201 Maurice Blanchot (2)
Blanchot lesen: Das Geheimnis
S o h a t t e n s i e einige Zeit großen Glücks verleben können. Von einfacherem Glück und liebevollerer Zärtlichkeit hatten sie niemals auch nur zu träumen versucht.
Mit ihm zusammen wurdest du plötzlich zu einem Wesen, über das man gefahrlos verfügen konnte. Wenn er sich deiner bemächtigte, so mit der allergrößten Freiheit. Deinen Kopf hast du ihm ganz überlassen. Bevor deine Worte ausgesprochen wurden, steckten sie schon ununterscheidbar in euren beiden Mündern, so sehr hast du ihn tun lassen, was er wollte. In der Art, wie er mit deiner ganzen Person spielte und im Fehlen eines jeden Risikos, was ihm erlaubte, einen fremden Körper so zu behandeln, als hätte er ihm gehört, lag gleichwohl eine große und unbefangene Leichtfertigkeit, die jeden anderen von uns hätte beklommen machen können.
Handeltest du deshalb so ohne Vorsicht, weil du geglaubt hast, du hättest es mit jemand Unnahbarem oder, im Gegenteil, mit einer dir allzu nahbaren Person zu tun? Je stärker du dich in dich selbst zurück zogst, desto leichter rückte er vor. Er zog dich an, und er tauchte bereits in dein Gesicht ein, als er noch dessen Umrisse zu liebkosen glaubte. Er sah in dir nur einen offenen Mund, übermütige Blicke, zögerliche Reaktionen. Und statt dass du es als unbehaglich empfunden hättest, dass ein Mann, dem du dich nicht nähern konntest, den du nicht einmal im Traum hättest zum Sprechen bringen können, gerne seinen Kopf auf deine Knie legte, hast du dich daran vergnügt.
Seine Blicke hefteten sich auf dich. War das ein schamloses oder ein verzweifeltes Spiel? Deine Worte wurden feucht, sogar schwache Bewegungen verbanden sich mit ihnen, während das Organ der großen Leidenschaften und Gefühle anschwoll, größer wurde, welchem du vielleicht günstigenfalls eine ungewöhnliche Fähigkeit zum gefahrlosen Mitmachen zuzuschreiben bereit warst.
Aber nicht mehr.
Sein Benehmen war schwer zu begreifen. Jeden Augenblick ließ sich zwischen euren mit zarten Banden so innig ineinander verschlungenen Körpern eine Berührung voraus ahnen, die die Schwäche eurer Bindung entsetzlich zur Schau stellen würde. Ja selbst einen Bruch, ein Ende würde sie hervorrufen können. Denn innerlich wie äußerlich bestandet ihr beide nur aus Wunden, die vernarben wollten, aus Fleisch, zum Zusammenwachsen vielleicht vernäht. Ihr wusstet es. Doch trotz solcher Veränderungen und Gefahren spieltet und lachtet ihr beide miteinander weiterhin, wie wenn nichts wäre oder eine wirkliche Liebe von euch Besitz ergriffen hätte, die es nicht hat geben können.
Als er dir schließlich die Hand entgegen streckte, sagte er: Was bist du eigentlich? Wer bist du? Wer könntest du sein? – Ich empfinde Zärtlichkeit, nicht nur für dich, sondern auch für deine Leidenschaften. Ich liebe sie, indem ich die Gefühle liebe, um derentwillen man dich lieben könnte. Ich möchte dich sehen, wenn du alleine bist.
Wenn ich jemals alleine sein und ganz vor dir stehen könnte, hast du geantwortet, indem ich mich auch ganz von dir entfernen würde, dann hätte ich eine Chance, zu dir zu kommen. Oder vielmehr weiß ich genau, dass dann gerade ich nicht zu dir kommen könnte. Die einzige mir verbleibende Möglichkeit, die Distanz zwischen uns zu verringern, wäre, mich unendlich weit zu entfernen. Ich bin aber schon unendlich weit entfernt von dir und kann mich nicht noch weiter weg von dir entfernen. Sobald ich dich berühre, wenn ich alleine bin…
W i e d e r e i n m a l musste alles neu begonnen werden. Die Enttäuschung, dass er die gewünschte Erklärung nicht bekommen hatte, ließ ihn jedoch gleichgültig bleiben. Er konnte nicht mehr erwarten, du würdest ihm enthüllen, was für eine Art Geheimnis es war und das für ihn vielleicht gar nichts mit einem Geheimnis zu tun hatte. Andererseits klammertest du dich an dem Gedanken fest, was du über das Geheimnis sagen könntest, werde trotz allem bestehen bleiben, und du wolltest unbedingt kund tun, du würdest trotz der offenbar ungeheuer trennenden Distanz mit äußerster Kraft auf einen näheren Kontakt zwischen euch beiden drängen.
Denn mochte auch etwas Schamloses, etwas Spielerisch-Leichtfertiges darin liegen, wie ihr euch begegnetet und verständigt habt, so lag doch auch eine große Versuchung in deinem Bemühen um die Aussage, was er tun würde mit diesem deinem Geheimnis, und er tue es doch ganz bewusst und ganz bewusst nicht. Aber war auch nur anzunehmen, du könntest das in deiner ganzen Einfachheit und Begrenztheit selber ausführen? Sprechen, doch, er konnte zu sprechen anfangen in demselben Gefühl von Unsicherheit dir gegenüber, von Schuld und Scham wie ein Freund, der einen Freund verrät, nicht aussagt, was er weiß, sondern der gesteht, dass er nicht weiß. Denn er hatte kein Mittel irgend etwas zu sagen, was wahr oder auch nur anscheinend wahr gewesen wäre über dieses Geheimnis.
