202 Henry James
Henry James lesen: Begegnung
Zum hundertsten Geburtstag des großen englischen Schriftstellers (er steht zeitgleich und in einer gleichwertigen Reihe mit Thomas Mann, James Joyce und Marcel Proust) drucke ich hier den Schluss seiner Erzählung „Das Raubtier im Dschungel“ in meiner Bearbeitung ab. Auch jetzt habe ich “der besseren Lesbarkeit wegen” stilistisch einiges im Text geändert, insbesondere die Erzählperspektive.
“Es ist besser, die Kunst zu verfeinern als eine Leidenschaft“(Henry James)
K e h r e z u r ü c k in deine eigene Gegenwart! Das wird deine Schritte beschleunigen und deiner Seele jeden weiteren Aufschub verwehren. Kehre zurück zu dem Teil deiner selbst, von dem du so lange getrennt gewesen bist und auf den du jetzt großen Wert legst. Was auch geschehen ist – es ist geschehen. Du wirst einen Boden finden, auf dem du sehr beweglich leben können wirst. Du wirst, der du dir selber nirgends mehr etwas für irgend jemanden überhaupt bedeutet hast, nicht einmal mehr für dich selber, hier wirst du dir unumschränkt jetzt alles bedeuten können. Es gibt die Tatsachen der Vergangenheit, es gibt eine Wahrheit über dein Leben, von wo der Pfad zurückführt, auf dem du dich verlieren konntest.
Wandern durch die alten Zeiten, die Hand im Arm deiner Geliebten, die auf unfassliche Weise dein zweites, dein jüngeres Ich war. Und, noch unfasslicher – wandern ohne Anfang, ohne Ende, ringsum nur ein Drittes. Die Geliebte wandert nicht mit, sondern sie verweilt regungslos. Ihre Augen begleiten dich auf deiner Kreisbewegung, werden nicht müde, dir zu folgen, und der Ort, an dem sie ruhen, ist gleichsam deine Richtung.
So, mit einem Wort, wolltest du leben. Dich ganz dem Bewusstsein nähern, dass du einst gelebt hast, dass du einst hast leben können und nicht mehr nur auf dieses Bewusstsein angewiesen bist als ein Beistand, sondern sogar als die Bestätigung deiner eigenen Existenz.
D a s J a h r v e r g i n g. Gewiss hättest du auf dieselbe Art auch noch weiter leben können, wäre nicht von ungefähr etwas eingetreten – oberflächlich betrachtet eine Begebenheit von geringer Bedeutung –, das etwas ganz anderes war und dich mit einer überwältigenderen Wucht bewegte als alle deine Eindrücke je zuvor. Es war das Werk eines bloßen Zufalls, der Flügelschlag eines Schmetterlings – aber du wirst fortan in dem Glauben leben, dass dir die Klarheit, wenn sie nicht in dieser einen Gestalt gekommen wäre, in einer anderen doch auch hätte kommen müssen. Du magst in diesem Glauben leben, sage ich, obwohl du, wie ich genauso bestimmt erwähnen darf, nicht mehr sehr viel anders hast leben können. Und um dir zum Schluss alle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gewähren wir dir jedenfalls die Wohltat der Überzeugung, dass sich das, was nun geschehen oder nicht geschehen sein mag, auch von selbst zur Klarheit durchgerungen hätte.
E i n k l e i n e r Z w i s c h e n f a l l hatte den Zünder an die Zünd-Ladung gebracht, die dein Elend immer schon zusammen getragen hatte. In der Helligkeit vor dir erkennst du, dass selbst in jüngster Zeit dein Leid nur nieder gehalten worden war. Es war seltsam betäubt, aber es pochte leise angerührt in dir und es begann zu bluten. Ein Gesicht schaute in dein eigenes Gesicht, mit einem Ausdruck so schneidend wie der Schnitt einer Klinge. Du fühltest innen, ganz tief innen, dass du vor seinem heftigen Ansturm zurück weichen musst. Den Menschen, der auf eine solche Weise stumm in dich eingedrungen ist, hattest du schon bemerkt, wie er in sich versunken dastand, ein kleines Stück nur von dir entfernt.
Und nun geschah es, dass dieses Gesicht dich traf. Für einen kurzen Augenblick standet ihr beide euch unmittelbar gegenüber. Du hast diesen Menschen sofort erkannt als einen bis ins Herz getroffenen, und von der Schärfe deiner Wahrnehmung sprach nichts sonst in dem Bildnis, nicht Kleidung noch Alter, nicht der mutmaßliche Charakter noch der Stand des Mannes; nichts sprach aus ihm als die tiefe Zerrissenheit in den Zügen, die er erkennen ließ. Er ließ sie erkennen – das war es. Während er vorüber ging, trieb ihn eine Regung, die entweder ein Anruf um Mitgefühl oder, wahrscheinlicher, eine Herausforderung an einen andersartigen Kummer war. Vielleicht hattest du ihn schon eher bemerkt, vielleicht hatte er zu einer früheren Stunde bereits in dir die milde Gewöhnung an den Ort eurer Begegnung wahrgenommen, die mit deinem eigenen Empfinden so spärlich zusammen stimmte; vielleicht war er davon aufgereizt wie von einem offenen Misston.
A u f j e d e n F a l l wurde dir zuerst eines bewusst. Auf diesem Bildnis verwundeter Leidenschaft vor deinen Augen wurde dir etwas bewusst – dass nämlich die Luft entweiht war. Und sodann, dass du, erwacht, aufgerüttelt, abgestoßen, doch im nächsten Augenblick, als der andere davon ging, ihn mit Neid hast betrachten müssen. Das Außerordentliche, das dir hier geschehen war – obwohl du andere Dinge ebenfalls so bezeichnet hattest, – begegnete dir als eine Folge dieses Eindrucks, nachdem du jenem aus nächster Nähe unklar fassend nachstarrtest. Der Unbekannte ging davon, aber der nackte, wild durchbohrende Blick seines Kummers blieb und ließ dich mitleidsvoll fragen, was für ein Vergehen, was für ein Unrecht sich darin ausgedrückt hat, was für eine unheilbare Wunde. Was hatte der Mann besessen, dass sein Verlust ihn so bluten und doch weiterleben ließ?
