22 Platons “Phaidros”
Über Liebe und Lust
Platons Dialog “Phaidros” ist ein eigenartig heterogenes Kunstwerk. Einmal geht es um Wahrheit, auch um die Ungültigkeit von Isosthenien. In diesem Fall um die provokativ in einer Rede von Lysias vorgetragene und begründete Behauptung, nur einem Nicht-Verliebten dürfe man sich sexuell hingeben: “Ich hoffe, nicht darum das Ziel meiner Bitte zu verfehlen, weil ich nicht in dich verliebt bin” (Apelt-Übersetzung¹ S.34ff). – Platon widerspricht (wie meist mit der Stimme von Sokrates): Im Gegenteil, nur wenn Verliebung im Spiel sei (eine Art von „göttlichem Wahnsinn”, den Platon gut findet) solle es zum sexuellen Akt kommen.
Doch dies ist auch nicht die wahre Überzeugung Platons. Im Zentrum des Dialogs steht nämlich der philosophische Versuch einer Widerlegung, dass beide Seiten einer Isosthenie richtig sein können. Begründbar sind sie schon. Das zeigt die Rede von Lysias, auch in ihrer formalen “Verbesserung” später durch Sokrates. Doch die von Sokrates in einer dritten Rede schließlich vorgetragene Antithese (Palinodie), dass selbst im Falle einer Verliebung des Liebhabers der Geliebte gerade nicht zum Sex bereit sein solle, gewinnt schließlich auch die Zustimmung von Phaidros, so dass die anfängliche Gleichwertigkeit der Argumente, die Isosthenie, aufgehoben werden kann.
Zu Beginn war Phaidros nämlich, dem Platon selbst ein Liebesgedicht gewidmet hat, begeistert von der Rede des Lysias, während Sokrates ihn schließlich überzeugen kann, dass nur seine, des Sokrates Sicht der Dinge die richtige sei, mithin nur in diesem Fall von guter und überzeugender Argumentation, also Wahrheit, gesprochen werden könne. Sokrates geht sogar so weit (in der zweiten Lysias-Rede plädiert er wider seine eigene Überzeugung für die sexuelle Hingabe), dass er sich bei dem Gott Eros entschuldigt, weil er sich auf eine solch zweifelhafte und rein rhetorisch-spielerische Diskussion ganz im Sinne der Sophisten eingelassen, er also gefrevelt habe. Sein Sühne-oder Buße-Gebet lautet folgendermaßen:
“Dies war unsere Palinodie, geliebter Eros, die wir nach Kräften möglichst schön und gut dir gewidmet und erstattet haben(…) Du aber wollest die vorausgegangene Rede (die Rede des Lysias und die von Sokrates verbesserte geänderte Fassung) verzeihen und diese zweite Leistung dir gefallen lassen; wollest huldreich und gnädig die Liebeskunst, die du mir verliehen hast, mir nicht entziehen noch verkümmern lassen in Unmut. Vielmehr gib mir, dass ich noch mehr als jetzt bei den Schönen möge in Ehren stehen. Und wenn wir etwa in der ersten Rede etwas dir Widerwärtiges gesagt haben, Phaidros und ich, so suche die Schuld bei Lysias, dem Vater der Rede und bringe ihn von derlei Reden ab: lass ihn zur Philosophie sich wenden, wie sich ihr sein Bruder Polemarchos zugewandt hat, damit auch dieser Phaidros hier, der in ihn verliebt ist, nicht mehr nach beiden Seiten hänge wie jetzt, sondern einfach sein Leben dem Eros und philosophischen Gedanken widme”.(Apelt S.74)Platons “Phaidros” wird jedoch nicht wegen dieser sublimen und unterschwellig mitschwingenden erkenntnistheoretischen Problematik gelesen und geschätzt (ob man „nach beiden Seiten (einer Isosthenie) hängen“ darf), die sich gegen das Denken und Vorgehen der Sophisten wieder einmal wendet, sondern weil Platons Einstellung gegenüber der Lust oder dem Begehren, wie meist gesagt wird, darin deutlich zum Ausdruck kommt. Es geht um Wesen und Wirkung der Verliebtheit, ob sie Nutzen oder Schaden bringt. Noch ausführlicher, jetzt aber mehr den geistigen Bereich von Liebe und Schönheit betreffend, wird die Thematik im Symposion behandelt.
