209 Über Abstraktion
Inflationsmäßig laufen gegenwärtig viele junge Männer wie Dschihadisten mit ihren mehr oder weniger gut gepflegten RauscheBärten durch die Straßen, Body-gebildet und Muskel- bleckend, wie wenn sie zu einem neuen GermanenFeldzug der Römer aufbrechen müssten. Ob sie auch Zweitfrauen oder Nebenbeziehungen gut finden würden, ist noch nicht auszumachen. Es fehlen halt eben verschleierte junge Schönheiten, die vielleicht sogar mit Burka, warum nicht zur Abwechslung einmal in weiß oder rot?, eine neue Modewelle ins rein deutsch geschwängerte AfD-Leben rufen könnten. –
Für sprachanalytische Philosophen und Puristen der reinen Lehre ist vor allem der erste Satz oben, mein Prooemium gleichsam, vollkommen unhaltbar; in deren Terminologie: sinnlos. Abgesehen auch von Spott und Ironie, welche diese Satzkonstruktion sublim durchzieht und womit Übersetzungs- oder gar Interpretations-Maschinen (was sind IM?) immer noch ihre größten Probleme hätten.
Schon der erste Begriff im Satz, der aus der Ökonomie stammt, passt nicht zu einer Menschen-Bewegung. Im Gegenteil, er ist vollkommen falsch eingesetzt. Menschen können keine Inflation sein. Sie können sie hervor rufen, bewirken, aber sie können sie nicht sein. Bilder allgemein (Menscheninflation, Rauschebart, Dschihadist, Modewelle) sind für die Darstellung “nackter Tatsachen” (wieder eine falsche weil metaphorische Bezeichnung) fehl am Platz. Hier vermischt sich nämlich eine ästhetische Sprache, die Sprache der Kunst und Emotion, mit einer Normsprache, die Tatsachen “kühl” feststellen, beschreiben und auch als wahrheitsgemäß darstellen will.
Der historische Bezug zu den Römern emotionalisiert außerdem die Aussage, er verspottet quasi diese jungen Männer, die sich aus modischen Gründen die Bärte mittlerweile wieder wachsen lassen (ich hatte tatsächlich zeitweise auch im frühen Mannesalter einen Vollbart).
Wir haben es hier also nicht mit einer nüchtern-neutralen TatsachenBeschreibung, sondern mit einer sehr missglückten, weil missverständlichen Formulierung zu tun, die aus der Sicht der Sprachanalytiker des Szientismus und der analytischen Philosophie vollkommen ungeeignet, weil einer Digitalisierung (noch) nicht zugänglich ist.
Doch für mich ist der Sinn dieser Aussage, die tatsächlich eine Menge Spott und Ironie und Metaphorik enthält, ein ganz anderer. Die drei Sätze wollen nicht nur Tatsachen beschreiben, was in der jungen Generation heutzutage wieder angesagt ist, sondern ich will mit dieser zugegeben etwas provokativen Einleitung vor allen Dingen die Frage aufwerfen, warum dieser Rauschebart wieder Mode geworden ist. D.h. nicht die Feststellung und ausführlich(st)e Beschreibung der Black Box “Rauschebart”, einer äußeren und augenscheinlichen Tatsache, die mir weniger wichtig ist, sondern dem Grund für die Entstehung dieses Phänomens, dieser Tatsache, ihrer Genese möchte ich nachforschen. Das Phänomen von Steuerung und Manipulation ist mir heute und an dieser Stelle auch nicht besonders wichtig (dass eine Mode von wem und wie in die Welt gesetzt worden ist); ich habe es bereits oft genug im Rahmen der Technokratie-Thematik angesprochen (siehe dazu auch den Blog-Text Nr.203).
Es geht mir an dieser Stelle nämlich mehr um das sprachlich-philosophische Phänomen der Abstraktion. Werden Abstraktionen(“Mode” als Begriff} gefunden oder erfunden? Kann man sie beweisen, messen, einer Digitalisierung unterwerfen? Wozu sind sie gut, nützlich? Der erste Schritt meiner Beschreibung im Sinne des Behaviorismus war die Feststellung, dass manche jungen Männer wieder mit Rauschebart zu sehen sind. Der nächste Schritt war die Feststellung, dass eine neue Mode also wieder zu beobachten, zu bestaunen, zu bewundern es gibt.
