203 Über Anamnese und Technokratie
Brief an Lucilius 8
Du fragst mich, warum ich so oft zurück blicke in die Vergangenheit, die doch schon so lange zurück liege und uns nichts mehr zu sagen habe.
I
Die Entwicklungsgeschichte von Schmerzen, von Krankheiten zu betrachten ist in der medizinischen Wissenschaft alltäglich und Grundvoraussetzung zu einer Therapie, zu einer Heilung. Gleiches gilt m.E. auch für die menschliche Gesellschaft, für ihr Woher und ihr Wohin. Psychoanalytiker und Anthropologen betonen immer wieder die Wichtigkeit unserer seelischen Entwicklung, die Wichtigkeit positiver wie negativer emotionaler Erfahrungen in unserer Lebensgeschichte. Dass außerdem das anamnetische Suchen und Forschen in der Vergangenheit erst uns fit mache für Gegenwart wie Zukunft.
Gleiches gilt m.E. für die Entwicklung einer Gesellschaft, einer Kultur.
Du beklagst dich also, dass ich zu sehr in der Vergangenheit forsche.
Und was machst du? Permanent bist du in der Vergangenheit deiner Kindheit, deiner Jugend. Suchst nach Erinnerungen, Wiederholungen, die dein jetziges Leben prägen bis auf den heutigen Tag. Selbst frühkindliche oder sogar vorkindliche Erinnerungen und Erfahrungen mögen tatsächlich unsere Seele bestimmen bis in die Gegenwart hinein. Das ist zumindest zum Teil die Theorie von Freud.
Wenn ich in die Vergangenheit, vor allen in die römische Vergangenheit zurück gehe, dann aus eben diesem gleichen Grund: Dass auch unsere Kultur von Erfahrungen, Erinnerungen, Erlebnissen aus der Vorzeit bestimmt wird bis in die Gegenwart hinein; dass Politiker Fehler wiederholen, dass sich Entwicklungen, Zusammenbrüche wiederholen; dass also vieles schon einmal da gewesen ist und auch unsere Gegenwart, unsere soziale Gegenwart steuert.
Drei zentrale Probleme entdecke ich in der gegenwärtigen Entwicklung der Gesellschaft: 1)Desorientierung – der Zerfall von lange gültigen Wahrheiten z.B.über Demokratie, Wissenschaft, Liebe oder Religion und Gott in ihre Gegensätzlichkeiten, ich sage besser sogar Gleichwertigkeiten (Isosthenien); 2)Ökonomismus – die Triebfeder unserer gesellschaftlichen wie privaten Ziele ist nicht mehr das Suchen nach dem Wohlergehen des Einzelnen innerhalb eines großen Ganzen, sondern nur noch das Streben nach Gewinn, also Geld, und daraus abgeleitet nach Macht. Und schließlich 3)das unerbittliche Fortschreiten unserer wissenschaftlichen KI-Forschung Hand in Hand mit der politischen Entwicklung in Richtung Technokratie. Damit meine ich die Steuerung des Einzelnen wie des Ganzen durch eine allgemeine und umfassende Digitalisierung bis hin zur Herrschaft der Computer-Maschinen, die sich vielleicht sogar selbst steuern und perfektionieren werden auch ohne ihre “Programmierer”. Ansätze dazu erleben wir bereits in einem sich etwa in China ausbreitenden Überwachungsstaat, der mittels Google, Facebook & Co alles unter Kontrolle bringen will.
Viele dieser Themenbereiche haben in der Wissenschaftstheorie die universitäre Geschichtsschreibung als ihren Gegner benannt, den sie bekämpfen müssen mit allen Mitteln. Denn nur eine Betrachtung der Geschichte kann sich diesem fast schon totalitären Allmachtsanspruch widersetzen, indem Parallelen aufgezeigt werden und darüber diskutiert wird, ob wir in einem Staat, der seine Bürger weiterhin in die Freiheit entlassen will, einer solchen Entwicklung zustimmen möchten oder auch nicht.