Im zweiten Teil des Dialogs, der Palinodie (Antithese zu dem vorher Gesagten), wenn Sokrates für den “göttlichen Wahnsinn des Verliebens” plädiert (Gott ist nämlich in den Liebenden, nicht in den Geliebten), kommt es jedoch nicht zu dem Ergebnis, wie man es heutzutage erwarten würde (ab unter die Decke und weiter so). Besonnenheit kommt nämlich jetzt ins Spiel, eine der Kardinaltugenden des Altertums.
Warum dies? – Was hat Platon gegen Lust, Körperlichkeit, manchmal auch Emotionalität einzuwenden? Wie einflussreich ist doch seine Lustfeindlichkeit, die über die Philosophie der Stoa großen Einfluss auf das Christentum hatte und in der ganzen Kultur-und Moralgeschichte des Abendlandes ein Leitbild geworden ist bis in die heutige Zeit! Wo Platon doch selbst ein so emotionaler, das ist auch für die Lust sensibler Künstler war mit seinen mythischen Erzählungen, Gedichten und virtuellen Theaterstücken, in denen Sokrates fast immer die Hauptrolle spielt. Warum beschäftigt er sich kein einziges Mal in seinem Himmel der Ideen mit der Idee der Liebe, sondern immer nur mit Schönheit, Geist, Verlieben und Lust, wobei die Lust trotz ihres göttlichen Ursprungs immer wieder abgelehnt wird?
Meine erste These lautet, dass in diesem Zeitalter der “Achsenzeit”(Karl Jaspers), wenn sich der menschliche Geist zur Begrifflichkeit und Schrift erst entwickelt und sich nach Hegels Theorie ein Zeitgeist erstmals in Griechenland bildet, die Emotionalität, ein Relikt aus unserer sprachlosen (tierischen) Vergangenheit, in einem ethischen Korsett gebändigt werden musste. Nicht jedoch die übermäßige Aggressivität wird in Frage gestellt – dies wird 400 Jahre später erst das Thema des Christentums sein, sondern der Sexualtrieb muss als erste Kulturleistung von Sprache, Lesefertigkeit und Schrift domestiziert werden.
Ein Sexualtrieb, der sich in unserem Fall vorwiegend junge Männer als Objekt aussucht, aussuchen darf, ja aussuchen muss. Denn in der Oberschicht war die Bindung des älteren Mentors im Sinne einer idealen Erziehung und Entwicklung zum Mann (weise, tapfer, redetauglich, gewandt, sportlich sollte er sein) gerne gesehen, ja sogar gewünscht. Doch Platon lehnt den sexuellen Aspekt dieser Liebe immer wieder ab, vielleicht weil er selbst persönlich negative Erfahrungen damit gemacht hat oder sogar dadurch, freudianisch gesprochen, traumatisiert worden ist. Dies meine zweite These, warum Platon gegen einen „zügellosen Sex“ eingestellt war.
Nicht die Beziehung des Älteren mit dem Jüngeren lehnt er ab, im Gegenteil, sondern den körperlichen Kontakt innerhalb der “Knabenliebe”. Im “Phaidros” findet Platons Unterbewusstsein sogar Worte für diese Ablehnung wie “Zwang des Älteren”, “angenehmerer Umgang mit Gleichaltrigen”, “widerwärtiger Anblick”, “widerwärtige körperliche Berührung”. Nur die “Genuss-Sucht” fessele die Körper aneinander. Eine solche Art von Liebe wird als „vernunftloses Begehren“ gesehen und so beschrieben:
“Wenn die vernunftlose Begierde, die Überzeugung knechtend, die den richtigen Weg einschlagen will zum Genuss der Lust, die ihr die Schönheit des Körpers bieten soll, dahin stürmt und dann weiter die von ihr verwandten Begierden zu körperlicher Schönheit geführt werden, so kommt ihr der Name Liebe zu, der ihr eben wegen dieses lebensvollen Dranges beigelegt wurde (S.46).
