199 Aristoteles (Lukian 5)
Aristoteles ist geistesgeschichtlich der große Antipode zu Platon oder, wenn man so will, auch dessen Ergänzung. Bei Diogenes Laertios(1) wird er als klein, eher unbeholfen, auch unsicher und unansehnlich beschrieben. Er soll jedoch der einzige gewesen sein, der den Vorlesungen seines Lehrers in der Akademie bis zum Ende habe folgen können. Zwanzig Jahre lang war er Platons Schüler, muss schließlich nach dessen Tod auch aus politischen Gründen Athen verlassen. Er geht zurück in sein Heimatland Makedonien, wird dort drei Jahre lang Lehrer am Hof Philipps II. und des jungen späteren Alexander des Großen, der damals 13 Jahre alt war.
Über die arabischen Philosophen im benachbarten Arabisch-Spanien sind sein philosophisches Werk und seine bis heute nach wirkende Begrifflichkeit in das mittelalterliche Heilige Römische Reich Deutscher Nation gelangt, vor allem in die führenden scholastischen Universitäten der Zeit, allen voran Köln und Paris. Die neuen Übersetzungen des Aristoteles aus dem Arabischen ins Lateinische wurden dort studiert, bewundert, diskutiert, auch als ketzerisch verboten. Thomas von Aquin hat sie in einem katholischen Kraftakt mit Platon zusammen gebracht, quasi versöhnt, und Aristoteles ist mit Hilfe des katholischen Säulen-Heiligen, muss man wohl sagen, zum Hof-Philosophen des Vatikan geworden und geblieben bis auf den heutigen Tag (etwa mit seinem Form-, auch seinem Gottes-Begriff).
Der neue Meisterdenker der Zeit ist schließlich in der Geistesgeschichte und vor allem in der Naturlehre bedeutend erfolgreicher geworden als die Ideen und spekulativen Visionen Platons. Denn er und seine Schule, der Peripathos in Athen, später auch in Rom, waren die Begründer der Naturwissenschaften. Während man von Platon eher sagen muss, dass er ein Geisteswissenschaftler gewesen ist, wenn überhaupt. Können Künstler Wissenschaftler sein?
Aristoteles hat eine wichtige und einflussreiche Ethik sowie eine Metaphysik geschrieben, die alle Studenten dieser Welt als Pflichtlektüre ausgiebig studieren müssen. Auch sein Einfluss auf die Politik (er hat angeblich über 150 Staats-Verfassungen gesammelt und verglichen!) ist nachhaltiger als der fragwürdige Einfluss Platons, der nicht zuletzt auch Diktaturen und autoritäre Systeme mit seinem politischen Denken inspiriert hat. Aristoteles erinnert mich in seinem Forschungs- und Wissensdrang, auch in seinem (logischen) Rationalismus sehr an die Vorgehensweise der Naturwissenschaften. Bis heute wird er von den analytischen Philosophen der angloamerikanischen Schulen, nicht zuletzt wegen seiner formalen Logik und Sprachphilosophie, besonders geschätzt. Während Platon, so der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, der erste Proto-Faschist gewesen sein soll.
Aristoteles hat mich nie sonderlich interessiert. Dennoch verbinde ich mit ihm drei „nachhaltige“Gedanken (modische Neuprägung): Einmal, dass er seiner verstorbenen Frau Pythias eine sehr schöne und bewegende Grabschrift gewidmet hat. Zum anderen hat er sich ausführlich mit dem Satz vom Widerspruch (auch vom ausgeschlossenen Dritten)beschäftigt, der unser ganzes Denken, zumindest was das Argumentieren betrifft, dominiert. D.h. unser abendländisches Denken, das sich um Widerspruchsfreiheit bemüht, kommt nicht ohne diesen vielleicht wichtigsten Merksatz der Logik aus.(2) Als Drittes ist mir bei Aristoteles und seiner Anthropologie in Erinnerung geblieben: Es gibt in seiner Einteilung der Menschenart a) den Menschen als ein denkendes, eher theoretisch orientiertes Wesen, b) den praktischen, an Arbeit und Tätigkeit orientierten Menschen sowie schließlich c) auch noch den Genuss-Süchtigen, dem außer dem persönlichen Wohlbefinden alles andere gleichgültig ist und der scheinbar im spätantiken Rom stark vertreten war.(3)
Die Grabschrift auf seine Frau ist insofern wichtig, als Aristoteles sich als einer der wenigen Philosophen der Antike immerhin auch mit Familie, mit seiner Frau und mit der Liebe zu seiner Frau beschäftigt hat. Während alle anderen Kollegen seiner Zeit und Zunft dieses Phänomen für nicht nennenswert gehalten haben. Beziehungsweise – wie im Falle von Platon – gar nicht verheiratet waren. Oder auch mit “Jüngern” zusammen in Wohngruppen gelebt haben. Einige später berühmt gewordene Leiter der Akademie in der Nachfolge Platons, etwa Krates, Pokemon oder Archesilaos, lebten homosexuell (wie man heute sagt und damit den Blick auf diese Welt und Lebensform stark einseitig ins Sexuelle verzerrt). Auch Nikomachos, sein Sohn, scheint Aristoteles wichtig gewesen zu sein, sonst hätte er seine Ethik nicht ihm gewidmet und nach ihm benannt.