Dogmatiker des Szientismus, ich nenne sie sogar nicht mehr Wissenschaftler (Science), sondern wähle diesen Überbegriff, gefallen sich darin, die Wahrheit der Geschichtsschreibung, die fast immer anamnetisch vorgehen muss, anzuzweifeln. Wie lassen sich geschichtliche Wahrheiten beweisen? Kann man mit Wahrheitsanspruch zeigen, warum sich Kleopatra durch Schlangenbiss umgebracht hat? Ob und wie Jesus Christus gelebt hat? Was ist in Auschwitz geschehen, wie lässt es sich beweisen?
Im Sinn der exakten, empirisch orientierten Naturwissenschaften lassen sich diese Fragen sehr zum Leidwesen der Politiker, die idealiter einen gerechten Staat bauen möchten, eher nicht endgültig und abschließend beantworten(1).
Aber darum geht es m.E. auch gar nicht. Natürlich sind viele dieser in Geschichtsbüchern aufgezeichneten Wahrheiten umstritten. Tatsachen werden verfälscht, neu erfunden, einseitig aus der Sicht der Sieger und Erfolgreichen nur betrachtet. Es gibt mittlerweile Information, bewusste Falschmeldungen und Desinformation in den Medien, in der Politik; es gibt sogar Desinformations-Kampagnen. Selbst die bewusste Lüge und der bewusst eingesetzte Vertragsbruch werden ohne Skrupel und ganz im Sinne von Macchiavelli als Waffe eingesetzt (Putin, Trump, Assad u.a.). All das sind für uns Außenstehende nur mehr oder weniger wahre “Erzählungen”, wie François Lyotard sagt, meist schriftlich oder in Filmen aufgezeichnet.
Doch das ist nicht das Wichtige. Wichtiger ist m.E., dass diese „Erzählungen“ auch im Sinne von Neu-Erfindungen oder Lügen immer wieder interpretiert, auch jeweils anders interpretiert werden können, werden müssen. Und dass man, das heißt eine Kommunikations-Gemeinschaft, bei diesem Vorgehen der Interpretation ins Gespräch kommt über ein Leben, wie es ist, sein sollte oder sein könnte. Wie ein Leben gelebt werden kann, gelebt werden soll oder sogar gelebt werden muss. Auch auf die unterschiedlichste, sogar gegensätzlichste Art und Weise, denn wir leben in einem Pluriversum der unterschiedlichsten Lebensformen. Niemand kann einem mehr vorschreiben, wie er zu leben habe.
Dieser Satz, dass sich alles wesentlich um Leben und Lebensform dreht – in der Wahrheitsfindung, in der Politik, sogar in der Kunst – ist mir sehr wichtig. Das ist der entscheidende Punkt bei der Betrachtung der Nützlichkeit von Geschichte, weniger der Beweis ihrer Wahrheit. Gott beweisen zu wollen anhand von Experimenten oder Statistiken, etwa ob Gebete erhört worden sind, ist meiner Meinung nach sinnlos, ja lächerlich. Aber über Gott zu diskutieren kann sehr sinnvoll für ein Leben sein. Zum Beispiel um Wissen und Nicht-Wissen des Menschen, auch um Möglichkeiten und Unfähigkeiten in seinem Leben zu testen.
Nicht unbedingt nur der Nachweis, dass Geschichte wahr ist, nützt. Im Gegenteil: Wie viele Irrtümer, Fehler und Unwahrheiten haben schon das menschliche Leben und unseren Lebensweg gespurt und letztlich doch auch weiter geführt. Ähnliches gilt für die Kunst – vielleicht haben eben diese Irrtümer oder sogar Fehler bezüglich einer schönen und wahren und „richtigen“ Kunst deutlich einen Fortschritt im Sinne von “Fortschreiten” bewirkt als die Nicht-Irrtümer zahlreicher Vorschriften und Regeln, die beachtet und Abschluss geprüft werden mussten.
