211 Über Sex
Brief an Lucilius 10
Du hast mich gefragt, wieso ich früher in Liebesdingen mit einer solchen Leichtigkeit versatil habe sein können. Dass mich sowohl Frauen wie Männer interessiert haben, dass ich sie lieben konnte und ich von ihnen auch geliebt worden bin.
Ich denke, es hängt damit zusammen, dass ich bei der ersten Begegnung mit mir wichtigen und wertvollen Menschen nicht das körperlich Anziehende, also Schönheit und Sex, sondern meist das Geistig-Soziale an die erste Stelle gesetzt habe. Wie und was die Person spricht, wie sie sich verhält, was sie von mir will ganz jenseits von Sex. Dies hat gelegentlich dann auch zum Problem werden können. Wenn von der anderen Seite her gesehen nicht das Geistig-Soziale, also die kommunikative Schnittmenge, sondern eher nur der Sex im Spiel war. Dass mir also Freundschaft anfänglich wichtiger war als das emotionale Verlieben, das für mich meist ein eher unangenehmer Zustand von Sehnsucht und Nicht-Befriedigtsein bedeutete. Und die körperliche Begegnung stand dann mehr am Ende, quasi als ein krönender Abschluss. Denn ich bin – anders als etliche meiner Artgenossen – weder promiskuitiv noch polygam noch Sex-süchtig. Schon gar nichts anfangen kann ich mit One Night Stands, „offenen Beziehungen“ oder der so genannten Polyamorie, die für mich nur eine reine und kostenlose Art von beidseitiger Prostitution darstellen. Vor allem die Frauen werden sehr darunter leiden müssen. Denn Sehnsucht, Eifersucht und Treue gehören doch irgendwie auch zur Liebe, zur Familien-Bildung, zum Leben mit dazu.
Das bedeutet: Zwischenmenschlichkeit, Nähe, Gespräche, das Du; das Nest, Treue und Planung für ein gemeinsames Leben, eine gemeinsame Zukunft und vielleicht sogar ein gemeinsames Sterben – das alles war mir wichtiger als Lust, das schnelle Eindringen, der Austausch von Körperflüssigkeiten oder orgastische Potenz. Selbst wenn ich schwul wäre oder werden wollte, würde ich in diesen Kategorien denken.(1)
Wenn man den Sex in seinem Leben an die erste Stelle setzt, ist man, positiv gesehen im Sinne der Arterhaltung, egoistisch; Trieb und Testosteron stehen an erster Stelle. Eros, der Gott des Zeugens und der Kreativität, will nach Platon im Schönen (das heißt auch infolge der körperlichen Anziehung) das Schöne schaffen, in die Welt setzen, zeugen. Verliebung sucht also die Nähe zum Schönen, Bewundernswerten und will dann in diesem Kontext zeugen (der Mann) oder Nachkommenschaft in die Welt setzen – der Körper der Frau; selbst wenn sie im Geist und Bewusstsein ein eben solches zu verhindern sucht. Schönheit und Lust sind dabei das Lockmittel der Natur; Dankbarkeit für die empfangene Lust steht dann irrtümlicherweise für Liebe.
Aber diese Spannung erschöpft sich so schnell wie die Brunft-Zeit der Tiere, auch wenn sie etwas länger dauern mag. Bei den Tieren sind es einige wenige Tage oder Wochen, bei manchen Menschen gibt es je nach Veranlagung und Natur halt eben längere, manchmal auch immer währende Brunft-Zeiten und Dauer-Zustände. Weniger bei den Frauen, deren sexuelles Leben auch vom Mond und dem Lebensalter mit bestimmt werden kann (Klimakterium), aber doch bei manchen Männern.
Warum, das bleibt eine weiterhin offene Frage. Auch wenn es Männer gibt, die a-sexuell sind oder es im Laufe der Zeit geworden sind. Etwa katholische Priester. Das allmähliche Schrumpfen der Prostatadrüse lässt auch das sexuelle Begehren weniger werden und umgekehrt. Permanente sexuelle Aktivitäten, auch durch Pornografie, steigert den Testosteron-Spiegel des Mannes, was gelegentlich positiv auch mit Lebens-Energie gleichgesetzt wird.
Freud hat mit „Zähmung“ oder „Bändigung“ der Libido (Begriffe aus der Ecke des Feminismus, nicht von Freud) immer auch Kreativität verbunden; ohne Sublimation der Sexualenergie käme keine Kultur, keine Wissenschaft, keine Wirtschaftsleistung zustande.