Etwas, und das durchbohrte dich in jäher Qual, das du nicht besessen hast. Keine Leidenschaft hat dich je angerührt, denn dies hier war, was Leidenschaft bedeutet. Er hatte überlebt und gewehklagt und geschmachtet – wo aber war deine tiefe Zerrissenheit gewesen? Das Außerordentliche, von dem ich spreche, war der Sturm, in dem die Lösung dieser Frage über dich kam. Der Anblick soeben von diesen Augen zeichnet dir wie in lodernder Flammen-Schrift etwas auf, das du bis zum Äußersten, das du sinnlos verfehlt hattest. Und was er verfehlt hatte, glühte in ihm wie ein Feuerbrand, dass es ihn schmerzte mit herzklopfender Pein. Du hast nur außerhalb deines Lebens erfahren, gesehen, nicht im eigenen Innern erfahren, was Trauer bedeutet, wenn man wahrhaft liebt. Das überwältigt dich mit aller Gewalt einer Gewissheit, das ist es, was das Gesicht des Fremden aussagte, das dich noch geblendet hat wie eine rauchende Fackel.
Dieses Wissen um Liebe, Leidenschaft und Trauer, es war dir nicht auf den Flügeln eines starken Erlebens gekommen, es hat dich nur kurz gestreift, dich angestoßen, umgestürzt, unehrerbietig und respektlos wie das Schicksal, dreist wie der Zufall. Nun jedoch, da die durchdringende Erhellung begonnen hat, flammt es mittaghell auf, und du stehst da und schaust in die durchleuchtete Leere deines eigenen Lebens.
Du schaust, du schöpfst Luft, in Schmerzen. Du wendest dich um in deiner Not, und wie du dich um wendest, erblickst du schärfer gemeißelt als je zuvor das offene Buch deiner Geschichte. Und plötzlich wird dir klar: Das war es, das du verfehlt hast. Dies war der grässliche Gedanke, die Antwort auf alle Vergangenheit, der Blick in die grauenhafte Klarheit, wovor du jetzt kalt erstarrst wie ein Stein. Alles stürzt zusammen, öffnet sich, erklärt, vernichtet und lässt dich mehr als alles sonst verblüfft über die Blindheit, die dir lieb gewesen war, allein zurück.
D e m L o s , für das du ausersehen, bist du redlich gerecht geworden – du hast den Kelch bis zur Neige geleehrt; du warst der Mann deiner Zeit gewesen, der Mann; der, dem nichts auf Erden geschehen darf. Das war dein Schicksal ohnegleichen – das war deine Heimsuchung. So hast du es gesehen, in bleichem Schrecken, und ein Stück fügt sich jetzt ins andere.
Du erkennst die Wahrheit, die lebendige und ungeheuerliche, dass in all der Zeit, da du gewartet hast, das Warten selbst dein Teil gewesen ist. Die Geliebte deines Wartens hat das in einem bestimmten, unvergesslichen Augenblick begriffen, und sie hatte dir die Möglichkeit gezeigt dein Verhängnis abzuwenden. Dein Verhängnis aber kann niemand wenden, und an dem Tag, an dem deine Geliebte es dir sagte, dass dein Verhängnis schon über dich gekommen sei, hat sie dich nur dumpf verständnislos auf den Fluchtweg starren sehn, den sie dir gewiesen hatte.
Der Fluchtweg wäre gewesen zu lieben; dann, dann hättest du gelebt. Du hast nicht gelebt, du warst tot. Sie hat geliebt – wer kann heute sagen, mit welcher Leidenschaft? -, denn sie hat dich um deinetwillen geliebt. Du dagegen hast nie anders an sie gedacht als in der Eiseskälte deiner Ichsucht und im Licht ihrer Nützlichkeit. Die Worte, die sie gesprochen, kehren jetzt zurück – die Kette dehnt, dehnt sich. Ja, das Raubtier hat geduckt da gelegen und dir aufgelauert. Und zu seiner Stunde ist es aufgeschnellt. Das Raubtier ist gesprungen an einem kalten Tag, als die Geliebte blass, krank, verfallen und doch sehr schön und vielleicht auch damals noch zu heilen von ihrem Sessel aufgestanden ist, um vor dir zu stehen und dich das Naheliegende erraten zu lassen. Das Raubtier ist aufgesprungen, da du es nicht erraten hast. Es ist gesprungen, da sie hoffnungslos vor dir gestanden ist und sich von dir abgewandt hat, als du sie dann verlassen hast.
Du hast versagt, mit letzter Genauigkeit, in allem, worin du versagen kannst, und ein Stöhnen steigt jetzt zu deinen Lippen auf, als du dich erinnerst, wie sie dich angefleht hat, weil du nichts wissen wolltest. Der Schrecken des Erwachens – du warst Wissen, Wissen, unter dessen Anhauch selbst die Tränen jetzt in deinen Augen zu gefrieren scheinen. Dennoch versuchst du, es durch die Tränen hindurch jetzt anzuschauen, es zu halten, die Pein auszukosten bis zum Ende. Das wenigstens, verspätet und bitter, hat etwas mit dem Geschmack von Leben und Liebe zu tun.
Henry James, „Das Raubtier im Dschungel“, Erzählungen 2 (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Leipzig 1968) S.358ff