Was hat es schon für Streitereien um die Auslegung der Bibel, um das Verstehen des Koran oder des Marxismus gegeben! Weltkriege wie die Reformation, blutige Revolutionen, “Klassenkämpfe” und Kämpfe innerhalb des Islam wie gegenwärtig – alles immer wieder Fragen zu einer “richtigen” Interpretation eines Textes, einer schriftlich fixierten Handlung. Und last but not least infolge der Offenheit und Mehrdeutigkeit all dieser Zeichen: einer Erzählung (2).
Die Festlegung auf die unbedingte Wahrheit einer Interpretation ist m.E. unmöglich. Es gibt Argumente zum Verstehen eines Textes, einer menschlichen Handlung, einer Tatsache, aber nichts mehr. Die Zustimmung zu den Argumenten, was Textinterpretation, also auch das Verstehen eines Textes oder sogar von gesprochener Sprache und Handlungen betrifft, kann einfach nicht erzwungen werden. D.h.: Eine solche Wahrheit, die nicht aus einem Experiment abgeleitet werden kann, kann nicht einfach so und per ordre de mufti indoktriniert werden. Sie muss anerkannt, eingesehen, akzeptiert werden vom Subjekt. Selbst wenn sie falsch ist.
Bereit und offen sein für die Wahrheit – was für ein schöner und doch in der Kommunikation oft so erfolgloser idealistischer Satz! Luthers “Die Wahrheit macht uns frei“, Camus “Nur noch das offene, ehrliche Wort kann uns retten“…Auch an Wahrheiten muss man letztlich glauben. Wer nicht mit einer Wahrheit oder auch Wahrheitsfindung, etwa vor Gericht, einverstanden ist, muss sich rechtfertigen, sich verteidigen. Diese Zustimmung zu einem “Sprachspiel” gilt sogar für die Sprache der Naturwissenschaft, selbst der Mathematik. Wer in der Kommunikations-Gemeinschaft der Naturwissenschaftler nicht weiß, was die Zahl 1, was ein Quark, Neutrino, die leere Menge oder das Unendlichkeitszeichen bedeuten, wird in dieser Welt, in diesem Sprachspiel, in dieser Lebensform als Analphabet nicht bestehen, nicht akzeptiert werden können.
Doch wann siehst du als ein Subjekt etwas ein? Wann bist du davon überzeugt, wann glaubst du daran? Wann oder besser gesagt warum, als Folge von welchem Geschehen, von welchen Überlegungen?
Ich denke, wenn es dir nützt. Also wäre ich bei dem pragmatischen Wahrheitsbegriff angelangt: Wahr ist das, was uns, der Forschung, der Entwicklung, sogar dem Experiment nützt. Nicht nur das, was mathematisch bewiesen werden kann. Auch mathematisch Beweisbares kann vollkommen nutzlos sein. Also kümmern wir uns nicht darum. Eine wertfreie Wissenschaft, die nicht von Interessen geleitet wird, gibt es m.E.nicht.
Und schon bin ich wieder in der Falle der Dogmatik. Ich bringe eine monokausale Begründung und versuche damit eine einzige Wahrheit festzulegen. Obwohl es immer wieder auch mehrere Wahrheiten geben kann, selbst in diesem meinem Fall jetzt. Dass neben der pragmatischen Wahrheit (die nebenbei William James, der Bruder von Henry James, sehr erfolgreich in den USA ins Leben, das heißt auch ins Wirtschaftsleben eingeführt hat) auch noch andere Wahrheiten, etwa der Logik, der Mathematik, des Gefühls, der Paradoxie stimmig und richtig und sinnvoll sein können.(3)
Wer wagt es in einem bestimmten mathematischen Kontext anzuzweifeln, dass 1+1= 2 ist? In anderen Kontexten mag und kann diese mathematische Wahrheit vollkommen unwichtig, sinnlos, ja sogar falsch und überflüssig sein. Das beweisen die Isosthenien, Gleichwertigkeiten von Wahrheiten, die sich im Laufe der Zeit und der Entwicklung des menschlichen Geistes immer wieder haben bilden können und zukünftig bilden werden. Selbst wenn es schwer fallen dürfte, die obige Gleichung infrage zu stellen, wird es doch Möglichkeiten geben, ja es gibt sie bereits, die diese Rechnung als unwahr darstellen können.