Der nächste Schritt wäre bereits eine weitere Abstraktion: Was sind, warum gibt es solche Moden? – Das Woher und Wohin und nicht nur auf die bärtigen jungen Männer bezogen, sondern allgemein gesehen. Dazu müssen wir jedoch wieder zurückblicken in die Entwicklung anderer Moden, in ihre Geschichte. Zum Beispiel in meine eigene Lebensgeschichte. Gab es das bereits öfter? Wie war das mit den langen Haaren und meinem Rauschbart damals? Welche Moden habe ich bereits kennengelernt, war ich vielleicht sogar ihr „Opfer“, wie man neudeutsch heute zu sagen pflegt, ein hilfloses Objekt (Ding) von Steuerungsmechanismen?
Ich suche also, um eine Abstraktion nicht nur zu erklären, sondern auch zu verstehen, Beispiele oder Belege aus der Geschichte. In diesem Fall, natürlich besonders praktisch, aus meiner eigenen Geschichte. Und es geht um Filme. Ob sie eine Mode in die Welt gesetzt haben wie und warum, oder ob sie nur ein Abbild auf dem Höhepunkt einer Welle waren, will ich an dieser Stelle jedoch weniger untersuchen.
Begeben wir uns also wieder in das weite Feld von Kunst und Geisteswissenschaften und testen wir, ob mit dieser Vorgehensweise eine befriedigende Antwort auf unser Problem, wie wahr und nützlich sind Allgemeinbegriffe (Abstraktionen), zu finden ist.
Gehen wir zurück in die 50er Jahre, in meine Kindheit. Es hat sich zwar damals keine Mode, sondern eher nur eine Welle, unterschwellig eine Bewegung auch als Anti-These gebildet; sie hält jedoch bis heute an und beschäftigt sich mit der sogenannten „Befreiung der Sexualität“. Ein Film des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergmann machte Furore, „Das Schweigen“. Nur unter vorgehaltener Hand wurde im Umkreis meiner Familie kolportiert, dass in diesem wohlweislich nur im Kino zu sehenden Film sogar eine nackte Frau im Bad zu sehen wäre. Das war neu, unverfroren, provokativ. Was für eine Sensation, was für eine Schweinerei!
Dann gab es zu dieser Zeit den Filmemacher und Volksaufklärer Oswald Kolle, welcher der Bevölkerung höchst erfolgreich nahe brachte, wo’s lang geht mit dem Sex und den Fortpflanzungsorganen. Widerstände pro und contra SexualAufklärung wurden gebrochen, Prozesse verloren und gewonnen. Aber schließlich setzte sich doch die von Sigmund Freud aufgestellte These durch, nur der genitale Charakter sei ein gesunder Charakter. Mit der Steigerung schließlich Ende der 40er Jahre durch seinen in den USA lebenden Schüler und Intim-Feind Wilhelm Reich, nur ein gesunder Orgasmus führe zu gesunden Menschen und verhindere Aggressions-Stau und blindwütige Kriege. Diese erste Welle von intensiver SexualAufklärung hat sehr ausgeprägt zu einer neuen Einschätzung von Lust und Spaß geführt und weite Kreise der westlichen Bevölkerung infiziert bzw. in die Verwirrung getrieben.
Ich erinnere mich in meiner Lebensgeschichte an zwei weitere Wellen, die diesmal, weil nicht mehr unterschwellig, sondern öffentlich, einen deutlich modischen Charakter besaßen. Die zweite Welle, die mir in Erinnerung geblieben ist, hing mit dem Film „Saturday Night Fever“ zusammen. Er markierte den Beginn der DiscoKultur. Ab sofort bildeten sich überall Tanz-Schuppen, Diskotheken, die ebenfalls eine neue Welle, eine neue Kultur, eine neue Begegnungsform der Geschlechter begründen konnten. Tanzte man früher standardmäßig noch unterm Maibaum oder zu anderen Festen, um Beziehungen zu knüpfen, so gelang dies fast tagtäglich jetzt, wie es das Arbeitsleben gerade zuließ, in den Diskotheken; in manchen Zeiten mehr, dann wieder weniger je nach Lautstärke der Verstrker-Boxen.
