208 Über Desorientierung (Antwort)
Gegen das Schweigen
Du fragst mich, was ich unter “Desorientierung” in unserer Gesellschaft – der Zerfall von lange gültigen Allgemeinwahrheiten – verstehe. Ich habe im Blogbeitrag Nr.203 fünf zentrale Begriffe dafür genannt. Im Folgenden erläutere ich Desorientierung am Beispiel von Demokratie, Wissenschaft, Liebe, Religion und Gott etwas genauer.
Demokratie. Die Diskussion über die Organisation eines Staates gibt es schon seit Menschengedenken. Insbesondere Platon und Aristoteles haben Theorien darüber aufgestellt. Auch das Demokratie-Modell wird als eines von mehreren möglichen vorgestellt und sogar nur als eine zwangsläufige Zwischenphase einer gesellschaftlichen Entwicklung gesehen, die auch von Aristoteles als kreisförmig angenommen wird. Der Herrschaft der Geldmächtigen und Wenigen folgt jeweils nach ihrer “Entartung” die Volksherrschaft, dieser dann Diktatur und Tyrannei, dieser die Aristokratie, dieser wiederum die Oligarchie und so fort. In den USA herrscht demnach zur Zeit eine Geld-Oligarchie, Russland und andere Ost-Staaten sind nach einem gescheiterten Demokratisierungs-Versuch auf dem Weg zu einer Diktatur; die Steigerung ins noch mehr Negative wäre die Tyrannei, die es auch immer wieder gibt, selbst gegenwärtig.
Das Demokratie-Modell hat fragwürdige Seiten, die zur Zeit von interessierten Kreisen stark in den Vordergrund gerückt werden, um dieses Organisations-Modell unseres Staates zu desavouieren, schlecht zu machen, infrage zu stellen. Mitbestimmung durch das Volk im Sinne einer direkten Demokratie (etwa wie in der Schweiz) bedeutete bei Platon immer eine Mitbestimmung auch der Nicht-Wissenden, des Pöbels. Scheitern und Unglück sind quasi vorprogrammiert. Gerade also nicht die Herrschaft der Gebildeten, Klugen und Philosophen, die doch auch bei diesem “Meisterdenker” infolge von Züchtung und rigoroser Auslese die Elite in einem Staat ausmachen sollten und denen Platon die Gestaltung wie Zukunft einer Gesellschaft anvertrauen will. Er selbst ist gleichwohl bei seinen Organisierungs-Versuchen diesbezüglich kläglich gescheitert.(1)
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat das demokratische Modell zahlreiche Widersprüche in sich, die es Gegnern leicht machen, Demokratie infrage zu stellen. Auch hat sich mittlerweile, aus den USA kommend, still und heimlich eine Antithese zu diesem Modell einer allgemeinen Mitbestimmung und Teilnahme gebildet: die subtile Steuerung eben dieses Pöbels, dieser Masse, zu denen ich mich ebenfalls rechne, hin zu einer unaggressiven und friedlichen Lebensweise, die sich dem Konsum, der Betäubung, Ablenkung und Ruhigstellung verschrieben hat und sogar das Denken in meinem jetzigen Sinn ganz aufzugeben bereit ist. Nur dass wir uns dessen nicht bewusst sind oder bewusst werden dürfen.
In der Wissenschaft, die vorwiegend an den Hochschulen und Universitäten gelehrt wird, gibt es einen heftigen Streit über “Wissenschaftlichkeit“. Was ist Wissenschaft? Wann ist etwas wissenschaftlich, wann unwissenschaftlich? Wann und warum spricht man von Hokuspokus, von Mystik, von Scharlatanerie?(2)
Was ist wahre Erkenntnis, wozu ist Wissenschaft gut? Ist Wahrheit immer nur eine vorübergehende, zeitlich begrenzte “Theorie”? Definiert eine “Theorie der Theorie” Wissenschaftlichkeit? Ist Wissenschaft interessefrei, gibt es eine wissenschaftliche Neutralität, die sich von den Fragen nach einem guten Leben, wie es ist, sein könnte oder sein sollte, abkoppeln kann?
Wie steht es mit der Verantwortung der Atombomben-Bauer, Gentechniker, Menschenzüchter, Tier-Kloner? – Es gibt und gab Manifeste der Atomwissenschaftler, Moratorien im „wissenschaftlichen” Umgang miteinander, es gibt Warnungen angesehenster Informatiker und Kybernetiker vor sich selbst steuernden Maschinen (darunter selbst Stephen Hawkins, der vom Saulus zum Paulus geworden ist), die auch vor Smartphones und scheinbar harmlosen HeimComputern nicht anhalten.
Ebenso groß und fast noch einflussreicher sind jedoch die Befürworter und Anhänger der neuen Technologien. Ohne sie wird wohl niemand mehr leben wollen. Auch ich stütze mich here and now auf solche Neuentwicklungen. Gerade jetzt und an dieser Stelle.
Auch die Idee der Liebe mit ihren beiden Haupt-Akzidenzien L u s t (körperliche Liebe, Begehren) und A g a p e (Nächstenliebe, unkörperliche, geistige Liebe) ist in ihre Befürworteter und Gegner zerfallen. Sogar Mehrfach-Isosthenien haben sich gebildet.