Mitunter wurdest du aber auch durch das, was er sagte, ohne dass du auch nur eine Spur der Wahrheit gezeigt, ohne dass du auch nur die geringste Aufklärung über das Geheimnis vermittelt hättest, ebenso stark in Ketten geworfen, ja vielleicht in noch stärkere Ketten von Unfreiheit und Zwang, als wenn du den Kern deines Geheimnisses bloß gelegt hättest. Als er erkannt hatte, dass das mühsame Forschen und Suchen und Erklären mit dir weiter gehen, auch vergeblich weiter gehen und nie an ein Ende gelangen würde, diese beidseitigen Demaskierungen, Entlarvungen und Unterstellungen, da wusste er, dass er mit dir nicht mehr mittels Worten und Gedanken sprechen können würde, sondern nur noch mittels der vergehenden Zeit selbst, mit der er sich jetzt enger als je zuvor verband.
Und es griff auch jeder Seufzer – und das war er, immer nur er – geräuschlos in sein ganzes Leben ein, das er dir entgegen zu setzen suchte. In jedem seiner Argumente, die noch geheimnisvoller waren als seine Existenz, fühlte er die Anwesenheit eines Gegners, ohne den er, für immer reglos, aus Zukunft und Zeit doch hätte ausbrechen können.
So argumentierte er gegen das ihm widersprechende Absolute im Herzen von ihm selbst und von dir, diesem Fremden und unnahbar Anderen.
Er dachte schließlich, mit dem Anzweifeln dieser Gedanken über das Geheimnis auf den Grund der Gedanken und des Geheimnisses zu kommen, nämlich in seinem vollkommenen Gegner das Geheimnis lösen, verstehen, es erkennen zu können. Dieser Gegner, ich sagte es bereits, war die vergehende Zeit, und als er sie geheimnisvoll in sich aufnehmen wollte, kam er zum ersten Mal in ein ernsthaftes Gespräch mit dir. Ein Gespräch, das nicht mehr Körper oder Seele ansprechen und zum Ziele hatte, sondern nur noch die einfache und nackte Existenz einer einzigen Frage untersuchte, die unentwegt um dieses Geheimnis einer vergangenen wie zukünftigen Zeit kreiste. Diese Frage könntest nur du stellen und beantworten, sagte er, eine Frage, die immer nur um das Geheimnis von dir und ihm kreiste.
Nur unter einer solchen Bedingung, dass du die Frage stellst und beantwortest, war er bereit, in die unbestimmte Form der Existenz von dir, seinem Gegner, einzudringen und auch ohne deine Zustimmung das Geheimnis dennoch zu ergründen. Auch wenn ihm alles trostlos, leer und fragwürdig vorkam. Ich sehe vor mir verlassene Ufer, zusammen gebrochene Gestade, zwei nach einem grandiosen Schiffbruch hoffnungslos Suchende, zurück gelassen von dem sich endgültig und immer mehr zurück ziehenden Meer…
B e i d e s c h w a m m e n weiter, weiter in diesem Meer eines großen Geheimnisses, worin es kein Wasser, kein Wind, keine Fische und auch keine Schiffe gab. Auch kein Ziel, keine Hoffnung, keine Zeit und Zukunft.
Sie schwammen weiter dahin, wie wenn nichts gewesen wäre. Als wenn es kein Geheimnis geben könnte, kein Wasser, kein Wind, kein Meer.
Sogar die große Sehnsucht nach Liebe, ihre Sehnsucht nach Begegnung, Berührung und Kontakt war ihnen abhanden gekommen und dann auch schließlich vollkommen verschwunden.
Ich empfinde Zärtlichkeit, hatte er zu dir gesagt, Zärtlichkeit nicht nur für dich, sondern auch für dein Geheimnis. Ich liebe es, indem ich seine Gefühle liebe, um derentwillen ich dich immer noch lieben könnte.
*
Dies ist mein zweiter Versuch mit einem Text, den ich aus Blanchots schon 1941 geschriebener Erzählung “Thomas der Dunkle” entnommen, ihn bearbeitet, “verständlicher” zu machen versucht, verändert und auf ein Ziel hin konzipiert habe, um einen Eindruck zu geben von einer Sprache, die es dergestalt im deutschen Sprachraum nicht gibt. Während ihre Intellektualität und Komplexität auch im Satzbau in Frankreich scheinbar Vorbild-Charakter besitzt sogar für die Sprache der Presse. In Frankreich müssen auch Staatsmänner immer noch Literaten sein. Was jedoch nicht bedeutet, dass die Politik dadurch besser würde.
Ähnlich wortstark und komplex umkreist dieses große Unbekannte auch schon vierzig Jahre früher der amerikanische Schriftsteller Henry James in seiner Erzählung “Das Raubtier im Dschungel“. Wir leben im Dschungel. Das Raubtier verhindert immer wieder, dass es zu einer Lösung des Geheimnisses kommen kann. Es wacht darüber, dass wir nicht zu viel erfahren dürfen über Liebe und Glück im Olymp.