Ein weiterer Film nur kurz danach hat sich mir in Erinnerung gehalten. Es war die Zeit des amerikanischen Vietnam-Krieges. Die jungen Männer, die infolge der Hippie-Bewegung verweichlicht, langhaarig-androgyn und scheinbar nur noch Reichianer waren(1), mussten wieder zu richtigen Männern umfunktioniert werden. Der Film hieß „Rambo“ mit durchtrainierten Männern und Kraftprotzen wie weiland im alten Rom der Germanen-Kriege (ich übertreibe). Im Anschluss an diesen Film bildeten sich zahlreiche Muckibuden, Fitnessstudios und Kraft-Center. Sogar schließlich auch für Frauen.
Selbst die medizinische und pseudo-pharmazeutische Wissenschaft stürzte sich finanziell sehr erfolgreich nun auf die Muskelbildung vor allem junger Männer. Behavioristen prognostizierten mit überzeugenden Argumenten und Statistiken eine Steigerung der Homosexualität und die ganze westliche Welt war plötzlich infiziert von einem noch nie da gewesenen Beauty & Fitness-Wahn. Ich sage „Wahn“, denn mit einer solchen Übersteigerung haben es sogar die alten Römer nicht getrieben. Zwar hat man auch damals als Erwachsener jeden Tag Sport getrieben (nachmittags im ThermalBad). Für die langen Fußmärsche und blutigen Schlachten Mann gegen Mann musste der Körper trainiert werden mit allen Auswirkungen selbst auf die Ästhetik und Bildhauerei. Aber doch immer mit der Warnung: mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Also der Geist war doch immer noch wichtiger als die Muskeln, die mittlerweile sogar größer und mächtiger sein dürfen als die Hirnmasse(seufz).
Bis in die Gegenwart sind diese drei Moden immer noch anzutreffen. Zwar mit leichten Veränderungen, die eher in Richtung Steigerung und Maßlosigkeit tendieren als in Richtung Selbstbeschränkung und Reflexion. Aber wie soll es begrenzt, in Frage gestellt werden, wenn das geschichtliche Denken, Hinterfragen und Vergleichen ganz verschwunden ist und man nur noch an den „wertneutralen“ Oberflächen des Lebens und Denkens und Geldverdienens hängen bleiben will, hängen bleiben muss.
So viel also zum geschichtlichen Verstehen von Allgemeinbegriffen und ob ihnen eine Wahrheit in der Wirklichkeit entspricht, die bewiesen werden kann. “Erklärt werden kann”, muss man wohl sagen. Denn man verlangt mittlerweile empirische Daten und Experimente sogar in der Soziologie, die doch eine Mischung aus Natur-und Geisteswissenschaft ist. Keine Geschichten ohne statistische Absicherung. Mein Vorgehen war deshalb nur eine Meinungsäußerung, heißt es – nichts mehr und nichts weniger. Meine Erklärung des abstrakten Begriffs “Mode” war keine Wahrheit, sondern wieder nur eine “”Erzählung” mit dem heuristischen Angebot zur Interpretation.
Einverstanden! – Wenn auf diesem Weg der Fitnesswahn, das übersteigerte Lustbedürfnis einer Pan-Sexualisierung oder andere Fragwürdigkeiten eingegrenzt, relativiert, hinterfragt werden können – warum nicht? Um so besser.
Eingrenzen, relativieren, hinterfragen – wir sind also wieder am Beginn unserer wissenschaftstheoretischen Untersuchung angekommen: Bei der wertneutralen Beschreibung der Oberfläche einer Black Box, die uns ihre Geheimnisse nicht preisgeben wird, es denn nur auf dem Weg nüchterner Messungen, Statistiken oder Experimente. Nach den Vorschriften und Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit des Behaviorismus und in seinem Gefolge auch in der analytischen Philosophie (man nennt sie gelegentlich auch Szientismus, übertriebene WissenschaftsGläubigkeit im Sinne der empirischen Wissenschaften) war mein Vorgehen keine nüchterne Beschreibung der Black Box, in unserem Fall die der jungen bärtigen Männer. Es waren vielleicht sogar nur Fehldeutungen, Mutmaßungen, “Begriffsdichtungen”, “eleganter Unsinn”, wie hart gesottene Verfechter der reinen Lehren des Szientismus nicht zuletzt sagen würden. Zumal auch Sigmund Freud ins Spiel kam, der immer noch und weiterhin äußerst misstrauisch von Seiten dieser Wissenschaft beäugt wird. Denn ist nicht gerade Freud ein GeschichtenErzähler? Und indem ich letztlich auch die Begriffe von Mode und Fremdsteuerung wertend ins Spiel gebracht habe, habe ich auch den Boden der experimentell oder statistisch überprüfbaren und “wertneutralen” Tatsachen gänzlich verlassen.
