer-und manipulierbaren Ding machen will etc. Auch der Begriff des Islamismus schadet in der gegenwärtigen Diskussion mit seinen heftigen und grausamen Auswirkungen mehr als er nützen kann.
Der französische Politologe und Islamspezialist Olivier Roy spricht in der Zeitung “Le Monde” stattdessen lieber von einer diffusen “Jugendrevolte”; auch nicht von einem radikalen Islam im Sinne eines Islamismus, sondern von einer “Islamisierung der Radikalität”, des Fanatismus der Zu-kurz-Gekommenen und Frustrierten:
“Es gibt bei den Terroristen keine wirklich religiöse Motivation, sie sind nicht fromm. Sie sind Nihilisten, zu vergleichen mit den Massenmördern in amerikanischen Schulhäusern oder auf einer norwegischen Ferieninsel. Nur zufällig berufen sie sich auf den Islam, weil dieser sich gerade anbietet. Es könnte auch irgend eine andere Ideologie sein“.
Die jungen Leute seien ausnahmslos Angehörige der zweiten Generation Eingewanderter. Sie suchten den gewaltsamen Bruch mit ihrer Gesellschaft, mit der westlichen Kultur und mit der Kultur ihrer Eltern zugleich. Die Radikalisierung der Terroristen wird eher als ein „individual-psychologisches Entgleisen” gedeutet.
Immer wieder suchen sich solche Menschen Ventile und Kanäle, um ihrer Frustration, Langeweile oder Verzweiflung Gehör zu verschaffen. Seien es die Sklaven im Spartacus-Aufstand der Antike, seien es die mittelalterlichen Nominalisten gegen die Realisten, die sich tatsächlich um einer Abstraktion, um der Wahrheit von Allgemeinbegriffen willen duelliert haben; seien es die Religionskriege in der Barockzeit im Rahmen des allerkatholischsten oder des erz-protestantischten Gottes – immer wieder sind Ideologien entwickelt worden, um sich und dem individuell geknechteten Leben im Kollektiv besser und lauter Gehör zu verschaffen. Dass dieses Leben nicht mehr lebenswert ist, weil es in bitterer Armut dahin siechen muss. Dass ein solches Leben zu wenig Anerkennung, zu wenig Akzeptanz erhält in seiner Beschränktheit und Eigenart oder dass blendende Verführer, seien es nun Computerspiele, Filme oder religiöse Einflüsterer, es in die Irre geleitet haben. So heftig, dass schließlich Selbstaufopferung und Selbsthass zu Heldentaten werden können, die direkt ins Paradies führen.
Die gegenwärtig im Namen Allahs verbreitete Ideologie ist also nur ein Deckmantel für Unzufriedenheit, für Aufbegehren, für Desintegration. Es ist wieder einmal eine Rebellion, die sich nicht zuletzt um Teilhabe und gegen das begüterte und reiche Establishment wendet, wie es in den Massenmedien verherrlicht wird. Wie immer muss eine ideologische Wahrheit als ein rationales Mäntelchen ausgebreitet werden, damit man nicht als wahnsinniger Schläger-Typ, quasi eine atavistische Verirrung der Menschengattung, da steht. Selbst wenn “nur” emotionale oder körperliche Zwänge, Bedingtheiten und Frustrationen verdeckt werden. Nicht zuletzt aus der Lebensgeschichte eines jeden einzelnen, wie sie die Psychoanalyse immer wieder aufzudecken versucht.
Ich will mich nicht zu sehr auf die Psychologisierung, ja Psychiatrisierung von Politik festlegen. Monokausale Begründungen für ein vielschichtiges und komplexes Phänomen sind immer fehl am Platz. Neben dem anti-autoritären Moment, das auch in der westlichen Studentenbewegung der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts eine große Rolle gespielt hat, muss die neue Radikalität wohl nicht zuletzt doch auch als Folgeerscheinung von religiösem Wahn gesehen werden, der ein Sinn-Vakuum, eine religiöse Leere zu füllen versucht.