Vernünftige Liebe hingegen bedeutet jedoch: Genieße das Verlieben, diesen von Gott gesendeten positiven Wahnsinn, aber halte dich zurück! Du liebst nicht die Schönheit im konkreten Körper neben, vor oder unter dir, sondern du liebst die Schönheit als Idee, die sich dir als ein Zeichen Gottes offenbart. Diese Schönheit hast du bereits – wie alle anderen Ideen auch – schon einmal in deinem vorgeburtlichen Leben gesehen. Deshalb deine große Sehnsucht nach den Ideen – es ist eine wirkliche Wieder-Erinnerung an damals, die Nostalgie! – Lass dich nicht treiben oder verwirren von der Zügellosigkeit deiner Gefühle, ihrer Unbeherrschtheit, die bei den Männern immer nur das Eine will. Liebe ist mehr als eine vernunftlose Begierde, sie ist Geist, der von der Idee der Schönheit gefesselt, von der Idee des Guten gebannt ist und zu ihr strebt, um den Partner zu vervollkommnen.
Durch Lysias erfahren wir von dem angeborenen Trieb nach Lust und Sex, seiner Maß-und Zügellosigkeit, die auf das Schöne nur der Lust und auch der Ausschweifung wegen hingerichtet ist:
“Er sucht gleich dem Vieh mit körperlicher Umfassung (im anderen Mann) Kinder zu zeugen und, der Ausgelassenheit vertrauend, fürchtet und schämt er sich nicht, wider die Natur der Lust nachzugehen”.
Während die Besonnenheit zu einer Überzeugung führt, die mit Vernunftgründen zum Guten, ja sogar zum Besten leitet. Sie wird weniger den Körper als den Charakter des Geliebten begehren. Und “die Seele des Liebenden sucht dem Geliebten in Schamhaftigkeit und Ehrfurcht nachzufolgen” (S.71). Nicht die Lust des Augenblicks wird angestrebt, sondern eine lebenslange Freundschaft des Älteren mit dem Jüngeren. Und: “Ist die Jugendschönheit vorbei, wird sich erst recht die Tüchtigkeit des Älteren beweisen”.
Wir sind in einer Gesellschaft mit ca. 200.000 Einwohnern,Tausende von Sklaven innerhalb und außerhalb der Wohnstätten Athens eingeschlossen. Nur 30.000 volljährige Männer haben per Gesetz das Sagen. Wo die Frauen in ihren Häusern sich verkriechen wie heute die Haremsdamen von Katar (Entschuldigung). Wo ein extremer Körperkult auf den Sportplätzen und in den Hallen getrieben wird – Sport ist eines der täglichen Hauptfächer der Jugend, denn man braucht starke und tapfere Männer für die fortwährenden militärischen Auseinandersetzungen.Trainiert wird nackt, aber die Vorhaut des Genitale bleibt zugeschnürt, wie Vasenmalereien zeigen – Erektionen sind nicht gern gesehen. Im Gegensatz zu Sparta, wo die Mädchen mit trainieren durften (ebenfalls nackt), sind keine Mädchen in Athen auf den Sportstätten zu sehen. Olympia, die große friedliche Vereinigung aller griechischen Städte und Staaten mit seinen alle vier Jahre stattfindenden Wettkämpfen, scheint noch wichtiger zu sein als das gerade erst neu entwickelte Theater in Athen und die öffentlichen Rede-Wettbewerbe oder sogar Volksversammlungen im heutigen Schweizer Stil vor 1978.
Wir sind in einer Gesellschaft, einem Stadtstaat am Meer,wo die Männer zwar Kinder zeugen, auch Sokrates hatte drei Söhne mit zwei Frauen, aber sich doch auch in junge Männer nach dem Vorbild im benachbarten Sparta verlieben möchten, zumal dies als nützlich für die Erziehung angesehen wird. Nur dann wird ein junger Mann zum Mann, wenn er die “Knabenliebe” durchgemacht, das heißt wohl auch ertragen hat. Dann ist er gegen Schmerzen gefeit und fit für den militärischen Kampf, der unweigerlich auf ihn wartet. Selbst Platon ist dreimal in seinem Leben in den Krieg gezogen, ohne dass er auch nur ein Wort gegen den Krieg geschrieben hätte. Wie alt die jungen Männer waren ist weiterhin unklar in der Geschichtsschreibung.