II
Wenn ich so gerne in die antike, vor allem in die römische Geschichte des ersten und zweiten Jahrhunderts n.Chr. zurück blicke – etwa mit der Frage, ob der junge Oktavian und spätere Kaiser Augustus der Geliebte Caesars in dessen Militärzeit gewesen ist, wovon ich überzeugt bin – dann mit dem Wissen, dass solche Lebensformen in der Gegenwart auch wieder angetroffen werden können. Dass alle diese Fragen, Probleme und Lösungen auch heute immer noch diskutabel sind, besprochen werden müssen: Wie einen Menschen zum Zusammenleben finden, um die Einsamkeit zu überwinden, das Alleinsein. Wie und warum eine Familie gründen, wenn man kein Geld, keine Arbeit und keine geeignete Wohnung besitzt? Welche Wichtigkeit und Bedeutung haben Pflicht, Verantwortlichkeit, Lust und Unterhaltung, hat das Begehren in unserer Gesellschaft? Wie steht es mit der Sexualität, ihrem Ziel, ist sie ausschließlich und einmalig nur auf das andere Geschlecht gerichtet und wenn bei manchen Menschen nein, warum nicht?
Wie steht es mit Hilfe und Solidarität, mit der Liebe im Sinne einer gegenseitigen Unterstützung, wie sie die christlich-platonische Agape verstanden hat? Wie ging man im römischen Reich, das noch weitaus größer war als die heutige EU, mit dem Fremden, den Einwanderern, den Migranten um? – Gewiss, Griechen waren als ein hoch gebildetes Volk anerkannt und als Lehrer wie Intellektuelle in Rom willkommen. Aber schon bei dem immer misanthropischen Juvenal gibt es wütende und fremdenfeindliche Attacken, vor allem gegen die Ägypter. Wie hat es der römische Staat geschafft, ein so großes und heterogenes Weltreich zusammen zu halten? Durch die Macht der Gesetze, die “fließen soll wie Wasser” oder durch die Gewalt des Militärs? Auch darauf gibt es in der Geschichts-Forschung Antworten, die beachtens- und diskussionswürdig sein können für unsere gegenwärtige Situation.
Oder auch: Wie nützlich und notwendig ist heute noch Religion, unsere christliche Tradition? Sind diese Ideen, diese Ideale veraltet? Gibt es einen Sinn, die islamische Scharia wieder in die Gegenwart aufzunehmen? Warum ist der Buddhismus so beliebt, haben Ablenkung, Mode und Stars einen so überaus großen Stellenwert in der Jugend? Wie steht es mit Frauen, ihrer Lebensform, ihren Bedürfnissen und Rechten in dieser unserer immer noch Männerwelt? Kann es eine weiblich geprägte Wissenschaft geben? Warum ist das starke Geschlecht in der Liebesfähigkeit so schwach? Wird es wieder einen Amazonen-Staat geben können, geben müssen als Folge eines forcierten Feminismus? Sind Frauen so ganz anders als Männer? Kann man(n) daraus einen anderen Umgang, andere Zielsetzungen, eine andere Kommunikationsform, Kommunikationsfähigkeit ableiten? Und dergleichen mehr.