Ein großer und wichtiger Mitspieler in diesem Sprachspiel sind weiterhin die Medien. Sie spielen dieses Spiel mit: Zuerst wird bei ihnen Aufmerksamkeit erzeugt, dann wird man beachtet und angehört. Dann reagiert man, Gegenmaßnahmen werden diskutiert (reichlich verunsichert ist mittlerweile die westliche Zivilisation), schließlich werden Änderungen oder Abwehr-Maßnahmen eingeleitet. Negative Stars sind auch Stars, neue Heilige, ohne die es scheinbar in unserer coca-kolonialisierten Welt nicht mehr geht.
Schon bei den russischen Anarchisten war diese Vorgehensweise der allgemeinen Verunsicherung und Destabilisierung als Ziel bekannt. Messerattacken auf die ideologischen Besatzer gab es unter den Assassinen im Mittelalter der Kreuzzüge. In der Studentenbewegung der sechziger Jahre hieß es: Wir haben dauernd protestiert, angeklopft an die Türen der Mächtigen, zu Verhandlungen und Gesprächen aufgefordert. Doch niemand war bereit, nichts ist passiert. Dann hat man ein Auto angezündet – und schon waren alle Türen offen.
Es rotten sich jedoch anders als in den sechziger Jahren nicht mehr Gruppen von jungen Leuten auf den Straßen zusammen und kämpfen dann wie in einer richtig altertümlichen Schlacht gegen die Polizei, gegen deren Wasserwerfer oder Tränengas-Einsätze, sondern diese wenig effektive Vorgehensweise hat sich mittlerweile geändert: Es ist die Taktik der Guerilla, wie sie der chinesische Stratege und Parteiführer Mao Tse-Tung eingeführt hat für die lateinamerikanische Rebellion gegen die “Kolonisatoren”. Es sind jetzt nur noch kleine, dezentralisierte Gruppen, die mithilfe des Internets sich gut vernetzen können: kurz auftauchen, zuschlagen, unter tauchen. Überhaupt ist dergestalt erst eine solche Taktik richtig erfolgreich geworden.
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Doch wie geht es weiter? Was ist zu tun? – Ich denke, dass man mit militärischen Mitteln einer Guerillataktik nicht gewachsen ist. Weder haben die Amerikaner den Vietnam-Krieg, den Afghanistan-Krieg noch den Irak-Krieg mit ihren Fliegern und Bomben, sogar mit ihren Panzern und Landstreitkräften gewinnen können. Es hilft nur immer wieder die Diplomatie: Sprechen, Begegnen, Verhandeln – Einfluss suchen auf die Chefs und Führer der Gruppen, denn es ist letztlich immer auch ein gruppendynamischer Prozess, der sich bei den Entscheidungs-Trägern abspielt. Einfluss nehmen auf die Mächtigen, auf die Befehlsgeber, die Meisterdenker, sich mit ihnen an einen Tisch setzen wie zum Beispiel jetzt auch mit dem Iran. Nur dergestalt lässt sich diese so gefährliche soziale Krankheit besiegen.
Andererseits ist tatsächlich auch ein militärischer Einsatz, sind militärische Abwehrmaßnahmen notwendig. Ohne Gegenwehr wären weite Teile unserer zum Pazifismus erzogenen Gesellschaft ohnmächtig dem Untergang und der Willkür solcher Menschen ausgeliefert. Präventionsarbeit und Integration, das heißt auch Sprach-wie Verstehens-Kompetenz müssen ebenfalls immer wieder eingefordert werden, solange sich unter uns fremde Kulturen in Parallelgesellschaften abschotten können und sich nicht miteinander vermischen wollen. Doch das bleibt die Entwicklungsarbeit ganzer Generationen.
Und man darf auch nicht vergessen, dass Millionen von Menschen ein völlig unauffälliges Leben führen und nun zu Unrecht unter Generalverdacht stehen. Wegen einigen tausend Abwegigen darf man nicht ein ganzes Segment der Bevölkerung stigmatisieren und noch weiter marginalisieren. Wegen einiger Verbrecher darf man nicht die ganze Gesellschaft in ein Gefängnis verwandeln und wie Gefangene behandeln.
Bezug: Neue Zürcher Zeitung vom 7.1.2016