Im “Phaidros” wählt Platon das Bild einer Kutsche, um die Problematik deutlich werden zu lassen. Die Kutsche hat einen Lenker, platonisch gesprochen einen “Steuermann der Seele, den Geist“, mit Freud gesprochen das Ich. Dieser lenkt zwei Pferde, ein unruhiges, das Es, die Triebe und Gefühle, und ein ruhig-folgsames, das Über-Ich, welches die Gebote und Verbote in sich trägt und sich von ihnen leiten lässt. Im Mittelalter sprach man vom Satan und Gottesgebot und dazwischen der Mensch. Die Kutsche ist unterwegs, immer im Kampf mit dem wilden und unbändigen Pferd, das sich nur sehr schwer zügeln lässt. Gewinnt es die Überhand, muss die Kutsche unweigerlich stürzen und verunglücken. Gewinnt das andere Pferd, herrscht also Besonnenheit und Vernunft vor, dann findet die Kutsche ihren Weg und ihr Ziel.
Doch was ist ihr Ziel? – Ihr Ziel ist das Zurück zu einem vorgeburtlichen Zustand, in dem die Ideen quasi in einem überirdischen Himmel geschaut worden sind. In unserem konkreten Fall ist es die Idee der Schönheit, die bezeichnenderweise neben der Besonnenheit steht. Sie ist am leichtesten den Sinnen zugänglich und also auch besonders gefährdet durch die Sinnlichkeit, das heißt das Begehren des Körpers mit seinem Genuss-Streben. Die Sehnsucht nach dem schönen Körper will also entweder sexuell genießen oder, wenn man dem anderen Pferd folgt, sich beherrschen, das heißt Zurückhaltung wahren. Gelegentlich mag das wilde und unbeherrschte Pferd gewinnen, dies ist nach Platon keine große Katastrophe, sondern alltäglich fast (später im Himmel dürfen auch diese “Liebenden ein Leben im Lichte führen und miteinander dahin wandelnd glücklich sein” S.73). Nur siegen darf es nicht – der Lust sich ganz nur hinzugeben und fortwährend wäre ein Frevel gegen den Gott Eros. Denn nur Mäßigung, Zurückhaltung, Besonnenheit führt uns im Kampf mit der Lust und dem körperlichen Begehren zur Idee des Guten, und das heißt auch – zu Gott hin.
Noch einmal sei die Frage aufgegriffen, warum sich Platon so gegen das körperliche Begehren gewandt hat. Ganz im Gegensatz zur heutigen Zeit, wo unter dem Einfluss von Wilhelm Reich und seiner Orgasmus-Theorie einschließlich ihrer Weiterentwicklung in Bioenergetik und anderen psychotherapeutischen Schulen Körper, Gefühle und Lust, auch in ihrer Trivialisierung “Ich will Spaß, ich will Spaß”, an erster Stelle stehen dürfen.
Meine zweite These lautete deshalb: Platon hat mit der Knabenliebe und vielleicht auch mit dem Analverkehr schlechte persönliche Erfahrungen gemacht und lehnt sie daher ab. Er scheint “traumatisiert“. Seine Moral-Lehre beinhaltet deshalb die permanente Aufforderung zur Sublimation des sexuellen Begehrens (das bei Platon wohl besonders stark war, wenn man seine seitenlangen Beschreibungen des sexuellen Begehrens im “Phaidros” liest), die von der jüdisch-christlichen Moral ebenso aufgegriffen und weiter gegeben wurde wie von der Psychoanalyse Freuds und anderer Moral-Lehren. Und sie wird bis auf den heutigen Tag von vielen akzeptiert.
Noch extremer wird diese Lustfeindlichkeit in der kynischen Schule in Athen bereits zu Platons Zeit propagiert, wo ihr Schulhaupt Anthistenes, einer der Gründungsväter auch der stoischen Schule, sogar gesagt haben soll – und dies trotz seiner Feindschaft Platon gegenüber – : “Lieber verrückt werden als der Lust zu erliegen”.
¹ Die Platon-Zitate stammen alle aus “Platon – Sämtliche Dialoge”, Übersetzung Otto Apelt, Felix Meiner Verlag
Vgl. auch Platons Symposion (Nr.180)
Vgl. Den Nachtrag zum Phaidros in Nr. 310
Über platonische Liebe Nr. 283