Das Familienleben muss man sich in der Antike ganz anders vorstellen als heute. Es gab die Familie, die im Sinne einer Großfamilie von einem Pater familias, dem Familienältesten, gelenkt, beherrscht und dominiert wurde. Der alles zu sagen und zu regeln hatte: Eheschließungen der Kinder, Verteilung der Vermögenswerte, Rechtsstreitigkeiten, Erbschaft und Vererbung, Auspeitschungen bis hin zu Geißelung oder sogar Hinrichtung der Hausbediensteten ganz ohne Gerichtsprozess (Sklaven) etc.
Die Ehefrau war als Herrin die Hüterin von Haus, Hof und Kindern. Die Männer hatten ihre (Sklaven-) Nebenbeziehungen gleich welcher Art mit Wissen der Ehegattin, die ebenfalls ihre Nebenbeziehungen haben durfte. Richtiger Ehebruch, also Nebenbeziehungen außerhalb der Sklavenwelt, wurde jedoch streng bestraft. Eine Liebesbeziehung im Sinne der Romantik war selten. Insofern war auch das sexuelle Lustbedürfnis der Oberschicht-Frauen groß. Die 2. Satire von Juvenal oder auch Petronius in seinem “Satyricon” erwähnen und kritisieren das Phänomen, etwa die lesbischen Vergnügungen beim Frauenfest der Bona Dea.
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Der hellenistische Schriftsteller Lukian(4) macht sich über die Anhänger von Aristoteles, man nannte sie im römischen Reich die Peripathetiker, in seiner Satire “Der Verkauf der philosophischen Schulen” lustig. Wir sind auf dem Sklavenmarkt in Athen. Dort werden die Gründer und Hauptvertreter dieser Schulen (alle sind einflussreich und haben Anhänger) vom geschäftstüchtigen Gott Merkur kurz vorgestellt und dann verkauft.
Die Anhänger des Aristoteles haben demnach viel Verstand und wissen alles ohne Ausnahme. In Verhalten und Charakter finden sie immer die Mitte zwischen den Extremen und sie können mit Geld umgehen. Ihr Wissen ist sowohl esoterisch (nur für Eingeweihte geeignet) als auch exoterisch (für die Außenstehenden, die Nichtwissenden gedacht):
Merkur: Hallo, mein schöner Peripathetiker, tritt vor! – Meine Herren, den kauft! Der hat Verstand! Mit einem Wort, er weiß alles, ohne Ausnahme alles.
Käufer: Was ist sein Charakter?
Merkur: Er ist ein gestandener Mann, der immer weiß, was sich schickt, der nie zu viel noch zu wenig tut – kurz der richtig zu leben weiß. Und was das überraschendste ist, er ist doppelt.
Käufer: Wie soll ich das verstehen?
Merkur: Das heißt, er ist ein anderer Mann von außen und ein anderer von innen. Wenn du ihn also kaufst, so merke dir, dass jener der exoterische und dieser der esoterische heißt.
Käufer: Was sind denn eigentlich seine hauptsächlichsten Grundsätze?
Merkur: Er sagt, es gebe dreierlei Güter: Die ersten haben ihren Sitz in der Seele, die anderen im Leib, die dritten in den äußerlichen Umständen.
Käufer: Das nenne ich doch Menschenverstand! Was soll er kosten?
Merkur: 20 Minen.
Käufer: Das ist viel Geld!
Merkur: Ganz und gar nicht, mein lieber Mann; denn wir haben Ursache zu glauben, dass er sich ein gutes Stück Geld zusammen gespart hat. Du wirst keinen schlimmen Kauf tun.
Überdies kann er dir aus dem Stegreif sagen, wie lang eine Mücke lebt, wie tief die Sonnenstrahlen ins Meer eindringen und was die Austern für eine Seele haben.
Käufer: Zum Herkules, das muss ein grundgelehrter Mann sein!
Merkur: Was wirst du erst sagen, wenn du noch viel subtilere Dinge von ihm hören wirst, zum Exempel, was er über den Samen und die Zeugung sagt, und wie die Kinder im Mutterleib gebildet werden, und dass der Mensch ein lachendes Tier, der Esel hingegen weder ein lachendes noch ein zimmerndes noch ein ruderndes Tier ist.
Käufer: Das sind in der Tat wichtige und nützliche Wissenschaften! So ist er freilich schon seine 20 Minen wert!
(Übersetzung Martin Wieland)
1 Diogenes Laertios, Leben und Meinungen berühmter Philosophen (Meiner 2008), geschrieben im 3.Jahrhundert n.Chr.
2 Während ich auch die Isosthenien der römischen Skeptiker um Sextus Empiricus besonders schätze.
3 Zitiert aus Diogenes Laertios und deshalb auch entscheidend geprägt von der spätrömischen Lebenserfahrung. Diogenes formuliert nicht einfach nur „Genießer”. Auch Seneca geißelt die „ Genuss-Sucht“, hier insbesondere die „Wollust“, die sexuelle Verfallenheit.
Vielleicht ist es aber auch der Übersetzer-Blick, der die Vorlage im Lateinisch-Griechischen als „Sucht“ ins Negative wendet. Voluptas ist zwar die sinnliche Lust (im Gegensatz zur geistigen Lust Epikurs). Sie kann aber auch als Spaß oder Vergnügen und nicht nur negativ als Verfallenheit aufgefasst werden.
4 Lukian, „Der Verkauf der philosophischen Schulen“ in: Werke Bd.1 S.211ff, Aufbau-Verlag 1981
Lukian1 Einführung(Nr.149), Lukian2 Kynismus(Nr.151), Lukian3 Hedonismus (Nr. 152), Lukian4 Idealismus(Nr.153).
Inhalt gesamt Nr. 91