210 Vom Wiederfinden(1)
Brief an Lucilius 9
7.Februar 2016 – Ich muss dir eine Geschichte erzählen. Immer habe ich deinen kleinen Engel vom Weihnachtsmarkt in meiner Jackentasche, den du mir geschenkt hast. Heute, während der Messe in der Stuttgarter Marienkirche, entschließe ich mich, ihn von dem neuen und wirklich bewundernswert religiösen Priester am Altar, einem Philippino, segnen zu lassen. Was ich bislang nur einmal gemacht habe in meinem Leben. Nach der Messe, bevor man sich von dem Geistlichen verabschiedet, kommt ein Bekannter aus dem Kirchenvorstand auf mich zu und zeigt auf den Philippino : Ob ich ihm Sprach-Unterricht geben könnte!? – Ich zögere, weiß es noch nicht. Eher nein.
Dann gehe ich einige Schritte weiter und bitte den neuen Priester, den kleinen Engel in meiner Hand zu segnen. Er macht es tief gläubig und es überzeugt mich voll und ganz. Ich informiere den Priester, dass ich es bin, der vielleicht ihm Sprachunterricht geben werde. Er freut sich doppelt: einmal wohl über den Segnungswunsch, dass es so etwas im Dispora-Deutschland überhaupt geben kann, und zum anderen über meine Ankündigung; dankt und wir gehen auseinander.
Ich werde es machen, sage ich mir, ich werde ein- oder zweimal die Woche bei ihm im Pfarrhaus vorbei kommen. Dies war die erste gute Tat deines Engels!
27.März. – Nachdem der von Pater R. gesegnete Engel vor einigen Wochen in der MarienKirche zu mir gesprochen und mich zum Unterrichten ermuntert hatte, habe ich mit einem schönen und auch für mich interessanten Deutsch-Kurs begonnen, der mir viel Freude macht. Ich informiere mich über die Heimat von P.Ramoso, dieses große und fremde Land, lerne neue Sitten und Gebräuche kennen und dass man dort Englisch oder auch Spanisch spricht. Der Engel hat mich während des Unterrichts mit meinem neuen Schüler auch unvermittelt zu einem BibelText aus dem Alten Testament geführt über die Macht und Kraft der Engel, ein Text, den Pater R. nach Vorschrift der Gottesdienst-Ordnung am nächsten Tag während der Messe vorlesen musste und deshalb mit mir geübt hat. Ein erstes und einziges Mal bislang!
Dann bin ich von diesem Engel eine Woche später in der Abteikirche Tholey im Saarland sogar angelächelt worden und ich habe mich gewundert, dass es auch lächelnd-lachende Engel geben kann. Heute sind wir in der Messe am Ostertag sogar zum Oster-Lachen/Lächeln vom hiesigen Stadtteil-Pfarrer aufgefordert worden und jetzt schreibe ich schon so viele Zeilen über diesen deinen Engel. Zwar ohne Lachen, aber mit Lächeln.
Immerhin hat er mich schon vor achtzehn Jahren anlässlich der Geburt unseres Sohnes zu einer “Kantate für Solo, Chor und Kammerorchester” inspiriert. Als Textvorlage wählte ich das “Gebet des Engels von Fatima“, welches dieser 1916 in einer Erscheinung in der Cova d’Iria die Seherkinder, ein Jahr vor der Erscheinung der Madonna, gelehrt hatte. In portugiesischer Sprache habe ich die Vorlage, also den Engels-Text, gelassen und ihn mit Hilfe einer Nachbarin mit Namen Fatima vertont unter dem Titel: “Santissima Trindade”. Die Musik ist der feierliche Abschluss meiner Musica Matutina-Kompositionen, ein erstes und einziges Mal, dass ich geistliche Musik überhaupt komponiert habe. Vor zehn Jahren wurde dann in Fatima eine große unterirdische Basilika mit dem gleichen Namen als ein beeindruckendes Kunstwerk der Architektur sogar gebaut.
Und jetzt schreibt mir meine Schwester, die ich doch so ganz atheistisch-agnostisch eingeschätzt hatte, vollkommen überraschend, dass sie einen Engel schon seit langem besitze (in der Hosentasche)und sich sogar mit ihm berät.
So eine schöne Engels-Geschichte ist das, die auch noch weiter geht! Am 29. März vervollständigt nämlich meine Schwester diese meine Berichterstattubg mit einem Zitat aus dem Dumont Kunst-Reiseführer:
“Im Chorhaupt der Abtei-Kirche in Tholey/Saar hat das kleine”Tholeyer Teufelchen” groß sein lächelndes Widerspiel, den “Engel von Tholey”, den man allzu werbefix auch schon einmal die “Mona Lisa des Nordens” heißt. Eben wegen seines Lächelns, dem die Zeit zwar zugesetzt, aber es nicht zerstört, eher merkwürdiger gemacht hat. Der Engel stammt von einer Verkündigungsgruppe vom völlig verwitterten Nordportal, das (im dritten Viertel des 13.Jhd. entstanden) stilistisch an Reims und Trier anschließt.
Alles ist hier zur Anmut hin empfunden: der leicht geneigte Kopf, Haar und Gewand, die Haltung edel und doch von fast koketter Zärtlichkeit. Und über allem das Lächeln: naiv und listenreich, freundlich und fremd zugleich”. – Anmut, edel, kokette Zärtlichkeit mit einem naiv-listenreichen Lächeln, das freundlich und fremd zugleich sein kann… Wenn das keine schöne, wenn nicht auch überirdische Erscheinung ist!
8.Mai – Im portugiesischen Fatima, diesem großen Pilgerzentrum der weltweiten Christenheit, treffe ich den Engel schließlich wieder. Lebensgroß und ganz neu erst aufgestellt steht er jetzt am Eingang des Reliquien-Museums von Pater Kondor, bewacht quasi den Zugang zu den Heiligtümern. Das Museum wird außerhalb der Pilgerzeiten nicht so häufig besucht. Kein Mensch ist zu sehen.
“Fühlen Sie sich nicht manchmal alleine in diesem Raum”, frage ich die Aufseherin an der Pforte, eine Schwester aus der Kongregation der Postulatur.
“Nein”, lächelt sie mich an,”ich habe doch immer den Engel bei mir”. –
Ich muss jedoch hinzu fügen, dass es neben den betenden und lachenden und unterstützenden Engeln auch noch welche der Dunkelheit, Trauer und Angst gibt. Als mein Vater hörte, dass er in einem halben Jahr sterben werde, was auch geschah, ist er immer wieder zu einem kleinen namenlosen Engel in der Kapelle am Wegrand außerhalb der Stadt unter freiem Himmel gefahren, hat dort eine Kerze angezündet, gebetet und geweint.