Die Sinnhaftigkeit von Lust selbst ist zerfallen in Anhänger und Gegner. Wozu ist sie gut? Was bringt sie mir außer sinnlicher Befriedigung und Spaß?
In diesem Lager, innerhalb dieser Fraktion gibt es die bedingungslosen Anhänger von Vergnügen und Lust (Sex and Drugs and Rock’n’roll), mit ihren Orgien oder One Night Stands(ONS), letztlich auch eine Reaktion aus psychohygienischen Gründen auf die Jahrhunderte alte Unterdrückung und “Domestizierung” der Sexualität. Während die Gegenseite gelegentlich Askese und Verzicht auch im Sinne des Buddhismus oder sogar des römisch-katholischen Zölibats ins Spiel bringt, die nicht zuletzt eine Reaktion der Männerwelt auf die Vorwürfe und Unterstellungen eines rigiden Feminismus darstellen. Ein Kollateralschaden, der die Geschlechter noch weiter auseinander treiben und die Gleichgeschlechtlichkeit fördern wird.
Andererseits gibt es auch wieder Anhänger der Lust, die im Namen eines machtvollen Egoismus selbst tierisch-animalischer Spielarten die Möglichkeiten von Lust zu differenzieren suchen oder gegeneinander ausspielen. Die Befreiung der Lust zu sich selbst aus all ihren Fesseln wird als eine große moderne Errungenschaft der Aufklärung und des Zeitalters von Voltaire und de Sade dargestellt und gefeiert. Vielleicht eine weitere große SelbstTäuschung und Illusion unserer abendländischen Kultur innerhalb einer zukünftigen Welt-Werte-Gemeinschaft, die anders denken und leben will.
Aber auch im Lager der Agape mit ihren moralischen Geboten von Friedfertigkeit, Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe, Hilfe und Solidarität haben sich Isosthenien gebildet. Die einen propagieren die bedingungslose Liebe und Pflichterfüllung bis hin zur Selbstaufopferung. Während andere dieses Verhalten, das man philosophisch Altruismus nennt, als ein fragwürdiges Gutmenschentum belächeln, pathologisieren wollen oder sogar verspotten.
Religion
Auch die Religion als eine gesellschaftlich überaus wichtige Institution (wie Sport, Kunst, Erziehung, Bildung, Sexualität, Ernährung etc) scheint sich in einer Krise zu befinden. Nicht jedoch die Sehnsucht nach religiösen Antworten und die Suche danach, die m.E. mittlerweile groß geworden ist – übervolle Eisschränke und dauernd eingeschaltete Bildschirme reichen einfach nicht mehr zu einer SinnStiftung in unserem Leben aus. Gab es bis vor noch nicht so langer Zeit ein natürliches religiöses Bedürfnis, so natürlich und notwendig wie Essen und Trinken, Lieben und Denken und Sexualität (siehe oben), so dass die wechselseitige Abhängigkeit von Mensch und Göttern nicht infrage gestellt werden konnte, so hat sich jetzt im Zusammenhang mit der Implosion des Gottesglaubens eine Distanz und Lücke gebildet, die eine Leere hinterlässt, welche sogar mancherorts mit psychohygienischen Mitteln therapiert werden muss. Während man sich früher bemühte, fast wie in der Antike mit den Göttern in einem „freundschaftlichen Verhältnis“ zu leben, ihnen zu „opfern“, sie zu verehren, ihren Gottesdiensten bei zu wohnen und zu beten, so gibt es seit dem 19. Jahrhundert immer mehr die Tendenz, auch solche nützliche Zweck-Beziehungen, wie ich sie nennen will, infrage zu stellen.
An anderer Stelle habe ich schon die religiösen Rituale ebenso verteidigt und als sinnvoll vorgestellt für die menschliche Seele wie die Institutionen es für die Gesellschaft darstellen. Dennoch scheint das öffentlich geäußerte und gezeigte Bedürfnis nach Religion auszusterben. Zumindest im westlich-abendländischen Kulturkreis. Der Grund für diese Säkularisierung ist eine weltanschauliche Lücke, die das naturwissenschaftliche Denken hinterlässt, ja hinterlassen muss, wenn es sich als eine von Experimenten, Theorien und Rechnungen begleitete Wahrheit begreift, die nur wenig Ersatz für ein spirituelles Bedürfnis anbieten kann, das sich eher im Bereich von Sprache, Gefühl und Geist bewegt. Zahlen sind gefühllos. Was könnte nüchterner sein als die Zahlen 0 und 1? (3)
Statt in die Tempel und Gottesdienste gehen viele Menschen heute lieber in FitnessStudios und Popkonzerte. Statt sich von Priestern “belehren” zu lassen, sucht man lieber in den oft zweifelhaften Wissens- und ErkenntnisQuellen des Internets nach Antworten und Lehren. Die Fragen sind jedoch geblieben, sie sind immer die gleichen und es sind die alt-ehrwürdigen, vor denen der menschliche Geist immer noch eine demütige Hochachtung in seinen Büchern der Weisheit und Liebe aufbewahrt. Nur die Antworten sind unglaublich vielfältig geworden, so dass man den Überblick samt Geltungsanspruch ganz verliert. Womit wir wieder bei der Frage nach der Wahrheit einer Erkenntnis, eines Wissens, einer Deutung und Interpretation sind.