Ich bin jedenfalls nicht so getrieben von meinem Sexualtrieb wie manche andere meines Geschlechts. Die, wenn sie nur eine Frau oder einen Mann riechen, schon sich auf sie stürzen möchten (ich übertreibe in der Art, wie es die Feministinnen uns oft unterstellen).
Gewiss ist meine Sexualität stark und sie macht mir Freude und Spaß. Aber nicht dermaßen, dass ich sie nicht irgendwie immer wieder auch als sekundär empfinden könnte. Wer den Sexualtrieb als primär empfindet, ist ein Sklave seiner Lust, seines Körpers. Eingesperrt in einen Käfig mit lustvoll-natürlichen Gittern, aber meist doch irgendwie unfrei, einseitig und gefangen. Lieber wahnsinnig werden als Lust zu empfinden, propagierte sogar die einflussreiche antike Schule der freiheitsliebenden Kyniker in Athen. Dieses Denken (sein bekanntester Vertreter war Anthistenes) hatte Auswirkungen auf die Ethik der Stoa und bis hin zum römischen Christentum.
Warum nicht, wirst du jetzt fragen. Wenn man es so will. Einverstanden, das ist die Entscheidung eines jeden einzelnen. Für Epikur, Aristipp und mit allen antiken Göttern der Lust gegen die Stoa samt ihrer Verantwortungs-Ethik dem eigenen und den fremden Körpern gegenüber. Eine wirklich existenzielle Lebens-Entscheidung. Zumal wenn man bereits wie in deinem Fall mit exzessiver Pornografie, auch „Training“ schon in jungen Jahren aufgewachsen ist und dadurch irgendwie geprägt, gesteuert sein mag. Die im Zeitalter des Individualismus und Solipsismus niemanden anderen etwas angeht außer einen selber. Swingerclubs, Darkrooms, Bordelle – das gibt es schon sehr lange und sie scheinen eine Notwendigkeit zu sein. Ich bin meinem Selbstverständnis nach jedoch mehr als Körper und Lust und Genitale, wir sind auch Geist und Wille, Verantwortung und Zukunftsplanung und können uns in diese Richtung hin steuern.
Nun ist dein Fall, den du mir geschildert hast, etwas anders gelagert. Ich weiß auch keinen Weg. Es gibt die Empfehlungen der Religionen, der Psychotherapeuten, der Sexualtherapie. Und alle meinen es gut mit dir und ihren ach so bewährten Rezepten, was man in einem solchen Fall von Drang und Zwang tun soll. Ich weiß es tatsächlich nicht.
Bei mir war es jedenfalls immer so, dass ich, sobald ich wieder eine feste Partnerin gefunden hatte, auch den Straßensex, nennen wir es einmal so einschließlich “Selbstversorgung”, wie Henry James es ausgedrückt hat, ganz aufgegeben habe. Dass es einfach nicht mehr notwendig war, dass ich es nicht mehr gewollt, gebraucht habe. Dass mir diese unruhige und wenig beständige Lebensform auch nicht gepasst hat. Ich formuliere bewusst so, ich rede von einem “nicht passen”, fast schon wie ein Schicksal und nicht nur von einem “nicht wollen”. Das bedeutet: das Gegenteil ist ebenfalls möglich und immer wieder anzutreffen.
Und dass mich diese andere, nachhaltige, mehr dauerhafte Spur im Sozialen und bei einem liebend-fürsorglichen Du dann ebenso sehr und auch mehr noch beruhigen und befriedigen konnte wie manches andere oberflächlich Schnelle. Denn wie heißt es doch in einem meiner Lieder: Die Zärtlichkeit deiner Sprache, die Zärtlichkeit deiner Worte…
1 Ich gehe also, einem in der Öffentlichkeit immer wieder zu hörenden Vorurteil folgend, vielleicht vorschnell davon aus, dass invertierte, das heißt schwule Männer per se eher Lust und Sex suchen als eine feste und dauerhafte verantwortungsvolle Lebensbeziehung. Die auch das Zurücknehmen der eigenen Körperlichkeit und Begierden einschließt ebenso wie Treue und das Durchstehen von Beziehungs-Problemen.
Ich wähle ganz bewusst auch wieder diesen Begriff („invertiert“) von Freud. Er hat sich gegen Ende seines Lebens nicht gegen die Inversion, also praktizierte Homosexualität, ausgesprochen. Mit Bezug auf viele bedeutende Männer der Weltkultur, etwa Platon, Leonardo, Michelangelo, hat er sie akzeptiert, wenn der Mensch damit klar kam. Was durchaus nicht das Übliche damals war bis auf den heutigen Tag. Es gibt einen diesbezüglichen Brief Freuds an eine besorgte Mutter in London.
vgl.auch Nr.98 Über Befreiung III: Coming out