205 Kommentare zu Nr.204
Da die Diskussion um die Wahrheit von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften so eminent wichtig ist und unterschwellig immer noch die aktuellen philosophischen Diskurse bestimmt, es sei denn, man hat sich ganz in die Fachidiotie verloren, drucke ich an dieser Stelle einige Kommentare vom 14.3. zum Artikel aus der Neuen Zürcher Zeitung ab (s.auch Blog Nr.203).
Insbesondere der Streit zwischen Szientisten und Ethikern um moralische Urteile – inwieweit kann man auch die Moral naturwissenschaftlich fundierter Argumentation zugänglich machen (digitalisieren?) und als allgemein verpflichtend erklären – habe ich noch kaum thematisiert in meinem Blog. Obwohl dieser Streit direkt jeden von uns betrifft: Wie soll man ein Leben leben – gut, gerecht, verantwortungsvoll, moralischen Grundsätzen verpflichtet oder rein egoistisch-animalisch und frei von jeglicher (Selbst-)Beschränkung oder Mitverantwortung?
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Met Karakaya
Kurz gesprochen, da bewegt sich die moderne Geisteswissenschaft in ihrem Elfenbeinturm und weiss am Ende vor lauter Halbwissen nicht, was sie von sich gibt. Auch die Naturwissenschaftler sind kein deut besser, da sie oftmals vergessen, dass ihre Theorien eben nur Theorien sind, die sich innerhalb bestimmter Praemissen zwar bewahrheiten, aber die Realitaet laesst sich eben nicht eingrenzen wie in der Theorie. Und überhaupt ist die Sprache nur ein Kaefig für Gedanken und diese wiederum nur ein Kaefig für Gefuehle, also die materielle Welt ist nur die Spitze des Eisberges, welche eigentlich immateriell ist und wir suchen im Resultat nach der Ursache.
Philipp Kaufmann
Im Unterschied zu den Geisteswissenschaften kann man eine Wissenschaft der Natur ohne diese nicht betreiben.
Christopher Derandere
Kommt schon wieder in Mode, das mit dem interdisziplinären Arbeiten, man denke z.B. an das Open Mind Project rund um Herrn Metzinger, es gibt also auch ganz sinnvolle Schnittstellen. Ist halt nun einmal etwas viel Arbeit, wenn man gleich alles verstehen will und man muss ja auch nicht unbedingt mit einer HF-Berechnung versuchen, das Wahlergebnis vom Super Tuesday zu erklären, was allerdings wissenschaftliches Arbeiten nicht ausschliesst.
Christopher Derselbe
“Das umgekehrte Phänomen – aggressiv «szientistisches» Denken in den Naturwissenschaften – sei heute sogar häufiger anzutreffen. Darunter versteht Pigliucci zum Beispiel die seiner Ansicht nach irrige Behauptung, anhand naturwissenschaftlicher Argumente liessen sich Antworten auf moralische Fragen geben.” Man ersetze «szientistisches» durch: wissenschaftliches. Was ist dann noch verwerflich? Nichts. Pigliucci glaubt wohl noch an Offenbarungen. Natürlich kann die Naturwissenschaft die Moral erklären!
Julian Bäcker / Christopher Derandere
Erweitern Sie meinen Horizont. Wann und wo konnte eine (oder mehrere) naturwissenschaftliche Disziplinen die moralische Urteilsfindung erklären?
Christopher Derselbe / Julian Bäcker
Sehr gerne. Erstens: Den grossen Fortschritten der Naturwissenschaft nach Kopernikus hat man es zu verdanken, dass Hexenprozesse und Inquisition ausser Mode gerieten. Auch Menschenopfer oder schlechte Medizin wurden zusammen mit der Metaphysik überwunden: Wenn man nicht an Offenbarungen aus dem luftleeren Raum glaubt, tötet man nicht, um Götter zu besänftigen. Das ist durchaus moralisch. Und auch gute Medizin, die wirksam heilt, ist durchaus moralisch. Vielleicht halten Sie es weniger mit der religiösen Moral und mehr mit Kant. Aber auch dann darf ich darauf hinweisen, dass Kant fröhlich Rassentheorien verfasste und die Todesstrafe befürwortete – was bei konsequentialistischen, empirisch denkenden Philosophen der Aufklärung (Helvetius, Beccaria, Bentham, …) anders war. Zweitens: Die Naturwissenschaften können unsere Grobdefinitionen von “Gut” und “Schlecht” verfeinern und etwa im Sterbenszeitpunkt erklären, ob und inwieweit Menschen leiden. Drittens: Dass wir leben wollen und wie wir leben wollen, ist Ausfluss unserer Biologie und aller Umstände. Das lässt sich, wenngleich mit grossem Aufwand, umfassend empirisch erforschen. Die Moral ist Ausfluss unserer natürlichen Lust am Leben. Gegenfrage: Wann hat eine auf blosse Offenbarungen gestützte anti-empirische Moral jemals mehr erreicht als blosse moralische Zufallstreffer?
Ire Kamera / Christopher Derselbe
Das klingt ja alles sehr nett und historisch-linear besser werdend, vom dunklen Mittelalter zur erleuchtenden Aufklaerung… wie erklaeren Sie dann aber den moralischen Bruch, der im 20.Jhdt. wohl alle menschlichen Grausamkeiten der Inquisition noch bei weitem in den Schatten stellte? ‘Grobdefinitionen von “Gut” und “Schlecht” verfeinern’ greift bei so etwas wie dem Nazismus eher schlecht… verstaendlicher werden da eher Ettiketierungen wie Apokalypse und Herrschaft des absolut Boesen… oder nicht
Christopher Derselbe / Ire Kadera Im
Im Stalinismus und Nazismus liebte man Absolutismen. Sie waren eben das letzte Symptom des binären Denkens. Gut, Böse. Wir, die Anderen. Beide wähnten sich als Kämpfer für ein irgendwie geartetes fern liegendes Gute. Dass der Stalinismus Religionen verfolgte, lag daran, dass er selbst eine war und ist. Wie ich mir den “Bruch” erkläre? Nicht als Bruch. Die von mir erwähnten agnostisch-atheistischen französischen Aufklärer hatten leider nicht den stärksten Einfluss. Stattdessen liess sich Robespierre und Kant von Rousseau inspirieren, Fichte und Hegel von Kant, Marx von Hegel, Stalin von Marx und die Nazis unter anderem von Fichte. Nein, da gibt es keine Brüche: Das absolute Übel, das Sie gerne ettikettieren dürfen, ist Produkt des totalitären, kategorischen Denkens, das bereits die Monotheismen pflegten und Kant und Co. weiterführten. Dass es nicht früher zu solchen Totalzerstörungen kam, liegt lediglich daran, dass die Mittel fehlten. Linear ist meine Argumentation vielleicht. Ob alles besser wird, weiss ich nicht. Zu krampfhaft krallen sich die alten Absolutisten an ihren alten absoluten Wahrheiten fest.