Du siehst also, Lucilius, genug Stoff, Fragen, Antworten, die sich aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit ergeben. Zu wenig wäre es m.E., sich dabei nur auf die immer wieder zu verstehende, also auch zu interpretierende Wahrheit des Experiments, der Statistik, der Prognose zu beschränken. Mit wieviel Prozent Wahrscheinlichkeit stimmen alle diese Wahrheiten, sind sie richtig, sind sie kompatibel mit wer weiß was? Vor allem, wenn es um ökonomische oder politische Fragen geht? Was geschieht mit der Jugend gegenwärtig? Der Einfluss der öffentlichen Presse-Filter im positiven Sinne von Selbst-Zensur oder auch der allgemeinen Bildung und Erziehung schwindet rapide. Stattdessen tauchen im Internet Tausende von Wahrheiten auf, die nur eine “greuliche Verwüstung im Kopf” zurück lassen (Lukian) einschließlich dem Glauben an Handlungsanweisungen, welche direkt in den Tod führen.
III
Das gegenwärtig von manchen Forschern und der Industrie so heftig angestrebte Ziel der Digitalisierung aller Verhaltensweisen, aller Handlungen des Menschen einschließlich seinem Gehirn macht diesen zu einem Objekt, schließlich zu einem Spielball von Maschinen. Letztlich auch von Maschinen-Menschen, die selbst schon zum Opfer der eigenen Erfindungen geworden sind oder dazu werden müssen. Denn die gegenwärtig in der Entwicklung befindlichen Maschinen verstehen nur eine einzige Sprache: die der Zahlen 0 und 1. Womit wir wieder beim Thema Technokratie: in der Zukunft und bei meiner Sorge um die zukünftige Gestaltung einer Gesellschaft angelangt wären. Ich wiederhole mich.
Du siehst also – das Nachdenken über die Vergangenheit kann sehr schnell in die Zukunft führen. Wie soll ein Leben gelebt, menschlich gelebt werden? – Was heißt gegenwärtig „menschlich“? Wir sind nicht mehr im Zeitalter Senecas, wo die Sklaven allmählich und unter dem Einfluss des Christentums auch als Menschen akzeptiert werden mussten, während sie früher immer nur Dinge, Objekte in der Hand ihrer Besitzer waren mit allen Konsequenzen. Caesar hat seinen Lieblings-(Sex)-Sklaven aus Eifersucht kurzerhand hinrichten lassen. Es gab wegen dieser „Unmenschlichkeit“ im Senat sogar eine politische Auseinandersetzung. In welche Hände werden und haben wir uns begeben, wessen „Ding“ sind wir, werden wir sein, wenn unser genetischer Code digitalisiert ist, unser Denken und Leben und Arbeiten bis ins Letzte durchleuchtet und steuerbar gemacht sein wird, ohne dass wir davon wissen?
Wann ist der Mensch ein Mensch?
Fragen nach der Menschlichkeit unseres Verhaltens sind immer wieder in unserer Geistes-und Kulturgeschichte thematisiert worden. Nicht jedoch nach dem Mensch-Sein wurde gefragt. Wann ist man ein Mensch und keine Maschine? Die Abgrenzung zum Tier ist lange genug diskutiert worden. Wir sind Menschen, sagt die Philosophiegeschichte, weil wir denken, zweifeln, arbeiten können. Und nicht zuletzt fühlen wir wie die Tiere auch. Ich liebe, ich leide, ich hasse.
Aber was wird der Mensch sein in Abgrenzung zu einer zukünftig perfekten und sich selbst steuernden Maschine im Sinne etwa der IT-Industrie, der Informatiker und Kybernetiker? Zumal diese “Entwickler” (ich sage nicht mehr “Forscher”) vielleicht sogar aus ganz anderen und fremden Kulturkreisen stammen, ihre Vorstellungen von Moral und Verantwortung nicht kompatibel sind mit unseren abendländischen Traditionen und Visionen?(4) Wenn das geschichtliche Denken ganz ausgestorben sein wird, weil auch das Lesen alter Sprachen, die Übersetzungskunst, mein Schreiben wie jetzt auch ausgestorben sein werden?