Ich denke nicht, dass das religiöse Bedürfnis aussterben wird. Es ist dem Menschen inhärent, quasi angeboren wir die antike Liebe zur Körperertüchtigung („Sport”), zur künstlerischen Betätigung und zum Denken; auch zum kreativen Machen und Herstellen. Aber dieses Bedürfnis, das Irrationale in den eigenen Rationalitätsanspruch einzufügen, es zu integrieren, zu implementieren, wie man heute manchmal formuliert, kann sich an zahlreiche (Ersatz-) Religionen wenden, die eifrig gepflegt und genährt werden und Gleichwertigkeiten bilden, ohne dass wir uns in der Wahrheitsfrage entscheiden könnten oder zu entscheiden wüssten. Selbst Cusanus hat eine Übereinstimmung oder zumindest Konvergenz zwischen Bibel, Koran und Thora schon im 15.Jahrhundert feststellen wollen. Denn ist der Gott dieser drei Religionsgemeinschaften nicht der gleiche?
Langfristig denke ich, dass nur noch die drei eben genannten “Religionen des Buches” und der Buddhismus sich einen internationalen Wettstreit innerhalb der Weltkultur liefern werden, der schließlich auf eine Komplementarität hinaus laufen wird. Christliche Ethik und buddhistische Meditation, asiatisches GeschehenLassen und ökologisch-kreative Aktivität sowie ErkenntnisInteresse schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich meines Erachtens.
Über Gott zu sprechen bedeutet schließlich an dieser Stelle und in diesem Blog fast schon Eulen nach Athen tragen. Auch der GottesBegriff ist gegenwärtig heillos zersplittert, zerfallen in vielfältige Gottesbilder, unterschiedlichste Definitionen und Interpretationen, die sich teilweise sogar radikal dogmatisch bekämpfen, widersprechen, infrage stellen. Dass das Bild, das man innerhalb der Weltkultur von Gott hat, immer nur eine subjektive und sehr einseitige, auch Zeit-und Kultur-relative Interpretation darstellt, habe ich schon öfter an dieser Stelle betont. Ich brauche mich nicht zu wiederholen, wenn ich glaube, dass ein Gottesbild m.E. dennoch trotz dieser gegenwärtigen Vielfalt immer existieren wird, selbst unter Atheisten in seiner Negation. Und wie sagt Thomas von Aquin angesichts dieser Vielfalt von Gottesbildern? – “An jenem Tage wird er Einer sein, und auch sein Name wird ‘Einer’ sein“.
Was bleibt?
Eben dieser unser jetziger Zustand der pluriversen Vielfältigkeit, der auch eine Desorientierung hervorrufen kann samt ihrer „gräulichen Verwüstungen im Kopf“ (Lukian), gab es immer wieder in Umbruchszeiten; so in der Zeit Platons mit den überaus enflussreichen weltanschaulichen und sinnstiftenden philosophischen Schulen, auch im Rom der frühen nicht-christlichen Kaiser. Weniger im Mittelalter, wo die Wahrheit auf eine einzige dogmatisiert worden ist, machtvoll dogmatisiert werden konnte; wo vorgeschrieben worden ist, wie und was als wahr, unwahr oder geglaubt werden musste. Bis schließlich dann doch wieder diese relativ einheitliche Wahrheit zerfallen ist in die Fraktionen von Kirche/Papst gegen die weltlichen Mächte, allen voran Kaiser und nationalstaatliche Könige.
Noch einmal: Was bleibt? – Ich denke wie damals und immer schon: das Sprechen bleibt, die Auseinandersetzung, die Diskussion. Dieses mein Sprechen und Denken und Schreiben auch jetzt über das Sprechen und Denken und Schreiben und die ewige Frage daran anschließend nach einem guten und lebenswerten Leben. Dies ist schließlich auch meine Letztbegründung, die nicht mehr relativiert werden kann, es sei denn durch einen dogmatisch vorgeschriebenen oder freiwilligen Verzicht auf das Sprechen: das Schweigen.
1 Nach einem heftigen Zerwürfnis mit Dionysios, dem Tyrannen von Syrakus, sollte Platon sogar auf dem Sklavenmarkt verkauft werden und er konnte nur durch das beherzte Eingreifen eines Landsmannes vor der Sklaverei bewahrt werden.
2 Dem Denken des französischen Philosophen Jacques Derrida wurde von Hardlinern der reinen Lehre bereits Obskurantismus vorgeworfen (vgl. im Blog die Nr. 17)
3 Auch hier bildet sich wieder eine Isosthenie. Für Cusanus war die Eins neben dem Unendlichen eine überaus wichtige, ja heilige Zahl. Denn aus der Eins (die Totalität, der Zusammenfall, die Komplementarität der Gegensätze) entwickelt sich alles bis hin zum positiven wie negativen Unendlichen.