Doch ich habe es gewagt, in die Black Box hinein zu schauen, d.h. die Warum-Frage zu stellen: Warum die jungen Männer heute alle solche Bärte tragen (müssen). Ich habe die Frage nicht weiter behandelt, sondern mich mehr damit beschäftigt, wie Abstraktionen gefunden und historisch begründet werden können. Das hat uns zu einem abstrakten Begriff geführt, streng genommen ein unwissenschaftliches Vorgehen geisteswissenschaftlicher Art.
Ausgeklammert habe ich dabei die Frage, wie und mit welchen Mitteln schafft es die Mode, die Menschen so zu steuern und warum lassen sie sich steuern? Hängt es mit Nicht-Wissen, mit Verführung, mit Gruppendynamik und Herdentrieb zusammen? Selbst diese abstrakte Frage nach einer Steuerung durch die Mode (wobei der Begriff Steuerung eine weitere Stufe der Abstraktion darstellt), wird wieder von manchen Menschen als irrelevant, sinnlos und unsinnig abgetan.
Ich denke dennoch, dass Abstraktionen einen großen Sinn, eine wichtige Funktion besitzen: nämlich gerade die der Steuerung. (!) Dass eben mit Abstraktionen gesteuert werden kann. Keine Politik kann ohne Abstraktionen funktionieren. Und ist nicht die Abstraktion selber, dieser Begriff, auch eine Abstraktion? Im Reich der Abstraktionen im Plural, denen wir immer wieder begegnen, ist der allgemeine Oberbegriff dafür doch die Abstraktion im Singular. Dieser Begriff in seiner Einzahl wäre also nach Platon eine Idee, die überzeitlich existiert und nicht vergeht. Denn sie ist rein geistig: Abstraktionen im Plural wie Modewellen, Steuerungsmethoden oder Lebensformen lassen sich alle irgendwie letztlich vielleicht doch messen. Böse Stimmen behaupten sogar: wenn die Messinstrumente nur entsprechend gebaut und an das gewünschte Ergebnis ausgerichtet oder konstruktiv angepasst sind. Die Idee der Abstraktion kann aber nicht gemessen werden. Ich denke, sie ist unserem Gehirn (Geist) als wesentliches Struktur- und Strukturierungselement von der Evolution mit gegeben und wir brauchen sie, um unser Leben und unsere Existenz überlebensfähig zu halten.
Auch das, was ich jetzt gemacht, gedacht, geschrieben habe, war eine Form allgemeinster Abstraktion, mit Beispielen ergänzt, um mich im Daten-und Informations-Dschungel von Vielfalt, Relativität, Mehrdeutigkeit und subjektiver Interpretation zurecht zu finden. Das Nachdenken über Abstraktion ist rein geistig und ohne Mess-Apparate oder 0-1-Programmierungen möglich. Ob es sinnvoll oder nützlich sein kann, müssen die Leser und Leserinnen dieser Zeilen gleichwohl selbst beantworten. Wenn dieses Nachdenken als sinnlos eingeschätzt wird – einverstanden! Ich akzeptiere diese Meinung und Haltung, wenn sie euch weiter führt in eurem Leben, wie es geführt sein will (2), geführt sein kann oder sein soll. Viel Glück dabei! – Alles andere wäre m.E. eine Selbst-Täuschung meinerseits, eine Illusion.
1 Ein Slogan aus der promiskuitiven Zeit der 68er lautete: Wer einmal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment. Jetzt sind manche der jungen Männer auch wieder kurzhaarig oder sogar ganz glatzköpfig wie Caesar und seinesgleichen.
2 geführt?- Wer oder was führt uns?
Bücher von Reinhold Urmetzer in Nr.282