Lebe in der Gegenwart, achte nur achtsam auf dein Hier und Jetzt, sagen die Buddhisten (ich übertreibe). Kommuniziere nur noch mit reduzierter Sprache, vielleicht sogar mit reduzierten Gefühlen?, empfehlen die neuen Vereinfacher, die alles so leicht und locker und lebensfroh machen wollen. Vermeide Abstraktionen – mind fucking nennen das sogar manche Gestalttherapeuten und andere Körper-Psychologen der Gegenwart, die das Fühlen für wichtiger als das Denken halten.
Was ist denn nun die Wahrheit? – Genau. Das Darüber-Sprechen ist die Wahrheit, der Austausch von Worten und Gefühlen. Denn das Leben will leben und es will Sterben verhindern, auch wenn sich der Todestrieb, freudianisch gesprochen, doch immer wieder meldet und durchsetzen wird. Im Einzelwesen wie im gesamten System einer Gesellschaft. Krieg und Untergang stehen bei manchen Menschen und Kulturen bereits wieder vor der Tür.
Aber ist das Denken und Diskutieren und Sprechen nicht entschieden zu wenig, wenn es um die Zukunft einer Gesellschaft, eines Staates geht, wirst du fragen wollen? – Ja, es ist zu wenig.
Doch wie können dann Theorie und Praxis zusammen gehen? Reicht es, so viele Sätze mit Fragezeichen aneinander zu reihen? – Nein, es reicht nicht.
1 Diese heftige und fundamentale Auseinandersetzung zwischen der Frankfurter Schule (Habermas/Apel) und der angloamerikanischen sprachanalytischen Philosophie (Szientismus), weltweit geführt (auch der Marxismus als herrschende östliche Staatsdoktrin meldete sich in diesem “Dekadenz-Streit der westlichen Philosophie” zu Wort), hat sich in den 60er-70er Jahren die “Verstehen-und Erklären-Debatte” genannt. Während die Geisteswissenschaften eher “verstehen” im Sinne der Hermeneutik, um zu ihren Wahrheiten zu gelangen (dazu gehört auch das Einfühlen, die Empathie, die Interpretation, Textdeutung, die Kunst), geht die Naturwissenschaft vom empirischen “Erklären” aus, das mittels Experiment, Black-Box-Untersuchung, Statistik etc. Wahrheiten gewinnt. Manche sagen auch bösartig: Wahrheiten erfindet.
Beide Lager haben sich gegenseitig in dieser Angelegenheit Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Bis hin zu der Forderung, geisteswissenschaftliche Fächer, selbst die Philosophie (“Begriffsdichtung“) aus den Universitäten zu entfernen. Apels Versuch einer Vermittlung blieb eine Ausnahme, wonach beide Wissenschaftsarten als sich gegenseitig komplementär bedingend und nützend von diesem Philosophen und Heidegger-Schüler dargestellt worden sind.
2 Wenn Geschichtsschreibung keine Wissenschaft ist, die Wahrheit vermitteln kann, dann ist auch das ganze östliche Staatenimperium des Marxismus/Kommunismus hinfällig und gescheitert, sagten die analytischen Philosophen insbesondere in den USA. Also steckten sogar hinter einer so scheinbar weltfremden Auseinandersetzung handfeste politische Interessen. Vergleichbar auch dem Universalien-Streit im Mittelalter, wo es schließlich eines abstrakten philosophischen Problems wegen (ob Allgemeinbegriffe wahr sein können) zu heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst gekommen ist.
3 Eine Wahrheit im Gefühlsleben kann zum Beispiel sein, dass es dort Widersprüche gibt, die kommensurabel, die auszuhalten sind. Etwa dass man gleizeitig lieben und hassen kann.
4 Der Freiburger Hirnforscher und Smartphone-Kritiker Joachim Bauer ist auf einem internationalen Kongress in Japan wegen eben solch typisch “abendländischer” Bedenken fast ausgepfiffen worden von seinen Wissenschafts-Kollegen. Sein Denken bedeute eine unakzeptable Hemmung des “Fortschritts”, meinten nicht nur chinesische Forscher.